Klimanotizen 9

Neue Studien belegen abermals »alarmierende Veränderungen« - aber alarmieren diese Erkenntnisse noch, setzen sie angemessene Reaktion in Gang? Sind Begriffe wie »Krise« oder »Katastrophe« passend und nützlich? Geht es bei Klimaschutz nur um Menschenschutz? Und was können Cli-Fi-Thriller verändern?

#1 Wieder einmal spricht ein Experte von »alarmierenden Veränderungen«: Die Durchschnittstemperaturen in Europa haben vergangenes Jahr neue Höchstwerte erreicht, meldet der europäischen Klimabeobachtungsdienst Copernicus in seinem jüngsten Jahresbericht. Die Temperaturen lagen auf dem Kontinent 1,4 Grad über dem Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2020 - das zweitwärmste Jahr in Europa, das jemals registriert wurde, und der heißeste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Rekorde auch bei Sonneneinstrahlung, Gletscherschwund in den Alpen, Zahl der Tage mit extremer Hitze in Südeuropa. Hitzewellen und Trockenheit fördern Waldbrände, diese setzten 2022 so viel CO2 frei wie seit 15 Jahren nicht; hinzu treten Auswirkungen unter anderem auf den Agrarsektor, die Flussschiffahrt, die Energiewirtschaft, die Gesundheit, wird hier gemeldet. Drastische Änderungen belegt der Copernicus-Bericht auch für die Region um den Nordpol; die Arktis erwärmt sich schneller als der übrige Planet; Hitzewellen in Grönland führten zu einem beispiellosen Abschmelzen des Eisschildes. Nach dem Durchschnitt der letzten fünf Jahre ist das Klima in Europa inzwischen etwa 2,2 Grad wärmer als in der vorindustriellen Zeit von 1850-1900.

#2 Alarmierende Veränderungen sind das ohne Zweifel; aber wen schrecken sie  auf, von wem werden sie als Warnung verstanden, bei wem setzen sie angemessene Reaktion in Gang? Laut der Firma Right, die Modellrechnungen vorgestellt hat, sind alle EU-Staaten noch weit entfernt von dem im Pariser Klimaabkommen formulierten Ziel, die Erderwärmung bei 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. In die Berechnungen fließen lediglich angekündigte Vorhaben nicht mit ein, sichtbar wird sozusagen der prognostizierte Netto-Ertrag der schon in Umsetzung begriffenen Maßnahmen. »Kroatien und Zypern schneiden laut der Berechnung unter den EU-Ländern am besten ab«, heißt es in Meldungen zu den Right-Modellen. »Würde die ganze Welt so wirtschaften wie die beiden Staaten, läge die Erderwärmung bis 2100 demnach bei 3,1 Grad. Deutschland ist dem Modell nach auf 4,4-Grad-Kurs. Erst vor einem Monat hatte der Weltklimarat IPCC in seinem jüngsten Bericht gemahnt, »das Tempo und der Umfang der bisherigen Maßnahmen sowie die derzeitigen Pläne sind unzureichend, um den Klimawandel zu bekämpfen«. UN-Generalsekretär António Guterres hatte angesichts dessen erklärt: »Die Klima-Zeitbombe tickt.« Alarmierend. Oder?

