Klimanotizen 48
Ein Kilometer Autobahn entspricht der Masse einer Klinik. Immer neue »Rekorde« fallen bei den Klimadaten. Die Staaten erreichen ihre Klimaziele nicht, und die sind zu gering gesetzt. Derweil findet man Gefallen daran, den »grünen Zeitgeist« zu Grabe zu tragen. Brauchen wir eine neue »Leitkultur«?
#1 Wo stehen wir: Bei 1,6 Grad Durchschnittstemperatur der letzten 365 Tage über dem vorindustriellen Basiswert 1850-1900. Robert Rohde von Berkeley Earth hat die Grafik dazu. Deren unabhängige Klimaexpertinnen haben auch die neueste Zusammenfassung: Nominell hatten wir den wärmsten März seit Beginn der Aufzeichnungen 1850; neue Rekorde für die Temperaturen im Ozean, drittwärmster Wert bei den Landtemperaturen, 43 Länder mit Monatsdurchschnitts-Rekorden im Februar. Zack Labe schickt den aktuellen monatlichen Mittelwert der Treibhausgase: Kohlendioxid (Rekordhoch), Methan (Rekordhoch) und Lachgas (Rekordhoch). Der »Guardian« berichtet über eine Studie, laut der die Brandung von Meereswellen mehr PFAS, also so genannte Ewigkeitschemikalien, in die Luft abgeben als die industriellen Umweltverschmutzer. »Ein Kilometer Autobahn entspricht der Masse eines Krankenhauses«, lesen wir in der »Le monde diplomatique«, »für jeden Meter Autobahn müssen im Schnitt 30 Tonnen Sand und Kies eingesetzt sowie 100 Kubikmeter Erde bewegt werden; manchmal noch viel mehr.« Und hier findet sich eine neue Modellierung, die zeigt, wie sich das Antlitz des Planeten in den nächsten 500 Jahren verändern könnte: Je nach Szenario würden sich zwölf bis 50 Prozent aller Landflächen nicht mehr klimatisch für jene Lebensräume eignen, die sich heute dort befinden, wie es die »Süddeutsche« zusammenfasst.
#2 Nochmal zurück zu den plus 1,6 Grad, die Stefan Rahmstorf mithilfe einer Grafik einordnet: »Wenn der schwarze Langzeittrend über die 1,5 Grad geht ist das Paris-Ziel gerissen. Alle Staaten hatten sich 2015 zu Anstrengungen verpflichtet, es einzuhalten. Wo sind sie?« Dazu hat unter anderem Climate Analytics neue Daten: Keiner der G7-Staaten ist auf dem Weg, seine Emissionsreduktionsziele für 2030 zu erreichen; für die Einhaltung des 1,5-Grad-Zieles liegen die ohnehin zu niedrig - nur bei »bestenfalls der Hälfte des Bedarfs«. In einer anderen Studie wurde berechnet, wie weit 34 Staaten bei der Erreichung ihrer Ziele zur Emissionsminderung gekommen sind, die sie sich 2009 beim Klimagipfel in Kopenhagen gesetzt haben: 19 erfüllten diese nicht, hier gibt es eine Zusammenfassung. Aber selbst wenn die Treibhausgas-Emissionen ab heute drastisch reduziert würden, ist mit »massiven wirtschaftlichen Schäden« zu rechnen, wie Forscherinnen des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung vorrechnen: Weltweit geht es um einen Einkommensverlust von 19 Prozent bis 2050. Das wären jährliche ökonomische Schäden von 38 Billionen US-Dollar. Bisweilen sind die Zahlen missverstanden worden, wie David Wallace-Wells korrigiert. Diese »erschütternde Schätzung« kann nicht dazu dienen, für Dekarbonisierung zu werben, weil diese billiger wäre. Berechnet wurden nämlich die Schäden, die jetzt bereits feststehen - unabhängig von der weiteren Emissionsentwicklung. Am stärksten werden jene Regionen betroffen, die am wenigsten zur Erderhitzung beigetragen haben. Allerdings waren die Forscherinnen auch »sehr überrascht, dass wir so hohe Schäden auch in Deutschland erwarten müssen«. Hier findet sich eine Karte, die die Daten für einzelne Bundesländer vorstellt.
