Klimanotizen 60
Worum geht es im verkürzten Wahlkampf? Wohl wieder um das Ausweichen vor den unausweichlichen Zumutungen einer selbst eingebrockten Wirklichkeit. Würde »antifaschistische Wirtschaftspolitik« helfen? Eher solare. Und über eine Studie aus Österreich, die auch das »neue Weniger« nicht ausspart.
#1 In seinem Vorausblick auf den verkürzten Wahlkampf hierzulande kommt Bernd Ulrich auf den Aspekt zu sprechen, demzufolge offenbar »mit den herkömmlichen Mitteln der Politik die Krisen unserer Zeit nicht mehr zu beherrschen« seien, »jedenfalls nicht zur leidlichen Zufriedenheit der Wählerinnen und Wähler. Und da man die Realität nicht abwählen kann, werden halt die je Regierenden bestraft.« Die »Systemkrise«, die dem zugrunde liegt, sei »wiederum Folge der Polykrise«, bei der »Klimakrise, ökologische Krise, Krise des Westens, Krise der Globalisierung, neue Kriege, Pandemien« und so weiter »nach großen, radikalen und synergetischen Antworten« verlangen würden, »auf die das politische System nicht vorbereitet ist und auf die die Politik die Menschen nicht vorbereitet hat.« Ob das als umfassende »Theorie der Krise« hinreichend ist, muss hier nicht weiter erörtert werden. Richtig ist Ulrichs Skepsis darüber allemal, es könnte in dem verkürzten Wahlkampf eine mehrheits- und also gestaltungsfähige Menge an Parteien aus den »blockierten Transformationskonflikten« (mehr dazu etwa hier) ausbrechen. Was an »Themen«, »Inhalten« und »Kampagnen« bisher bekannt geworden ist, sieht danach nicht aus. Und ob die Grünen ihre Ankündigung durchhalten, von den unausweichlichen Zumutungen der Wirklichkeit reden zu wollen, wozu auch politische Antworten in der zu den Herausforderungen passenden Größe gehören würden, ist noch abzuwarten.
#2 Die »permanente Gegenwart«, für das die »Periode Merkel« steht, einen ewigen Zustand versprechend, »der nicht durch politische Visionen oder Leidenschaften gefährdet werden sollte« (so der Kölner Psychologe Stefan Grünewald) - diese Phase ist unweigerlich zu Ende, wie Nils Minkmar schreibt. Aber eine neue hat sich bisher nicht durchgesetzt. In linken Kreisen spricht man mit Gramsci im Kopf vom »Interregnum«, das »Monster« hervorbringe: »Faschisierung ist ein Phänomen des misslingenden Übergangs zu einer neuen Periode kapitalistischer Entwicklung«, so Mario Candeias, noch eher als Drohung und gefährliche Möglichkeit, aber schon irgendwie angelegt als Projekt der »Blockade des Übergangs zu einer grün-kapitalistischen Modernisierung«, anders: »ein Phänomen, bei dem die Bourgeoisie unfähig erscheint, zu regieren und die (im kapitalistischen Sinne) notwendige Transformation zu organisieren«. Auch hier kann man sich fragen, was die Begriffe taugen und ob die Analyse, die da entfaltet wird, das Ganze wirklich zu fassen bekommt. Interessanter wäre aber vielleicht, die unterschiedlichen Zugänge auf das sie Verbindende abzuklopfen und zu fragen, ob das etwas und wenn ja bedeuten, nach sich ziehen könnte: Was tun? Denn mit der Tatsache, die Ulrich beschreibt, ist die liberale »solare Position« genauso konfrontiert wie jene, laut der nur ein »solidarischer, sozial-ökologischer Systemwechsel« noch Rettung verspricht: Die politische Hauptauseinandersetzung dürfte sich auch in diesem Wahlkampf dadurch auszeichnen, dass Parteien versuchen, »auf das Qualitative quantitativ zu antworten, auf das Fundamentale graduell und auf das Schnelle langsam«. Mag sein, wie Ulrich hoffend meint, dass alle irgendwie schon spüren würden, »dass das nicht mehr ausreicht«. Es ist aber noch lange kein Anzeichen dafür, dass das alles, das Verdrängen und Ausweichen, das Verbiegen und Blockieren »vielleicht ein letztes Mal« passiert. Zumindest die bisherige Erfahrung lehrt, dass »die tiefe Kluft zwischen den realen Problemen und der angebotenen Politik« sich nicht durch Einsicht schließt. Schon gar nicht in Wahlkämpfen.
