Klimanotizen 42
Erleben wir das Ende der grünen Hegemonie? Das hätten rechtskonservative Vordenker wohl gerne. Über widersprüchliche Fortschritte, eine »postmoderne CDU« und Wege zurück in die politische Praxis, die nicht nur die Union beschreiten muss - denn die Physik interessiert sich nicht für Zeichenspiele.
#1 Wo stehen wir: Vor wenigen Tagen wurde mit 21,12 Grad Celsius ein neuer Rekordwert für die globale Meeresoberflächentemperatur erreicht; die bisherige Höchstmarke war im Sommer 2023 gemessen worden. »In den nächsten sechs Wochen dürfte es fast täglich neue Rekorde geben«, twitterte Eliot Jacobson. »Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich nicht alle melde.« Zeke Hausfather meldet, der Januar war mit 1,56 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau der wärmste Januar seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Zahl lässt auch deshalb aufmerken, weil sie mehr ist - ein Symbol für das Ziel, das wir uns gesetzt haben. Sie zeigt an, »wo wir stehen«; allerdings – jetzt noch einmal Jacobson –, gibt es unterschiedliche Daten zum aktuellen Ausmaß der globalen Oberflächenerwärmung über dem vorindustriellen IPCC-Basiswert von 1850 bis 1900: »Der Mangel an Genauigkeit und Konsequenz bei der Berichterstattung über diese überaus wichtige Zahl ist verrückt. Aber dieser einzigartige Wert ist der Kern der Paris-Grenze. Zu sagen, wann wir diese Grenze überschritten haben, ist absolut entscheidend, um die kurzfristige Zukunft von Wendepunkten, Rückkopplungsschleifen und Zusammenbrüchen zu verstehen. Es ist auch wichtig, dass Medien und Klimawissenschaftler in ihrer Berichterstattung auf einer Wellenlänge sind. Hier steht die Glaubwürdigkeit aller auf dem Spiel.« Mal sehen, wer sich dazu alles zu Wort melden wird. Denn es gibt ja Gründe, die dazu führen, dass mit unterschiedlichen Werten dasselbe gesagt wird: Es wird schneller heißer als viele dachten und es allen lieb sein sollte. Und trockner, wie sich mitten im Winter in Katalonien zeigt, wo nun wegen Wassermangels Notstand ausgerufen wurde.
#2 Daran kann natürlich nur die »grüne Hegemonie« schuld sein, die von Rechts bis ganz weit Rechtsaußen zur Ursache allerlei Übel auserkoren worden ist. Abseits des Sarkasmus: Dass sich - mal mehr von ökologischen, planetaren und transformatorischen Motiven angeschoben, mal eher von ökonomischen - auf vielen zwingend umzubauenden Feldern inzwischen beachtliche Erfolge zeigen, ist das eine. Der Fortschritt kommt oft im Kleid des Widerspruchs daher; etwa wenn das erste Mal ein Elektroauto die weltweite PKW-Verkaufsliste anführt, das aber als »Mittelklasse-SUV« vermarktet wird, als aufgeblähter Ressourcenvernichter also, der anderen den Platz raubt, weshalb man in Paris gerade die Parkgebühren für solche Stadtgeländewagen verdreifacht hat. Zu den Widersprüchen gehört auch, dass die allgemeine Elektrifizierung zwar voranschreitet, dies aber im Rahmen einer Individualmobilität, mit der man nur schwerlich zurück in die Sicherheit planetarer Grenzen finden wird. Ein Fortschritt bleibt es aber doch, wer an mehr und schnellerem interessiert ist, wird die Dissonanzen zwischen materiellem Gehalt und Formbestimmung der gegenwärtigen grünen Modernisierung des Kapitalismus genau betrachten müssen, um die Keimformen neuer Verhältnisse darin zu erkennen. Und nein, damit ist jetzt nicht die Parole von der »Technologieoffenheit« gemeint, die meist dann in Stellung gebracht wird, wenn partikularen Interessen ein Vorteil verschafft werden soll. Fahrzeuge mit Batterieantrieb schaden dem Klima am wenigsten. Eine neue Studie des Umweltbundesamtes hat das jetzt noch einmal sehr ausführlich belegt; bei den »Klimareportern« gibt es die Ergebnisse in Kurzform. Und natürlich: echten planetaren Rückschritt gibt es auch, etwa im Agrar-Bereich.