#3 Während also Degrowth in einer anderen Bedeutung des Wortes vor der Tür steht, während immer klarer wird, dass enorme gesellschaftliche Ressourcen nicht nur für eine Rückkehr in sichere planetare Grenzen nötig sind, sondern zusätzlich auch noch ebenso enorme gesellschaftliche Ressourcen zur Anpassung an das nicht mehr zu Verhindernde, findet man hierzulande Gefallen daran, den »grünen Zeitgeist« fröhlich zu Grabe zu tragen. Gab es je einen? Ex-Realo Hubert Kleinert sieht »die Dominanz des grünen Zeitgeists gerade zu Ende« gehen, was er auf Entzauberung in der Regierung, Fehler beim Regieren und eine Gegenwart zurückführt, die »wenig Raum lässt für Gesinnungspolitik«. Den Grünen fehle das Gespür, dass Mehrheiten »den Gendersprech einfach nicht« wollen. Ralf Fücks meint: »Der Zeitgeist schien mit den Grünen, man hatte die kulturelle Hegemonie in den tonangebenden Milieus. Dieser Hype ist vorbei.« Warum? »Eine ambitionierte Klimapolitik wird inzwischen von wachsenden Teilen der Bevölkerung eher als Bedrohung ihres Wohlstand wahrgenommen. Und als Belästigung ihres Alltagslebens.« Die Grünen würden dabei »zum Sündenbock auch für Fehlentwicklungen, die sie gar nicht zu verantworten haben.« Fücks meint aber auch: »Die moralische Selbstgewissheit, immer für das Gute und Richtige zu stehen, geht vielen Leuten außerhalb des grünen Milieus auf den Keks.« Schon ein paar Wochen alt ist ein Gespräch zwischen dem rechtskonservativen »Vordenker« Andreas Rödder und dem Soziologen Armin Nassehi, in dem dieser zur »grüner Zeitgeist«-Frage sagt: »Wem es gelingt, die Begriffe zu besetzen, der kann Herrschaft ausüben. Aber ich bezweifle stark, dass es je so etwas wie eine grüne Hegemonie gab.« Thomas Schmid fragt sich: »Wie konnte das der Partei passieren, die vor drei Jahren noch so professionell wirkte und die Grammatik realer Politik zu beherrschen schien? Große Klappe, nichts dahinter: Das ist als Erklärungsversuch so wenig tauglich wie die oft wiederholte Behauptung, die Partei sei Opfer ihrer moraldirigistischen Hybris geworden. Eher liegt es daran, dass sie es nicht versteht, ihre Vorhaben in praktisch machbare, für eine breite Öffentlichkeit nachvollziehbare Schritte zu übersetzen. Das Gefälle zwischen Anspruch und Tat ist zu groß.«
#4 Das wäre eine Diskussion wert, es würde um die Lösung von Transformationsblockaden gehen können, um Umsetzungshindernisse, die richtigen Politiken der Ermöglichung und so fort. Doch auch Schmid kehrt am Ende zu einer Phrase zurück, die zu einem medialen Standard geworden ist: Die Grüne Partei »redet unentwegt vom Volk, hat von demselben aber keine Ahnung.« Hat das schon einmal jemand der FDP vorgehalten? Und steckt nicht die egoistische Aufforderung zum Opportunismus darin, die Einsicht in klimapolitische Zumutungen zurückzustellen, wenn die aktuelle Bevölkerung befeuert von den Bauchrednern der fossilen Beharrung darob nicht begeistert ist? Allensbach hat zu diesem Feuilletonthema Zahlen beigetragen. Die Grünen haben demnach mehr als andere Parteien an Ansehen verloren, zugleich imaginieren immer mehr Menschen in ihnen großen Einfluss auf die Politik. »Den Befragten wurde eine öffentliche Diskussion geschildert, bei der Redner aller drei Koalitionsparteien sprechen; ein Redner wird ausgebuht. Befragt, wen die Proteste getroffen haben, ist sich die Mehrheit sicher, dass es nur die Grünen sein können.« In den Umfragedaten spiegelt sich das Ergebnis einer konzertierten Aktion von AfD bis BSW, von CDU bis FDP, der es nie um Kritik im Sinne dieses Wortes ging. Ob es hundertfach widerlegte lobbyistische Kuriosita sind, die so etwas antreiben (»Technologieoffenheit!