#3 Der Philosoph Konrad Paul Liessmann würde hier mindestens einen semantischen Einwand aufrufen: Sprachliche Zuspitzungen wie Zeitbombe oder  Klimakatastrophe würden »in die Irre« führen, »weil sie dem Charakter der Entwicklungen, mit denen wir es zu tun haben, nicht gerecht werden«. Dabei will Liessmann gar nicht in Abrede stellen, dass sich schlechten Nachrichten und  Negativrekorde häufen. Dennoch hält er Begriffe wie »Krise« oder »Katastrophe« für unpassend, beide könnten den Charakter und die Dimension der ablaufenden Veränderungen nicht angemessen erfassen, was Fehldeutungen und ausweichendes Verhalten fördere. Während »Krise« eher »die kurzfristige Störung« meine und in sich das Versprechen trage, »einige staatliche Interventionen, Umstrukturierungen oder therapeutische Hilfen« würden schon reichen, um das Ganze »rasch wieder ins Gleichgewicht« zu bringen; sei »Katastrophe« für »Unglücksfälle mit verheerenden Folgen, die allerdings Menschen punktuell und nur für einen begrenzten Zeitraum treffen« gebräuchlich, auch das führe in die Irre (und laut Liessmann zudem in die Gefahr, sich »entweder resignativ zu verhalten« oder zur Abwehr der Katastrophe auch »undemokratische und gewaltsame« Mittel für erlaubt zu halten). Die Alternative? »Der vermeintlich schwache und beschönigende Begriff des Klimawandels erweist sich bei genauerer Betrachtung als der realistische und damit eigentlich starke Terminus. Im Begriff des Wandels steckt eine Unerbittlichkeit, die ziemlich präzise beschreibt, was in Klimafragen auf uns zukommt«, so Liessmann. Die Diskussion über Begriffe, die nicht beschönigen, und Worte, mit denen Klimakommunikation erfolgreich sein kann, ist schon älter und kennt Argumente gegen jene von Liessmann. Von dem kommt noch der Hinweis, dass das, was wir unter »Klimaschutz« fassen, tatsächlich »Menschenschutz« ist, weil damit Anstrengungen gemeint sind, mit denen »die Fortsetzung menschlichen Lebens auf dieser Erde« ermöglicht werden soll.

#4 Mal von den Begriffen abgesehen: Geht es beim Klimaschutz wirklich nur um Menschenschutz? Anderswo ist betont worden, dass es möglich sei, das Planetare zur Beachtung bringen, »ohne das Menschliche zu verdecken«. Es sei »letztlich am Menschen zu entscheiden, wie er die von ihm beeinflussbaren Begegnungen zwischen Menschen und Planeten, von denen er ein Teil ist, gestalten will«. In anderen Worten: Es geht auch und zuvörderst beim »Klimaschutz« um Menschenschutz, wobei aber ein anderes Verhältnis zum Planeten nötig sein wird - eines, das den Menschenschutz mit dem Bedürfnissen des Planeten in Einklang bringt und diesen nicht bloß als Sache ansieht, die »zu beherrschen« ist. Apropos Planet-Mensch-Beziehungen: Forscherinnen und Forscher der Tsinghua Universität in Peking haben laut einer Studie erstmals entdeckt, dass sich Plastikmüll chemisch mit natürlichen Flusssteinen verbunden hat. »Die Kunststoffe banden demnach mit enthaltenen Kohlestoffatomen über Sauerstoff an die Silikate des Felsens«, heißt es in einem Bericht dazu. »Die Plastikfelsen könnten damit zu einem dauerhaften Umweltproblem werden, da sie kleine Mengen an Mikroplastik konstant in die Natur verlieren und der Müll dort Tiere und Pflanzen vergiften kann.«

#5 Auch das ist alarmierend, gar keine Frage. Aber welche Wirkung hat zum Beispiel die Pekinger Studie in einem Fachblatt - und welche nicht? Gerhard Matzig ist dem anhand von Marc Elsbergs neuem Roman »Celsius« nachgegangen: Dieser »mag der Komplexität der Klimafolgenforschung nicht ganz gerecht werden, aber was man auf Anhieb kapiert«, sei »der Thrill«. Visualisierungen würden »immer besser als dürre Worte« funktionieren, »Emotionen und spannende Geschichten besser als bloße rationale Erklärungen«. Matzig zitiert hier eine Figur aus »Celsius«, die damit »die Grundidee des Cli-Fi-Thrillers als literarisches Genre« formuliere. Dieses laufe »zum steigenden Grusel der Leserschaft, zum steigenden Umsatz der Verlagsbranche und natürlich zum steigenden Entzücken der Autorinnen« gut, aber ist da vielleicht noch mehr? »Wäre die Cli-Fi-Abteilung unter den Buchstapeln außerdem dazu in der Lage, dem Klimawandel etwas mehr als Suspense abzutrotzen?« Matzigs Antwort lautet ja, »naturwissenschaftlich-technische Erkenntnis und gesellschaftliche Verortung zum Beispiel. Ja sogar eine Art Volkspädagogik. Denn das ist der entscheidende Vorteil der Unterhaltungsliteratur: Sie erreicht nun mal mehr Menschen.«

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