Ohnmächtige Vereinigung

Inzwischen gefallen sich auch Sozialdemokraten darin, die »Letzte Generation« als »kriminelle Vereinigung« zu bezeichnen. Über die gefährlichen Folgen einer gewissenlosen Debatte, die vom schlechten Gewissen getrieben ist und den »starken Staat« als wahren Schwächling zeigt.

»Die moral panic um die Aktionen der ›Letzten Generation‹ hat zumindest vorübergehend selbstverstärkende Tendenzen«, hat Nils C. Kumkar vor einem halben Jahr hellsichtig analysiert, »weil der Nachrichtenwert der Aktionen, der sich zu Beginn aus dem Neuigkeitswert der Aktionsformen speiste, zunehmend aus der politischen Verurteilung der Proteste bezogen wird, was dann wiederum auf eine vermeintliche Radikalisierung(sgefahr) der Proteste zurückgerechnet wird.«

Zu der Zeit begannen Politiker, von der »Letzten Generation« als einer möglichen »Klima-RAF« zu sprechen. Der Propagandaforscher Dietmar Till interessierte sich seinerzeit für die Frage: »Wer bringt den Begriff in Umlauf und warum? Das waren vor allem konservative Politiker von CDU und CSU.« Es gehe diesen »darum, hart durchzugreifen und die Artikulation von Protest zu verhindern. Dafür braucht man eine Begründung«.

Kumkar und Till beschreiben hier zwei Aspekte des Spiraleffekts, der unter anderem in Kenneth Thompsons Theorie eine Grundfunktion der moral panic beschreibt: Das Verhalten einer Gruppe wird von Teilen der Gesellschaft als Bedrohung gesehen; die dies aufgreifende mediale Rezeption verstärkt Breite und Intensität der Bedrohungsgefühle, worauf wiederum Politik und Medien mit dem immer lauteren Ruf nach Kontrolle, Eindämmung, Verbot des als bedrohlich angesehenen Verhaltens der Gruppe reagieren und so immer fortan.

Interessant ist hierbei die Frage, was die wahrgenommene Bedrohung ausmacht. Selbst wenn man eine Vielzahl der Aktionen der »Letzten Generation« veranschlagt, dürfte nur ein verschwind geringer Teil der Autofahrerinnen und Autofahrer hierzulande von den Blockaden praktisch betroffen gewesen sein. Dass es sich um tatsächlich folgenreiche Störungen des gesellschaftlichen Betriebsablaufs handelt, wird man auch kaum sagen können. Und Behauptungen über schwerwiegende unmittelbare Folgen einzelner Aktionen stellten sich hinterher bisher regelmäßig als falsch heraus. (Abgesehen davon: Gegen die noch friedlicher in ihrem Protest vorgehenden Fridays for Future gab es ähnliche Vorwürfe schon Ende 2021, diese seien verfassungsfeindlich, hieß es damals.)

Die »Bedrohung« liegt also auf anderen Ebenen: in der Produktion schlechten Gewissens. Die Aktionen wirken medial verstärkt als Störungen der »Verdrängungsgesellschaft«. Der Wunsch nach einer möglichst ungebrochenen Fortsetzung eingeübter und gewohnter Lebens-, Konsum- und Produktionsweisen gerät in Konflikt mit dem rationalen Wissen darüber, dass dies nicht möglich ist und die nötigen Veränderungen weitreichend sein werden. Hiermit wiederum hat das schlechte Gewissen der Politik zu tun, das vor dem möglichen Unmut der Bevölkerung über diese Veränderungen zurückschreckt, sich zugleich aber Ziele gesetzt hat, die nur mit weitreichenden Maßnahmen erreichbar sind.

Für beide bietet sich Erleichterung durch Verdrängung an. An der politisch-medialen Oberfläche tarnt sich das Ausagieren dieses inneren Konflikts als Diskussion um Überwachen und Strafen. Es mögen weitere unbillige Motive und schlechte Gewohnheiten hinzutreten: die generelle Neigung, auf gesellschaftliche Widersprüche mit Verboten zu reagieren (in der Regel seitens jener, die anderen gern »Verbotspolitik« vorwerfen); die Funktionsweise von Öffentlichkeit, die parteipolitisch motivierte Überbietungen fördert; der gegen jede Erfahrung immer wieder unternommene Versuch, per politischer Mimikri mit Rechtsradikalen um Zustimmung zu konkurrieren.

