Ökologisches Schuldenmachen gegen Recht und Vernunft
Die Klimaziele bleiben weit entfernt, die Regierung verweigert die gesetzlich vorgesehene Kurskorrektur per Sofortprogramm. Es geht dabei um einen zentralen Mechanismus der Klimapolitik, es droht ein folgenreicher Rückfall hinter den Stand der politischen Selbsterkenntnis.
Die Gesetzeslage ist eindeutig: Weisen die Emissionsdaten »eine Überschreitung der zulässigen Jahresemissionsmenge für einen Sektor in einem Berichtsjahr aus«, heißt es in Paragraf 8 des Klimaschutzgesetzes des Bundes, hat das »zuständige Bundesministerium der Bundesregierung innerhalb von drei Monaten nach der Vorlage der Bewertung der Emissionsdaten durch den Expertenrat für Klimafragen« ein Sofortprogramm für den jeweiligen Sektor vorzulegen - mit dem »die Einhaltung der Jahresemissionsmengen des Sektors für die folgenden Jahre sicherstellt« wird.
Seine Bewertung hat der Expertenrat für Klimafragen am Montag vorgelegt, das ist Ergebnis ist nicht überraschend, wohl aber besorgniserregend. Zielverfehlung im Gebäudesektor, die ohne Energiepreiskrise noch deutlicher ausgefallen wäre. Im Verkehrssektor sei »die notwendige Trendwende weiterhin nicht zu beobachten«. Die Zielunterschreitung im Industriesektor sei »im Wesentlichen auf energiepreisbedingte Produktionsrückgänge« zurückzuführen. Außerdem sieht der Expertenrat inzwischen, dass für »letztes Jahr mit dem Wissen von heute und den aktualisierten Daten« eigentlich »ein Sofortprogramm auch für den Sektor Industrie notwendig gewesen« wäre. »Der Rückbau des fossilen Kapitalstocks und der Aufbau von nicht-fossilen Alternativen« lief 2022 »deutlich langsamer als in den Zielen der Bundesregierung oder den Klimaneutralitätsszenarien anvisiert«.
Zusammengefasst: Es zeige sich, »dass es bei allen Sektoren knapp wird mit der Zielerreichung«, heißt es aus dem Expertenrat; bleibt es bei der nun bezifferten Minderungsrate bis 2030, würde das Klimaziel für diesen Zeitpunkt »um mehr als 40 Prozent« verfehlt. Ziele? Es geht hier um mehr als um politische Versprechen irgendwelcher Art, die ja oft nicht eingehalten werden. Es geht um gesetzlich verankerte Marken, die mit international verbindlichen Vereinbarungen verknüpft sind. Mehr noch: Die Physik des Planeten lässt nicht mit sich diskutieren; werden Klimaziele verfehlt, hat das globale Konsequenzen mit hoher Radikalisierungspotenz sowohl in ökologischer wie auch sozialer und ökonomischer Hinsicht.
Die gesetzlich verlangten Sofortprogramme haben also eine andere Bedeutungsqualität als das, was von der Politik sonst gern in werberischer Absicht als »Sofortprogramm« für dies und das betitelt wird; es geht hier um eine auch vom Zeitfaktor der biophysikalischen Existenzkrise erzwungene absolute Notwendigkeit. Werden die Emissionskurven nicht mit sofortigen Maßnahmen korrigiert, wird es später immer schwerer, die Pfad doch noch in Richtung Klimaziele zu biegen. Und, um im Bild zu bleiben, sind diese Maßnahmen dann auch immer mehr mit »brechen« verbunden: Je später ein klimapolitisch zwingend erforderlicher Schritt erfolgt, desto drastischer fallen seine sozialen, ökonomischen, kulturellen Implikationen aus.
Niemand bestreitet die Schwierigkeit, die notwendigen Schritte zu gehen, demokratisch Entscheidungen auszuhandeln, sie sozial auszugestalten, »die Menschen mitzunehmen« und so weiter. Aber diese Schwierigkeiten, und das zeigt ja gerade das Beispiel des Umgangs mit dem Klimaschutzgesetz, werden immer größer, je mehr man unter Verweis auf diese Schwierigkeiten mit wirksamen Schritten wartet. Man kann das politisch »erklären«, allerdings sind auch diese Erklärungen Maßstäbe von gestern: Was bringt es, Macht in politischen Bündnissen durch Zugeständnisse oder Kompromisse zu sichern, wenn diese in immer unsichere Umstände führen, in denen dann diese Macht gegen Physik immer machtloser wird? Von der Glaubwürdigkeit mancher Akteure ganz abgesehen, die nun plötzlich Hausbesitzer und Beschäftigte mit geringen Einkommen als schutzwürdig entdecken, jene Klassensegmente also, gegen deren Interessen sie jahrelang und zum Nutzen anderer zu Felde zogen.