#3 Vielleicht durch Desaster? Man will es nicht hoffen. Was auch nur jene dahinschreiben können, die nicht schon von einem solchen betroffen sind, ob nun in den Schweizer bröckelnden Bergen, den diesjährigen Sintflutgebieten oder anderen sich weiter und weiter ausdehnenden Todeszonen. Kapitulieren? Nein, danke. Noch einmal Minkmar: »Die kommenden Jahre werden nicht einfach, doch es ist alles vorhanden, um sich neu zu erfinden, neu aufzustellen in Deutschland. Aber erstmal nachdenken.« Eine Studie, die beim Nachdenken helfen kann, ist diese Woche in Wien vorgestellt worden, nähert sich als wissenschaftliche »Sondierung« möglichen Antworten auf einen, allerdings zentralen Aspekt dieses »sich neu aufstellen«: einer nachhaltigen Daseinsvorsorge. Klingt langweilig? Wenn man so will wird hier etwas ausführlicher ausbuchstabiert, das die linken Freunde »antifaschistischer Wirtschaftspolitik« in der Bundesrepublik womöglich auch im Kopf haben. Der dazu geführten Debatte liegt die Annahme zugrunde, Einkommenssorgen, soziale Unsicherheit, Inflation, die »Great Affordability Crisis« etc. seien die materiellen Treiber des Aufstiegs jener »Monster«, von denen Candeias schreibt, worauf eine »antifaschistische Wirtschaftspolitik« zu antworten habe, etwa mit Preiskontrollen (Isabelle Weber). Oder, wie es hier formuliert wurde: »Als Lösung wird deshalb auf einen starken Staat gesetzt, der mit Instrumenten wie Industrie- und Sozialpolitik oder Steuerreformen Ungleichheiten aktiv entgegenwirkt, soziale Sicherheit stärkt und proaktiv Krisen managet und Veränderungsprozesse gestaltet.« In Zeiten der biophysikalischen Existenzkrise stecken darin eine Menge neuer, wenn man so will: stofflich bedingter Herausforderungen und Widersprüche. Was auch damit zu tun hat, dass wir an einen Modus »sozialer Sicherheit« gewöhnt sind, dessen Ressourcen sozialer Integration unter den Bedingungen der planetaren Krise selbst infrage stehen, etwa weil es um Verteilungsspielräume aus Wachstum geht oder heute auch globale Dimensionen von Klimagerechtigkeit beachtet werden wollen. Wer die Wohnungskrise lösen will, muss nicht nur wissen, woher er Finanzierung und Mehrheiten für entsprechende Regelungen findet, sondern wird sich auch mit dem CO2-Fußabdruck des Bauens befassen müssen, der wird nicht schon dadurch kleiner, dass jemand mit geringen Einkommen die neue Bude bezieht. Und, apropos »radikale und synergetische Antworten«, von denen Ulrich spricht: eine, nennen wir sie doch lieber »solare Wirtschaftspolitik« wird der Frage nicht ausweichen können, welche Maßstäbe eines »guten Lebens für alle« noch gelten können, wenn man dabei auch die planetaren Grenzen beachten will. Die Abschaffung der Milliardäre ist darauf noch keine hinreichende Antwort. Man wird dieser aber nicht ausweichen können, auch nicht in Wahlkämpfen.