All dies zählt auf die selbstverstärkenden Tendenzen ein, von denen Kumkar spricht. Erkennbar wird dies nicht zuletzt an der »Normalisierungsverschiebung«: Waren es anfangs Politiker, die ihren Aufstieg ohnehin auf Affektproduktion gründen, wie Alexander Dobrindt (CSU), oder notorische parteipolitische Rechtsaußen wie Christoph Ploß (CDU), die mit gleichlautenden Verfolgungsforderungen der radikalen Rechten konkurrierten, ist nun der Vorwurf, die Letzte Generation sei eine »kriminelle Vereinigung« auch in der Sozialdemokratie angekommen.

Dietmar Woidke, von dem sein Vorgänger Matthias Platzeck einmal behauptete, er sei »ein Mann, der erst denkt und dann redet«, hat die Einstufung der »Letzten Generation« als »kriminelle Vereinigung« durch das Landgericht Potsdam jetzt begrüßt. Man könne »der Argumentation des Gerichts durchaus folgen«, so der SPD-Ministerpräsident des Braunkohlelandes Brandenburg im Zentralorgan der Verteidigung des Falschen, in der »Bild«.

Woidkes Begründung: »Es gibt eine Organisation, die dahintersteht. Und es gibt eine Verabredung zu Straftaten. Deswegen würde ich dafür plädieren, dass wir auf diese Weise dafür sorgen, dass Recht und Gesetz nicht mit Füßen getreten werden.« Die Berufung auf Recht und Gesetz soll der Behauptung den Anschein verschaffen, alternativlos zu sein, was dadurch befördert wird, dass der Sozialdemokrat nicht darauf angesprochen wird, was er zu den in der Fachwelt auch kursierenden anderen Meinungen sagt.

So wird ihm die Kriminalisierung zu einem leicht zu führenden Schwert gemacht, und es zu schwingen ist wohl umso attraktiver, wenn der im Alltagsbewusstsein weit über seine juristischen Dimension hinaus wirkende Begriff »kriminell« sogar noch im Vorwurf sprachlich direkt enthalten ist. Wie gesagt: selbstverstärkende Tendenzen. Dem Vorwurf, eine »kriminelle Vereinigung« zu sein, wird die »Letze Generation« kaum mehr entkommen können; ganz egal, was Gerichte sagen werden. So ein Label lässt sich nicht mehr abkratzen, es verfolgt einen auf immer, und das ist vermutlich auch, was die Woidkes und Dobrindts und ihre Radikalisierungsverstärker in den Asozialen Netzwerken wollen.

In diesem Lichte muss man auch die Aussage des Berliner Oberstaatsanwaltes Sebastian Büchner lesen, der zu den Vorwürfen der »Kriminellen Vereinigung«, die seine Behörde derzeit nicht teilt, sagt: diese seien »etwas, was natürlich auch angesichts der öffentlichen Debatte einer permanenten Neubewertung unterliegt«. Die öffentliche Debatte beeinflusst die Bewertung aber nur in Richtung der selbstverstärkenden Tendenzen, und das sogar gegenläufig zum tatsächlichen Aktionsverhalten der »Letzten Generation« und Einschätzungen in der Fachwelt.

Dazu muss man kurz zurückblicken: Die neueste Umdrehung der Debatte - siehe als Beispiel Woidke - hat eine Entscheidung des Landgerichts Potsdam zum Anlass, welches eine Beschwerde gegen die Einstufung der »Letzten Generation« als »kriminelle Vereinigung« abgelehnt hat, auf deren Grundlage die Staatsanwaltschaft Neuruppin unter anderem nach einer Blockadeaktion in Schwedt ermittelt. Dabei hatten die Aktivistinnen und Aktivisten im Frühjahr 2022 angeblich versucht, Notventile von Raffinerie-Pipelines in Brandenburg abzudrehen. In einem von einem Proberichter unterzeichneten Durchsuchungsbeschluss gegen Teile der »Letzten Generation« war außerdem von den umstrittenen »Angriffen auf Kunstobjekte« die Rede.

Inzwischen hat die Klimabewegung ihre Aktionsformen aber eher entschärft als verschärft. »Im Frühling haben wir Protestaktionen an Pipelines gemacht - es hat kaum jemanden interessiert«, wurde schon Ende vergangenen Jahres eine Sprecherin der »Letzten Generation« zitiert. Zwar scheint die Schlagzahl der Blockaden von Straßen nicht abgenommen zu haben, aber es gibt eine bewegungsinterne Debatte über das Vorgehen, auch gibt es neue Aktionsformen wie die Zeitlupenmärsche. Schon im Dezember 2022 fragte ein namentlich nicht genannter »hochrangiger Staatsanwalt«, wie dies zusammenpasse »mit dem frischen Vorwurf aus Neuruppin, hier bestehe eine andauernde ›erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit‹?«

Das Problem ist, dass den selbstverstärkenden Tendenzen, die zur »Radikalisierung der Radikalisierungsbehauptung« führen (Kumkar), mit dem Hinweis auf kritische und alternative Ansichten aus der Wissenschaft kaum beizukommen ist. Es ist ja nicht so, dass man lange im Internet danach suchen müsste; es ist auch nicht so, dass »die Medien« sich für diese Debatten und für Zurückhaltung einfordernde Positionen nicht interessieren würden.

