Homo geosapiens statt Wirtschaftswunder

Für eine Zukunft, die mit den planetaren Grenzen vereinbar ist, wird es nötig sein, das Verständnis von Wohlstand und Lebensqualität von ökonomischem Wachstum zu entkoppeln - gegen die Parolen einer parteiübergreifenden Fraktion der Verteidigung des »Rechts auf Wirtschaftswachstum«.

Nein, findet die »Frankfurter Allgemeine«, dass »durch die grüne Transformation der Wirtschaft, also den Umbau von Fabriken und Produkten hin zur Klimaneutralität«, Wachstumsraten »wie zu Zeiten des Wirtschaftswunders möglich« seien, das sei nach Lage der Dinge in wichtigen Branchen bloß eine falsche Hoffnung, die nicht zuletzt der Bundeskanzler vertrete. Durch den Umbau würden »keine zusätzlichen Produktionskapazitäten in Deutschland geschaffen, es werde bestenfalls ein alter Kapitalstock ersetzt«, und weiter: »Der Wohlstand steigt dadurch nicht.« Schlagzeile: »Die Mär vom Wirtschaftswunder«.

Was diesen Text zu einem beispielhaften macht, sind nicht die Zitate der Expertinnen, nicht die Prognosen über künftige Umsätze, Arbeitskräfte und Kapazitäten. Es ist die zugrundeliegende Perspektive, der gedankliche Bezugsrahmen, die Art, wie hier Vergangenheit als Zukunft verstanden wird: »Die Älteren erinnern sich: Die Industrie der Bundesrepublik boomte«, lautet der erste Satz.

Wenn also - und da spielt es keine Rolle ob es der von der FAZ indirekt kritisierte Kanzler tut oder die Zeitung selbst - von einem »Wirtschaftswunder« die Rede ist, dann sind vor allem hohe Wachstumsraten gemeint. Also der in Preisen ausgedrückte Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen nach Abzug aller Vorleistungen in einer bestimmten Periode im Vergleich zu einer anderen Periode. Hierin liegt, und das ist eine inzwischen ziemlich alte Erkenntnis, die eigentliche »Mär vom Wirtschaftswunder« - dass nämlich Wohlstand allein durch BIP-Wachstum entsteht.

Das weiß auch die genannte Zeitung. Ein paar Seiten weiter in derselben Ausgabe geht es um »Wohlbefinden als neues Wachstumsmaß«. Dass dabei insinuiert wird, die EU-Kommission interessiere sich für neue Definitionen von Wohlstand und für andere Indikatoren für »wirtschaftliches Wohlbefinden« bloß, weil die »Wachstumsaussichten für die EU sind in diesem und im kommenden Jahr eher mager« ausfallen - geschenkt. Entscheidend ist, dass in Brüssel eine Denkentwicklung Niederschlag findet, die auch Daten jenseits des klassischen Bruttoinlandsprodukts als Maßstab für Wirtschaftsmessung und für Diskussionen darüber anerkennt, was gesellschaftlich nützlich ist und wie Wohlstand anders gedacht sein kann.

EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni hat bei der Vorlage der traditionellen Frühjahrsprognose Anfang der Woche nicht zufällig auf US-Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz verwiesen; der gehörte einst der von Frankreichs konservativem Präsidenten Nicolas Sarkozy eingesetzten Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress an, die nur ein recht bekanntes Beispiel für die Debatten um alternative Wohlstandsindikatoren ist.

Dass sich EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Montag auf der Beyond Growth 2023 Conference blicken ließ und dort sagte, Wirtschaftswachstum sei »kein Ziel für sich«, wird man auch nicht für gänzlich selbstverständlich halten dürfen. So kritikwürdig ihr Versuch sein mag, die »Soziale Marktwirtschaft« im Nachhinein zu etwas umzudeuten, dass immer schon Rücksicht »auf unsere menschliche Zerbrechlichkeit« genommen habe, so richtig bleibt es, neue Wachstumsmodelle und Wohlstandsbegriffe stärker als bisher zum Gegenstand öffentlicher Debatten zu machen.