#4 Aber zurück zur Studie: Die ist deshalb interessant, weil sie am Beispiel ausgewählter Bereiche der Daseinsvorsorge in Österreich und deren Entwicklung bis 2030 nicht nur die alt bekannten Fragen diskutiert, wie Bereitstellung, Regulierung und Finanzierung in einer Weise organisiert werden, die gesellschaftlichen Gebrauchswerten entspricht, nicht privaten Erlösinteressen. Sondern das Ganze mit den ökologischen Zielsetzungen konfrontiert wird, deren Deadlines jeden Tag näher rücken: Reduktionsziele, Klimaneutralität usw. Untersucht werden Sektoren wie Gesundheit, Langzeitpflege, Elementarpädagogik, öffentlicher Personennahverkehr, Energieversorgung, Wohnraumversorgung und öffentliche Erholungsräume. Dabei rückt die Daseinsvorsorge nicht nur als »Gegenstand« planetarer Herausforderung in den Blick, sondern zugleich als Voraussetzung für deren Bewältigung in sozialer Absicht: »Mit einer ausreichenden Grundversorgung können sich Menschen ohne Angst vor Prekarität und krisenbedingter Unsicherheit an den für den sozialen und ökologischen Umbau notwendigen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen beteiligen. Darüber hinaus kann über die Daseinsvorsorge umweltfreundliches Verhalten politisch ermöglicht werden, durch die Veränderung von strukturellen Kontextbedingungen und Entscheidungsstrukturen sowie die klimafreundliche Umgestaltung und Bereitstellung von Infrastrukturen«, wie es in der Studie heißt. Wir haben das an anderer Stelle »Politik der Ermöglichung« genannt. Kurzum: Es geht um die Organisation des »Überlebens« im Kleinen, das so gestaltet werden muss, dass das »Überleben« im Großen dadurch befördert wird.
#5 Der Ansatz hinter der Studie knüpft an die vor fünf Jahren auf Deutsch erschienene »Ökonomie des Alltagslebens« des Foundational Economy Collective an. Darin war der planetare Aspekt noch wenig betont, das Plädoyer »für eine neue Infrastrukturpolitik« speiste sich vornehmlich aus der Kritik der Privatisierungs- und Outsourcing-Jahrzehnte und der damit verbundenen sozialen Folgen. Die österreichische Studie räumt der »grünen Fragestellung« nun mehr Raum ein: »Ein gutes Leben für alle innerhalb planetarer Grenzen bedeutet darüber hinaus sowohl eine substanzielle Reduktion des Umwelt- und Ressourcenverbrauchs als auch eine gesicherte und sozial gerechte Grundversorgung innerhalb von Produktions- und Konsumkorridoren, die ein Minimum und gleichzeitig auch einen Maximalverbrauch an Ressourcen berücksichtigen. Dies schließt somit eine Anerkennung von ökologischen Belastungsgrenzen ein und setzt eine Reduktion sozialer Ungleichheit voraus.« Allerdings kann es nicht dabei bleiben, »die ungleiche gegenwärtige Verteilung von Ursachen und Konsequenzen der Klimakrise« zu adressieren. »Es geht zugleich um die Frage, wie ökonomische und gesellschaftliche Strukturen verändert werden müssten, damit sie mittel- und langfristig aufrechterhalten werden können, sozial gerecht sind, das Klima nicht weiter beeinträchtigen und planetare Grenzen wahren.« Dieser Wandel »wird mit entsprechenden Veränderungen im Konsumverhalten, Ressourcen- und Energieverbrauch einhergehen (müssen)«, was auf die noch sehr am Rande laufenden Debatten um Suffizienz verweist. Ein ehrlicher Wahlkampf, um zum Anfang zurückzukommen, müsste sich mithin eigentlich »ums neue Weniger« drehen - und nicht länger ums »alte Mehr« oder die Verlängerung der Illusion einer permanenten Gegenwart.