Es springt nur nicht über auf des gesamten Diskurs. Es wird, wenn sich ein Woidke den Vorwurf zu eigen macht, auch nicht von Nachrichtenagenturen ausreichend kontextualisiert. In den netzbasierten Echokammern dominieren ohnehin andere Wirkungsmechanismen als die des wissensbasierten, rationalen und umsichtigen Diskutierens.

Es ist auch keineswegs so, dass sich die Welt der Medien entlang irgendwelcher Frontlinien schon in Gänze geteilt hat. Sicher, wer in Cicero veröffentlicht oder Gastbeiträge in der Weltwoche unterbringt, der tut dies nicht, weil er dort ein vielfältiges Publikum zu erreichen trachtet, sondern weil er in Richtungsblättern publizieren will, und es gibt hier keine Frage, in welche Richtung diese Medien tendieren.

Aber selbst in Zeitungen, die oft so »aktivistisch« sind, dass sie den Balken im eigenen Auge gar nicht mehr bemerken, wird Positionen Platz eingeräumt, die einen Woidke, sofern stimmen würde, dass er »erst denkt und dann redet«, zu anderen Einsichten in Bezug auf die »Letzte Generation« motivieren könnte.

Unlängst hat Christoph Möllers, fraglos einer der angesehensten Rechtsgelehrten, ins Feld geführt, man müsse die Aktionen der »Letzten Generation« zwar nicht unbedingt als gute Strategie ansehen, »aber auf Protest im öffentlichen Raum mit Strafrecht zu reagieren, ist auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Insofern zögere ich, zu sagen: Das sind Rechtsbrecher, die sich aufs Recht berufen.« Auch sei es verfassungsrechtlich »nicht so trivial«, die Aktionen  »als Straftat abzuhandeln. Das Bundesverfassungsgericht konnte sich in zwei älteren Entscheidungen nicht darüber einigen, ob Blockierer bestraft werden dürfen oder nicht.« Selbst »wenn man das bejaht, bleibt es doch ein Grenzfall, den man als solchen auch politisch zur Kenntnis nehmen sollte. Jedenfalls fällt auf, dass es viele schwerere Rechtsbrüche gibt, zu denen die Politik nichts sagt.«

Das mag man als Seitenhieb auf Äußerungen wie jene des neuen Regierenden Bürgermeisters von Berlin verstehen, der mit Blick auf Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die in einem Wald gegen den Bau einer Straße protestierten und von großem Polizeiaufgebot geräumt wurden, dieser Tage ohne jeden Selbstzweifel erklärte, in der Hauptstadt »gelten Gesetze und Regeln, an die sich alle halten müssen«. Was natürlich ein schlechter Witz ist, schaut man sich die Bilanz der Rechtsdurchsetzung etwa gegen Falschparker oder Raser in Berlin an.

Man kann Möllers’ Verweis auf »viele schwerere Rechtsbrüche« aber auch direkt am Beispiel Klimakrise weiterdenken. Ist es nicht so, dass die Politik zu wenig unternimmt, selbst gesteckte oder mitgetragene Zielvereinbarungen zu erreichen. Dass sie diese vielmehr sehenden Auges durch Unterlassen torpediert? Auch hier lassen sich sogar gerichtliche Entscheidungen anführen, die aber - siehe oben - in der öffentlichen Debatte eine viel geringere Rolle spielen als jeder noch so weit herbeigeholte Kriminalisierungsvorwurf gegen die »Letzte Generation«.

Amtsgerichte in Freiburg und Berlin haben, wie im April auch table.media berichtete, angeklagte Klimabewegte nach Aktionen freigesprochen, weil diese nicht verwerflich, sondern im Sinne der Allgemeinheit gehandelt hätten. »Zudem seien viele blockierte Autofahrer keine Unbeteiligten, weil sie durch ihren Benzin- oder Diesel-Verbrauch zur Klimaerwärmung beitrügen.«

Das Amtsgericht Flensburg sah einen Baumbesetzer sogar in einem »rechtfertigenden Notstand« handeln - die Klimakrise »erfordere ein sofortiges Eingreifen. Der Staat aber handle nicht ausreichend«. (Ähnlich dazu auch der Umweltrechtler Gerd Winter.) Das würden, heißt es ergänzend, »viele andere Gerichte und Experten« als Argumentation ablehnen.