#3 Aber zurück zur »grünen Hegemonie«. Der mit einer Vordenkerrolle für Rechtskonservative bedachte Andreas Rödder hat gerade deren Ende ausgerufen. Gab es überhaupt eine? In der »Frankfurter Allgemeinen« entfaltet der Historiker seine Überlegungen über die dem Lauf der Dinge unterliegenden Grundrhythmen der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Diese habe alle 15 bis 20 Jahre einen »Paradigmenwechsel erlebt: Mit dem ersten Ölpreisschock ging im Jahr 1973 das Ende der Modernisierungsideologie einher; der Fall der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze markierte das Ende des Kalten Krieges; die Weltfinanzkrise des Jahres 2008 stellte die Hegemonie der neoliberalen Deutungsmuster infrage. Und die Krisen des Jahres 2023 zerstörten das grüne Paradigma, das in Deutschland seither die Oberhand gewonnen hatte.« Man hat jetzt öfter einmal solche Aufsätze gelesen; gern wird dann darauf verwiesen, dass die Grünen nicht mehr so beliebt seien oder in Umfragen grüne Themen nicht mehr so hoch im Kurs stehen. Wie viel davon aber ist Echo jener Verhetzung der Grünen durch Politiker ziemlicher aller sonstigen Richtungen? Vieles Nachdenkenswertes merkt Reinhard Olschanski in den neuesten »Blättern« zu Rödders Text an. Etwa, dass es sich dabei »nicht einfach nur eine rückblickende Diagnose« handelt, »sondern vor allem ein Postulat und ein Projekt ist, etwas, das erst erkämpft werden soll«. Es geht mithin auch um Strategieanweisungen für kommende Auseinandersetzungen innerhalb wie außerhalb der Union.
#4 Bleiben wir bei Olschanski. Interessant ist sein Hinweis auf die Denkungsarten, die dem nicht nur aus der Union zu hörendem »Anti-Grünen« zugrunde liegen. »Rödders Versuch, grüne Politik und Postmodernismus miteinander kurzzuschließen«, so Olschanski, laufe »ins Leere und übersieht völlig, dass das grüne Paradigma kein Kind, sondern vielmehr eine Alternative zu den postmodernen Entwürfen ist.« Dies betrifft immerhin eine zentrale Abwertungsfigur gegenwärtiger Auseinandersetzungen, wer die Grünen kritisieren, attackieren, verächtlich machen will, führt oft den Vorwurf bei sich, diese seien »postmodern«. Olschanski dreht den Spies nun um: Ein großes Problem des modernen Konservatismus sei es vielmehr, dass dieser in einer wandelnden Moderne »nämlich nicht nur dasjenige, was unwandelbar sein soll, erhalten« will, »er muss es zunächst selbst konstruieren. Dasjenige, was er als substantiell und eigenständig für sich bestehend postuliert, selbst erst zu konstruieren und zu erfinden –, das ist schon ein performativer Selbstwiderspruch.« Ein zweiter Punkt, bei dem Olschanski die Union empfindlich trifft, hat etwas mit ihrem eigenen, nun ja: Postmodernismus zu tun, der vor allem in der Ära Merkel zutage trat. Die Große Koalition ab 2005 habe den Großen Binarismus beendet, der über Jahrzehnte »Grundkoordinaten der politischen Identität und der soziokulturellen Befindlichkeit« gestiftet und auf Anhängerschaften von SPD hie und Union da verteilt hat. Heute wollen Merz-CDU und Söder-CSU mit aller Macht dorthin zurück, wobei sie ein »Bestimmungsspiel« in Gang setzen, das im Carl Schmittschen Sinne das Politische mit der Bestimmung eines öffentlichen Feindes beginnen lässt: »Die Definition des adversario soll die eigene politische Identität festigen und daraus weitere Inhalte generieren. Ein aktuelles Beispiel liefert die Atomkraft: Wenn der Gegner, den man sich ausgesucht hat, gegen Atomkraft ist, muss man selbst umso lauter für Atomkraft sein«, die realen politischen Abfolgen und wissenschaftlichen Meinungen dazu ganz außer Acht gelassen. Es geht um »Identität«, um »Zeichenspiele«, die in »Scheinrhetorik oder Scheinprogrammatik« zum Ausdruck kommen, »inhaltsleere Abgrenzungen und Negativbestimmungen«, aber eben keine dezidierten Inhalte: »Das bloße Erzielen von Aufmerksamkeit und nicht mehr die Lösung irgendeines sachlichen Problems wird so zum Debattenziel, die spektakelhafte Debatte zur bevorzugten Präsentationsform. Besonderen Erfolg versprechen schrille und kontroverse Positionen, die Emotionen triggern und möglichst lauten Streit produzieren.«