«); ob es wohlstandschauvinistisches Wagenburgdenken ist oder blanker Opportunismus - in ihrem Feindbild ist sich die fossilistische Reaktion einig. Dass sich auch Linke daran beteiligen, stellt auch diesen ein Zeugnis aus. Peter Unfried hat daraus den Schluss gezogen, die Grünen werden gerade deshalb als »giftig« abgewiesen, weil sie am wenigsten der Veränderungsnotwendigkeit ausweichen. Und Claudius Seidl hat, von der seltsamen Diskussion um die »Kriegstüchtigkeit« abhebend, von einer neuen Form von »Tapferkeit« gesprochen: die Grünen, hier nicht ausschließlich als Partei gemeint, hätten gelernt, »dass Wohlstand, Komfort, Bequemlichkeit nicht zu den unveräußerlichen Menschenrechten gehören. Dass man bereit sein muss, die eigene Lebenspraxis infrage zu stellen, wenn tödliche Bedrohungen erkennbar werden. Zu diesen Bedrohungen gehört eben nicht nur der Klimawandel.«
#5 Man muss diese Verteidigungsreden der Grünen nicht allesamt gutheißen, an der Partei und ihrer Politik Kritik zu üben ist richtig und nötig. Dass sie aber am ehesten für etwas steht, was Mark Siemons nicht nur an der CDU vermisst, wäre erst noch zu widerlegen - für eine neu verstandene »Leitkultur«. Es gebe »schlichtweg keine Debatten über die Zukunft, über das, was das Land langfristig aus sich machen will«, beklagt Siemons. »Selbst die Großaufgabe der ökologischen Transformation ist bisher weder mit der Selbstdefinition des Landes noch mit den Beziehungen zur äußeren Welt so in Verbindung gesetzt, dass sie die unterschiedlichen Milieus und sozialen Schichten zusammenbringen würde. Eingeklemmt zwischen dem Beharren auf überkommenen Normalitätsvorstellungen und den nur widerstrebend anerkannten Veränderungen draußen in der Welt, nimmt die Gereiztheit zu.« Das stimmt, und doch wird man am ehesten den Grünen und den ihnen nahestehenden Intellektuellen konzedieren dürfen, hiervon eine Idee zu haben, die aus mehr besteht als aus klimapolitischen Spiegelstrichen. Man kann diese Idee für unzureichend halten, für »zu kapitalistisch« und so weiter. Dann besteht die Möglichkeit, eigene Ideen dagegenzusetzen. Wie aber nun erneut auch die Diskussion um Wortmeldungen von Hedwig Richter und Bernd Ulrich zeigt (hier und hier), halten die »Kritiker« ihre Aufgabe oft schon für erledigt, wenn sie oft genug »Moralismus«, »Paternalismus« und »Elfenbeinturm« gerufen haben. Dazu muss nicht einmal die vorgetragene Idee herhalten, sondern oft reicht schon das, was man in ihr sehen will. (Dagegen wird hier der Inhalt richtig referiert.) Womöglich entspricht die Aufgeregtheit der unbewussten Einsicht, dass Richter und Ulrich ein paar sehr richtige Fragen angesprochen haben: zur Rolle des Konsums im Kapitalismus, zur Verwandlung des Citoyens in den »Verbraucher« (je länger man über das Wort nachdenkt, desto treffender wird es), zur Frage, zu welchen Selbstveränderungen die Teile der Gesellschaft gebracht werden müssten, die die größten Fußabdrücke haben, und wie andere unterstützt gehören, um selbst zu Subjekten eines notwendigen Wandels werden zu können; sowie dazu, was das alles mIt Demokratie zu tun hat. In seiner, mindestens sehr unhöflich zu nennenden Replik, unterstellt Jürgen Kaube Hedwig Richter, »der verzweifelten Einsicht, dass die Demokratie womöglich nicht die Staatsform ist, die dem Klimawandel entschieden entgegentreten wird, dass sie aber gleichwohl in allen anderen Fragen die einzig sinnvolle politische Form ist, stellt sie sich nicht.« Ist das so? Ist dies die einzige mögliche Einsicht in Zeiten, die zur Verzweiflung aufrufen? Was, wenn die Grundlagen von Demokratie zerstört werden, wenn dem Klimawandel nicht »entschieden entgegentreten wird«, und was wäre in einem ausreichenden Sinne »entschieden«? Statt andere Leute als »Gouvernante« zu beleidigen, wäre von Kaube dazu eine eigene Antwort hilfreich gewesen; etwas, was man von anderen »Kritikern« nicht erwarten darf, deren Beiträge im Grunde nur Varianten der langweiligen Feuilleton-Abteilung »Kritik des Wokeism« entstammen.