Eines der Argumente dafür haben gerade die Sozialwissenschaftlerinnen Jana Holz und Martin Fritz noch einmal in der »Tageszeitung« vorgetragen: »das größte Hindernis für den Wandel«, sei »die liberal-wachstumsoptimistische Mentalität«, die vor allem im konservativ-steigerungsorientierten Spektrum anzutreffen sei. In dieser Denkungsart sei »der Fortschrittsglaube so eng mit der Vorstellung verknüpft ist, dass Wirtschaftswachstum für unseren Wohlstand alternativlos ist«.

Wenn Holz und Fritz darauf hinweisen, dass dieses Milieu vorwiegend FDP und CDU wählt, sehr gegen Regulierungen und Umverteilung sei, und großes Vertrauen in den Markt habe, heißt das nicht, dass eine »wachstumsoptimistische Mentalität« nicht auch in anderen sozialen, kulturellen, politischen Gruppen eine Rolle spielt. In der öffentlichen Diskussion sind Anschauungen wie »hohes BIP-Wachstum gleich erfolgreiche Wirtschaft gleich gute Gesellschaft« allgegenwärtig.

Das wirkt, über verschiedene mediale und kognitive Transmissionen, dann auch milieuübergreifend. Und es ist nicht lediglich »Ideologie«, denn tatsächlich wurde und werden etwa soziale Integration und Investitionen ins Öffentliche aus der »produktivistischen Maschinerie« heraus finanziert, eine kulturell fest verankerte stetige Ausweitung von Konsummöglichkeiten, auch ist zudem die Erfahrung lebendig, dass wirtschaftliche Krisenzeiten, also Phasen des BIP-Rückgangs, stets mit der Androhung von Sozialkürzungen einhergingen. »Wenn es jetzt heißt, es soll wegen des Klimawandels kein Wachstum mehr geben«, so Holz und Fritz, dann fühlten sich auch untere Einkommensschichten »verunsichert und betrogen« - und werden »empfänglich für die Versuche des liberal-wachstumsoptimistischen Lagers, das Recht auf Wirtschaftswachstum zu verteidigen«.

»Weiterhin gilt jedoch das BIP oft als wichtigster Maßstab für wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand – trotz zahlreicher Schwachstellen«, beklagt auch ein aktuelles Papier der Bertelsmann-Stiftung zur Frage »Wachstum oder Schrumpfung in der sozial-ökologischen Transformation«. Das BIP berücksichtige eben nicht, »auf welche Art und Weise Wertschöpfung entsteht, welche Ressourcen beansprucht oder übernutzt werden, unter welchen Bedingungen Arbeitskräfte tätig sind, welche Teilhabechancen verschiedene gesellschaftliche Gruppen haben oder wie die materiellen Ressourcen innerhalb der Gesellschaft verteilt sind. All diese und noch viele weitere Faktoren sind aber entscheidend für den individuellen und gesamtgesellschaftlichen Wohlstand.«

Sara Holzmann, Thieß Petersen und Marcus Wortmann kommen in ihrer Studie unter anderem zu dem Schluss, dass nicht nur die »Entkopplung von Wirtschaftsleistung und Umweltbelastung« eine entscheidende Herausforderung wäre (über die Diskussionen zu relativer und absoluter Entkoppelung oder die Frage, ob Entkoppelung insgesamt überhaupt in dem erforderlichen Maße und der engen Zeiträume möglich ist, siehe unter anderem bei Miriam Rehm, Vera Huwe und Katharina Bohnenberger) - mitentscheidend sei, »ein Stück weit auch unser Verständnis von Wohlstand und Lebensqualität von ökonomischem Wachstum entkoppeln«.

Dabei können Fortschritte wie das Sonderkapitel im jüngsten Jahreswirtschaftsbericht zu »Nachhaltiges und inklusives Wachstum – Dimensionen der Wohlfahrt messbar machen« sicher beitragen. Nur: Wer hat davon überhaupt gehört, wie findet das in Alltagskommunikation statt, wer macht sich zum politischen Fürsprecher?

