Klimanotizen 47

Der Klimaforscher Schellnhuber hätte nicht gedacht, dass die Menschheit in Klimafragen so verbohrt und gleichgültig sein könne. Nun versucht er, eine neue Bauhaus-Bewegung anzustoßen. Außerdem: aktuelle Klimadaten, ein Buch zu Politiken der Ermöglichung und Neues aus der Forschung.

#1 Wo stehen wir? »So dramatisch war die Situation noch nie«, sagt der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber. »Als ich 1992 das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung gründete, rechnete ich fest damit, dass es nach 25 bis 30 Jahren wieder eingestampft würde, weil dann das Klimaproblem gelöst wäre.« Man habe gedacht, »es geht immerhin um das Überleben unserer Zivilisation, die Menschheit kann gar nicht so verbohrt und gleichgültig sein, dass sie hier nicht entschlossen gegensteuert. Dass man zum kollektiven Selbstmord aus Bequemlichkeit bereit ist, ging über unsere Vorstellungskraft.« Die Forschung stehe »gegen die verlogene Debatte, die dafür sorgt, dass das fossile Geschäft weitergeht«, auf verlorenem Posten. Gegen den verlorenen Posten versucht derweil der neu gegründete Forschungsverbund Umwelt und Klima oder Environment and Climate Research Hub (ECH) an der Universität Wien anzugehen - man wolle »gemeinsam kreative Lösungen für die herrschende Umwelt- und Klimakrise finden wollen«. In Potsdam forscht Birgit Schneider über das Verhältnis von Ökologie und Medien; hier plädiert sie für »neue sinnstiftende Erzählungen«, denn »auch wenn die Folgen des Klimawandels nicht mehr zu übersehen sind und das Thema allgegenwärtig ist, fehlt uns das Vorstellungsvermögen dafür, was der Klimawandel bedeutet. Um den Mut aufzubringen, eine Welt im Wandel zu denken, braucht es neue Imaginationen und neue Geschichten.« Charlie J. Gardner steuert dazu einen Rat bei: »Die Worte, die wir verwenden, sind wichtig« und positive Begriffe würden eher im Sinne von notwendigen Veränderungen überzeugen. Statt von Dekarbonisierung könnte man zum Beispiel von der Beseitigung von Verschmutzung sprechen, statt von nachhaltig von sicher und gesund, statt von Transformation von Fortschritt und so weiter.

#2 Natürlich gibt es auch neue Negativdaten, da hilft auch positives Sprechen nicht: Der März war weltweit der wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, heißt es unter Berufung auf Zahlen des EU-Klimadienstes Copernicus. Die Lufttemperatur an der Erdoberfläche lag 0,73 Grad über dem Schnitt des Referenzzeitraums von 1991-2020 und 1,68 Grad über dem des orindustriellen Referenzzeitraums (1850-1900). Auch die Temperaturen an den Meeresoberflächen gehen weiter durch die Decke. Dabei erwärmt sich Europa schneller als andere Weltregionen - um bisher 2,3 Grad seit Beginn der Industrialisierung laut Weltmeteorologiebehörde WMO. Die Forschung vermutet, dass eine Region südlich von Grönland daran schuld ist, die paradoxerweise immer kälter wird. Was man über diesen Kältefleck weiß, wird hier ausführlich dargelegt. Europa sei gut beraten, sich auf mehr extreme Sommer einzustellen. Der im Frühjahr 2022 auf dem ostantarktischen Plateau gemessene Weltrekord-Temperatursprung von 38,5 Grad Celsius über die historische Durchschnittstemperatur für diesen Tag am kältesten Ort der Erde sorgt derweil (wieder) für Diskussionen. An der beispiellosen Qualität der Messung gibt es keinen Zweifel, die Frage ist eher, was zu »dieser meteorologischen Metamorphose« geführt haben könnte. Vor allem, wenn man bedenkt, dass ein Abschmelzen des kompletten Antarktis-Eises den Meeresspiegel weltweit um mehr als 60 Meter ansteigen lassen würde. Hier wird auf eine Studie hingewiesen, laut der der Temperatursprung »auf einen seltenen atmosphärischen Fluss über der Region zurückzuführen« ist, also auf eine natürliche Schwankung. Dass die vom Menschen verursachte Erwärmung in der Region wahrscheinlich zum Ausmaß dieser Anomalie beigetragen hat, steht wiederum außer Frage. Apropos Anomalie: Die »Große Dürre«, die von 1875 bis 1878 in Asien, Brasilien und Afrika grassierte, führte zu enormen Ernteausfälle und einer globalen Hungersnot. In einer neuen Studie werden nun Beobachtungen, Paläoklima-Rekonstruktionen und Klimamodell-Simulationen zusammengebracht. Was man aus dem Papier lernen kann: Die klimatischen Bedingungen, die die »Große Dürre« und die globale Hungersnot verursachten, waren auf natürliche Schwankungen zurückzuführen. Aber ein erneutes Auftreten ist heute aufgrund der globalen Erwärmung auch heute möglich. Mit allen Folgen.