Was freilich auch für die Einstufung der »Letzten Generation« als »kriminelle Vereinigung« gilt, die trotzdem auf vielen Kanälen verbreitet wird - und siehe den Spiraleffekt - entsprechende Wirkungen hat. Weitaus stärkere Wirkungen jedenfalls als etwa Erklärungen des Republikanische Anwältinnen- und Anwältevereins, der schon frühzeitig kritisch intervenierte und unter anderem auf die Unverhältnismäßigkeit und die mit einer Einstufung als »kriminelle Vereinigung« einhergehenden Möglichkeit zu weitreichenden Ermittlungsmaßnahmen hinwies, »die mit schweren Grundrechtseingriffen verbunden sind«.

Auch drohten »die Diskussionen über strafrechtliche Ermittlungsmaßnahmen von der eigentlichen Problematik abzulenken«. Die »Letzte Generation« wähle »drastische Mittel, um auf das bis heute andauernde, drastische Versagen der Klimaschutzpolitik hinzuweisen.« Von wegen schlechtes Gewissen.

Ebenso haben andere Rechtskundige schon Ende 2022 ausführlich oder reichenweitenstark darauf hingewiesen, dass die Drohung mit der Verfolgung als »kriminelle Vereinigung« weder »eine angemessene Antwort noch in der Sache berechtigt« ist.

Die Vorsitzende des Ausschusses Gefahren­ab­wehrrecht im Deutschen Anwaltverein, Lea Voigt, hat erklärt, der einschlägige »Paragraf 129 des Strafge­setzbuchs setzt voraus, dass es Zweck der Vereinigung ist, Straftaten zu begehen. Wir haben es bei der ›Letzten Generation‹ aber mit einer Bewegung zu tun, die sich auf verschiedenen Ebenen dafür einsetzt, die Klimakrise ernster zu nehmen, teils mit Mitteln des zivilen Ungehorsams, die im Einzelfall auch Straftat­be­stände erfüllen können. Zu behaupten, dass der Hauptzweck das Begehen von Straftaten ist, halte ich für völlig abwegig.«

Milan Kuhli und Judith Papenfuß haben sich in der »Kriminalpolitischen Zeitschrift« ausführlich mit dem Vorwurf befasst und sehen »gegenwärtig keine Strafbarkeit nach Paragraf 129 StGB«. Und das sind nur einige Beispiele.

Dietmar Woidke hätte die Möglichkeit offen gestanden, darauf zu verweisen, dass unabhängige Gerichte die in den Raum gestellte Frage beantworten werden, oder zumindest auf die unterschiedlichen Meinungen abstellen können, die der Kriminalisierungsvorwurf gegen die »Letzte Generation« auslöst.

Dass er dies nicht getan hat, ist eine bewusste Entscheidung. Mag der Sozialdemokrat dafür auch andere Motive haben, die Folgen seines Redens muss er sich zurechnen lassen: die Verstärkung ohnehin schon »selbstverstärkender Tendenzen« einer Debatte, in der die Gefahr nicht vorrangig von der Klimabewegung ausgeht, sondern von denen, die in ihrer moral panic inzwischen selbst vermehrt zu Gewalt gegen Protestierende greifen.

Die Kriminologin Katrin Höffler hat schon vor Monaten vor diesen Konsequenzen gewarnt. Titulierungen wie die damals in rechtskonservativen Kreisen populäre »Klima-RAF« und die nun verbreitete Behauptung, es handele sich um »Kriminelle« seien »keine bloßen Polemiken, sondern gefährliche Zuschreibungen, die zu einer Vertiefung der empfundenen Exklusion, zu einer weiteren Entfremdung führen können – und zeitgleich tief blicken lassen auf Hysterie und Straflust in einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung.«

Das ist nicht nur vor dem Hintergrund der Tatsache relevant, dass der Klimabewegung gern vorgehalten wird, ihre Aktionen seien unbeliebt und würden der an sich guten Sache schaden.

Es verweist auch auf eine Bereitschaft zur Gewissenlosigkeit, und das in einem Sachzusammenhang, in dem Politik jene zu Schuldigen erklärt, deren Aktionen das schlechte Gewissen derer nähren, die ihrerseits nicht fähig sind, eine existenzielle Herausforderung angemessen anzugehen. »Der anlässlich eines dringlichen Ziels (Klimawandel anhalten) strafende Staat«, so formuliert es Höffler freundlich, »schafft kein Vertrauen in die eigene Stärke, die Klimakrise zu meistern, sondern wirkt seinerseits ohnmächtig.« (tos)

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