Das scheint eine offene Frage in Zeiten, in denen weite Teile der Politik für kurzfristige parteipolitische Wettbewerbserfolge notwendige Maßnahmen blockieren, schlechtreden und mit Angstparolen von angeblicher »Deindustrialisierung« zu einer Fraktion der Verteidigung des »Rechts auf Wirtschaftswachstum« verschmelzen, die von Teilen der Linken bis nach rechts reicht. Oder so formuliert: In Zeiten, in denen Verzicht und Suffizienz eher als »Untergang« gezeichnet werden als die Folgen eines Weiter-so, besteht in Sachen alternative Wohlstandsidee und neues menschliches Maß offenbar eine  parteipolitische Lücke.

Man könnte auch von nicht wahrgenommener Verantwortung sprechen. Wo zwar gesagt wird, man brauche »sinnvolle, effektive Maßnahmen für den Klimaschutz, aber nicht solche, die hauptsächlich die Bevölkerung belasten«, wird man - gewollt oder nicht - zum Fürsprecher einer Verleugnung des Notwendigen. Das ist nicht nur auf der Ebene gelingender  Klimakommunikation misslich.

Und es wird auch nicht durch den Hinweis besser, man müsse nur die Superreichen angemessen besteuern und deren Überkonsum ordnungspolitisch eindämmen - wogegen nichts zu sagen ist. Aber: In globaler Hinsicht, also in planetarer Perspektive, »gehören – kaufkraftbereinigt – selbst Menschen in Deutschland mit ALG-2-Bezug ungefähr zum obersten Einkommens-Sechstel im Weltmaßstab«, woran der Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik, Felix Ekardt, hier erinnert. Oder man führt sich vor Augen, dass »in der Bundesrepublik weniger als 1 Prozent der Bevölkerung derzeit einen 1,5-Grad-kompatiblen CO2 -Fußabdruck hat«, wie man es bei den schon zitierten Rehm, Huwe und Bohnenberger nachlesen kann. Das macht deutlich, wie umfassend neu gedacht werden müsste.

In einem lesenswerten, zweiteiligen Interview bei den »Klimareportern« hat gerade einer der Spitzenwissenschaftler Wolfgang Lucht über die Vorstellung gesprochen, »dass sich endlos weiteres materielles Wachstum irgendwie mit einem intakten Planeten vereinbaren lässt. Das ist eine Illusion.« Der Leiter der Abteilung Erd­system­analyse am Potsdam-Institut für Klima­folgen­forschung hält deshalb »Veränderungen in unserem Verhalten, in unseren Einstellungen, in unserem Zusammenleben, in unserem Selbstbild« für noch wichtiger als Fortschritte bei grüner Technologie. »Sonst wird es nichts mit einer nachhaltigen Zukunft.«

Lucht bringt die Herausforderung auf den Punkt: »Der Wandel hat auf jeden Fall sehr viel mit unseren Normen und Werten zu tun. Und im Kern geht es um die Frage, wer wir eigentlich sind und was wir mit unserer Freiheit anfangen. Freiheit bedeutet immer auch Verantwortung. Wir müssen uns als Teil des Planeten verstehen und bei allem, was wir tun, mitdenken, dass wir Teil eines komplexen ökologischen Systems Erde sind, das auf das reagiert, was wir tun. Leider befindet sich der wohlhabende Teil der Menschheit diesbezüglich noch in so etwas wie einer Trotzphase. Die müssen wir jetzt aber möglichst schnell hinter uns lassen. Wir sollten den Übergang vom Homo sapiens zum Homo geosapiens angehen.«

Mit dem Homo geosapiens wäre ein weiterer neuer Begriff im Zusammenhang mit der biophysikalischen Existenzkrise in der Welt. Vielleicht sind mehr davon nötig. Begriffe, sagt Bertolt Brecht in seinen »Flüchtlingsgesprächen«, »sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann.« In welche Richtung? Lucht beschreibt den Homo geosapiens als »klug genug, um die Auswirkungen seines Handelns auf das Erdsystem zu kennen, zu reflektieren und mitzuberücksichtigen. Der Homo geosapiens strebt nach einem Leben in Würde für alle Menschen und danach, die planetaren Belastungsgrenzen dabei nicht zu überschreiten und das Erdsystem nicht zu destabilisieren.« Für die Diskussion darüber, was ein neues »menschliches Maß« sein kann, das mit den planetaren Grenzen der neun biophysikalische Subsysteme vereinbar ist, wäre das ein angemessener Rahmen. (tos)

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