#3 Auch die Debatte darüber, ob von einer Beschleunigung der Erderhitzung ausgegangen werden muss, geht weiter. Oder besser: Wie unterschiedliche Perspektiven mit der Tatsache dieser Beschleunigung umgehen. Dass es zunehmend Hinweise darauf gibt, dass sich die Welt jetzt schneller erwärmt als seit 1970, wird ja nicht bestritten. Die eine Seite merkt allerdings an, dass dies nicht überraschen könne, »denn die Beschleunigung ist genau das, was unsere Modelle erwarten«. Die andere schlägt Alarm mit dem Argument, dass man seit 2023 etwas beobachte, das qualitativ neu sei. Ryan Katz-Rosene hat hier kurz die Diskussion zwischen diesen beiden »wissenschaftlichen Narrativen zur Dringlichkeit des Klimathemas« kurz zusammengefasst - es geht im Grunde darum, inwieweit Modelle die Sensibilität der wichtigsten Antriebsfaktoren (CO2 und Aerosole) genau widerspiegeln. Von einer anderen Warte aus wird derweil ein klimawissenschaftlicher »Tunnelblick« kritisiert: Die Expertinnen und Experten würden sich zu sehr auf Kohlenstoffemissionen und den Temperaturanstieg fokussieren. Dabei gerate »die übergreifende ökologische Überlastung« aus dem Blickfeld, was zu einer Unterschätzung der kombinierter und kaskadierender Risiken führe. Mit solchen Warnungen sind nicht selten Hinweise darauf verbunden, dass sich die gesamte Lebensweise gravierend ändern müsse, um in planetar sichere Grenzen zurückzukommen. Man könne nicht auf technologische Lösungen setzen und hoffen, Produktion, Konsum, Alltagskultur könnten so fortgesetzt werden wie bisher. Eine Umfrage zeigt nun, dass 57 Prozent der 16- bis 29-Jährigen hierzulande davon ausgehen, »dass in absehbarer Zeit Technologien verfügbar sind, die die Klimaprobleme lösen. In keiner anderen Altersgruppe ist dieser Anteil derart hoch: 47 Prozent sind es bei den 30- bis 49-Jährigen, 37 Prozent bei den 50- bis 64-Jährigen und 30 Prozent bei Menschen über 65 Jahren.«

#4 Ist das schon falscher technischer Solutionismus? Ohne Technologien wird man der Klimakrise jedenfalls auch nicht beikommen - die Frage ist, wo und welche Einsatz finden. Laut aktueller Zahlen sind im ersten Quartal dieses Jahres 50.000 Balkonkraftwerke neu angemeldet worden. Die tatsächliche Zahl der in Betrieb genommenen Anlagen dürfte noch höher liegen. Solar- und Windkraftanlagen haben in der Europäischen Union im ersten Quartal 2024 11,6 Prozent mehr Strom als im ersten Quartal 2023 und mehr als doppelt so viel wie im ersten Quartal 2015 erzeugt. Der neue European Clean Tech Tracker stellt Zahlen zu den wichtigsten Innovations-, Herstellungs- und Einsatztrends der wichtigsten Technologien zusammen, die klimapolitisch in Europa relevant sind. Der deutsche Energieverbrauch ist 2023 stark zurückgegangen und befindet sich auf einem Tiefstand, wie er zuletzt 1990 erreicht wurde, so der Jahresbericht der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen. Eine neuen Studie des britischen Think Tanks Ember zufolge könnten die Methan-Emissionen in Deutschland allein durch eine Unterschätzung der Braunkohleemissionen um 14 Prozent höher sein als bislang angenommen. Auch ist das Wissen um Methan-Emissionen recht gering, obwohl der Erhitzungseffekt von Methan über 80-mal so stark wie der von CO2 ist. Und noch ein Forschungspapier: Laut Klimaforschungsinstitut MCC sind die fünf Milliarden Euro, die die öffentliche Hand bereitstellt, um beim Kohleausstieg das Anpassungsgeld für Beschäftigte zu finanzieren, »wenig kosteneffektiv… Es ist teuer, da es größtenteils Betriebsrenten der Firmen ersetzt. Es entschädigt statt der Beschäftigten mittleren Alters nur die ab 58 Jahren. Und es setzt wenig Anreiz zum beruflich aktiv bleiben – trotz des allgemeinen Fachkräftemangels etwa in der Braunkohle-Region Lausitz.« Als Alternative wird eine Entgeltsicherung vorgeschlagen, bei der der Staat allen, die auf eine schlechter bezahlte Stelle außerhalb der Kohle wechseln, für fünf Jahre die Differenz erstattet.