Obwohl also die Gesetzeslage eindeutig ist, (ebenso wie die Erkenntnislage, es drängen also Recht und Vernunft darauf), verweigert die Bundesregierung die nach Paragraf 8 Klimaschutzgesetz vorzulegenden Sofortprogramme für die Sektoren, die ihre Emissionsziele verfehlt haben. »Wir haben eine andere Beschlusslage«, sagt der Vize-Regierungssprecher, der die Rechtslage kennt, aber davon ausgeht, dass innerhalb der gesetzlichen Frist das Klimaschutzgesetz so verändert wird, dass es dann die jährlich verpflichtenden Sektorziele und das rückwirkende Nachbessern per Sofortprogramm nicht mehr gibt. Darauf hatte sich der jüngste Koalitionsausschuss verständigt.
Die Empörung unter Expertinnen, Klimabewegten und Grünen darüber war und ist anhaltend, aber offenbar zu gering, um die geplante Schwächung des klimapolitischen erreichten Regelungsstandes zum Generalthema zu machen. Stattdessen wird viel über ein Abzeichen für Frau Merkel diskutiert. Zwischen dem einen und dem anderen besteht eine Verbindung, die aber nur selten thematisiert wird, weil die frühere Kanzlerin vor allem zur Projektionsfläche anderer Diskussionen geworden ist.
Aber auch auf ihre Amtszeit trifft zu: Unterlassene klimapolitische Schritte der Vergangenheit erschweren klimapolitische Schritte in der Gegenwart, da diese immer größer ausfallen müssen, was dazu führt, sie abermals in die Zukunft zu verschieben. Wir haben es hier mit einer Form der Produktion gesellschaftlicher Schulden zu tun, bei der das Argument, die kommenden Generationen müssten sie tragen, einmal wirklich trifft. Was man Volker Wissing und Klara Geywitz heute »erlässt«, ist nicht weg, sondern kommt in der Zukunft auf Wiedervorlage, dann allerdings teurer.
Auf diesen Zusammenhang zielen im Kern das Klimaurteil aus Karlsruhe und das Klimaschutzgesetz. Budgetansatz, genaue und zeitlich klare Emissionsziele, Sektorverantwortung. Die Verpflichtung zu Sofortprogrammen ist die eingebaute Sicherung, sozusagen die ökologische und damit sinnvolle »Schuldenbremse«. Über beides setzt sich die Bundesregierung hinweg.
Ob sich die Grünen, die nun mit einer Blockade des Reformvorhabens im Bundestag, also bei der Umsetzung der Vereinbarungen des Koalitionsausschusses in geltendes Recht, »drohen«, wie es in den Medien heißt, mit ihrer Sicht durchsetzen können, ist keine bloß parteipolitische Angelegenheit nach dem Motto: Wer ist stärker? Es ist auch keine Drohung, zu sagen, das darf nicht passieren, da wollen wir nochmal ran, selbst wenn zuvor anderes politisch beschlossen wurde.
Es geht hier um mehr als beim Streit um künftige Wärme oder Antriebsarten. Es geht um nicht weniger als einen zentralen Mechanismus der bundesrepublikanischen Klimapolitik, einen in jahrelangem Ringen erreichten Stand auch der politischen Selbsterkenntnis einer Gesellschaft, hinter den jetzt zurückzufallen, ein schwerwiegender Fehler wäre, auch wenn sich das erst künftig in Emissionsdaten erweist und in dann schon aufgezehrter Freiheit zeigt.
Es geht um das grundsätzliche politische Herangehen an etwas, das nach physikalischen Regeln verläuft. Den Versuch, zwei nicht kompatible Grammatiken zu verbinden. In der Idee von Sektorziel und Sofortprogramm hatte sich ja gerade die Erfahrung niedergeschlagen, dass wir realistischerweise mit gesellschaftlichen Kräften der Verzögerung rechnen müssen, wo es aus physikalischen Gründen keine geben darf, weshalb man dagegen Sicherungen einbauen muss, weil die Physik sich für die Schwierigkeiten der Kompromissbildung, für anders gelagerte ökonomische Interessen, für die Neigung zur individuellen und kollektiven Verdrängung, für politische Unzulänglichkeit und das politische Zeitregime von Demokratien nicht interessiert. Das steht auf dem Spiel. (tos)