#5 Damit ist einer der Haupttreiber dessen angesprochen, was allgemein als »Rechtsruck« verhandelt wird, und der nicht gänzlich verstanden werden kann, wenn man den Einfluss der öffentlichen Meinungsbildung lediglich unter der Maßgabe betrachtet, wie sehr solche »Zeichenspiele« Positionen der Rechtsradikalen »normalisieren« und teils durch exekutive Teilübernahmen praktizieren. Unter anderem an dieser Stelle hatten wir in Erweiterung vorgeschlagen, den Einfluss der blockierten Transformation, die so verursachten Wirkungen in den Subjekten und weitere Fragen mit in den Blick zu nehmen. Etwa das Problem mangelnder Durchsetzungsperspektive von Veränderungen, die sich aus Erfahrung (etwa mit Verwaltungen) oder Alltagswissen (etwa über Personalmangel) speist und das notwendige Vertrauen in gelingende Umsetzung unterminiert sowie das Gefühl der Planungssicherheit mindert. Oder die Frage der Veränderungskompetenz, also dem Wunsch vieler, selbst etwas zur Transformation nicht nur beitragen zu wollen, sondern dies auch zu können - was auf staatliche Maßnahmen der Ermöglichung etwa durch alternative Infrastruktur oder individuelle Förderung von Verhaltensveränderung verweist. Hier wird Olschanskis Hinweis auf »Aristotelische Wege aus der Simulation in die politische Praxis« interessant, die nicht nur als »Kriterien« taugen, »mit deren Hilfe sich ziemlich gut erkennen lässt, wo eine sachangemessene Debatte verweigert wird« - sondern aus denen sich vier »Minimalbedingungen« destillieren lassen, »die eine politische Rede erfüllen muss, wenn sie einen ernsthaften Beitrag in einer Beratungssituation darstellen soll.« Erstens muss sie die relevanten Fakten und Probleme sachlich richtig referieren; zweitens »Lösungsvorschläge unterbreiten, die möglichst zielführend sind«, sich »drittens auch mit Alternativvorschlägen auseinandersetzen und zeigen, warum der eigene Vorschlag der bessere ist« sowie viertens für diesen »auch Werbung machen und mit rhetorischem Feuer Gefühle anregen, die zum praktischen Handeln motivieren«. Wer den Zustand der blockierten Transformation überwinden will, dem ist damit ein Vorschlag zum Vorgehen gemacht. Hier könnte auch das liegen, das nun mit Blick auf die große Bewegung zum Schutz der Republik eingefordert wird: ein »Wir haben verstanden« der Politik, wie es unter anderem Christian Bangel hier fordert, dabei aber den mitentscheidenden Punkt der blockierten Transformation, des Planetaren Paradigmas außen vor lässt. Das »Wir« der Demokratie, das sich jetzt auf Straßen und Marktplätzen zeigt, ist in der Verteidigung von Voraussetzungen gemein, die aber ohne Wettstreit um Alternativen um die Entwicklungsrichtung der Gesellschaft leer, unausgefüllt bleiben würden, weshalb das »Wir« zugleich eines der Konflikte ist - solcher der konstruktiven Art. Die »Wege aus der Simulation in die politische Praxis«, die Olschanski mit kritischem Blick auf die Union vorschlägt, werden nicht nur CDU und CSU zu gehen haben. Sie müssen, von allen, und zwar schneller als gedacht gegangen werden. Die Physik des Planeten interessiert sich nicht für »Zeichenspiele«.