#5 Nochmal zurück zu Schellnhuber: »Wir müssen den Kohlenstoff aus der Atmosphäre filtern«, sagt der - glaubt aber ebensowenig, dass dies mit »großtechnischer Planetenklempnerei gelingen« könne. Sondern? »Indem wir für unsere Siedlungen und Infrastrukturen nachwachsende Rohstoffe wie Holz und Bambus nutzen. Die gebaute Umwelt verursacht ungefähr 40 Prozent der globalen Emissionen und ist damit der größte Treiber des Klimawandels. Das können wir vermeiden, indem wir Beton, Glas, Aluminium und Stahl durch natürliche Materialien ersetzen. Das Großartige daran:  Wegen der Photosynthese-Leistung der Pflanzen werden so der Atmosphäre große Mengen an CO2 entzogen. Zu diesem Thema arbeite ich mit Stadtplanern, Architekten, Künstlern und Umweltgruppen zusammen. Wir versuchen eine neue Bauhaus-Bewegung anzustoßen, die das Klimaruder herumreißt.« Um »sichere« Klimabedingungen wieder herzustellen, würde es allerdings ungefähr 200 Jahre dauern. Wenn sich die neue Bauhaus-Bewegung dem Wohnen und Bauen widmet, ist eine Struktur angesprochen, die klimafreundliches Leben ermöglichen kann. Nun ist als »Standardwerk für die Klimaforschung im deutschsprachigen Raum« der »APCC Special Report: Strukturen für ein klimafreundliches Leben« herausgekommen. Das in Open Access erschienene Buch vermisst aus österreichischer Perspektive, wie Rahmenbedingungen so gestaltet werden können, dass ein klimafreundliches Leben für jeden selbstverständlich oder zumindest erleichtert wird. 

#6 Solche Politiken der Ermöglichung sind auch mitentscheidend, will man die politischen Negativfolgen der unvermeidlichen Transformationskonflikte mindern. Inwieweit die Energiewende zu einer politischen Polarisierung entlang der Berufsfelder geführt hat, untersucht ein neues Papier anhand von Daten zur AfD-Unterstützung. So nehme diese schon seit zehn Jahren in Kreisen mit einem größeren Beschäftigungsanteil in umweltschädlichen Berufen zu; man könne zeigen, dass sich Personen in umweltschädlichen Berufen seit 2016 deutlich häufiger mit der extremen Rechten identifizieren. Wird sich das auch bei der Europawahl zeigen? Dass sich viele Menschen Parteien zuwenden, die versprechen, die Klimaambitionen der EU zurückzufahren, scheine vor dem Hintergrund polarisierter Debatten, sozialer und ökonomischer Probleme sowie der fossilistischen Status-quo-Front plausibel - aber: »Was wir in unseren Daten sehen, bestätigt dies nicht wirklich«, heißt es in einer neuen Studie, für die 15.000 Menschen in Deutschland, Frankreich und Polen zu Präferenzen für mehr als 40 spezifische Klimapolitiken befragt wurden. Man finde »keine weit verbreitete Gegenreaktion« gegen Klimapolitik, eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler in den drei Ländern sind weiterhin besorgt über den Klimawandel, wünschen sich eine ehrgeizigere Klimapolitik und fürchten auch nicht, dass Klimaregulierung sie ihren Arbeitsplatz kosten wird. Hier wurde derweil untersucht, ob unterschiedliche Klimaprotestformen die Sorgen der Menschen bezüglich des Klimawandels erhöhen oder ob sie möglicherweise kontraproduktiv sind. Ergebnis: »Klimaproteste sind effektiv und überzeugen im Durchschnitt auch jene, die sich bisher keine Sorgen gemacht haben.« Dies gelte sowohl für globale Klimastreiks etwa von FFF als auch für disruptive Akte zivilen Ungehorsams wie etwa von Ende Gelände. Die Autoren »finden keine statistisch signifikanten negativen Effekte in keiner der untersuchten Bevölkerungsgruppen«, die Ergebnisse könnten zeigen, »dass Klimaproteste ein effektives Mittel sein können die Folgen des Klimawandels immer wieder in das gesellschaftliche Bewusstsein zu rücken«.

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