Klimanotizen 41

Was hat die planetare Krise mit den Demonstrationen der Vielen für Demokratie und gegen die AfD zu tun? Über Veränderungserschöpfung, blockierte Transformationskonflikte, affektive Polarisierung - und warum Verlässlichkeit im Wandel und Trauerarbeit eine größere Rolle spielen sollten.

#1 Wo stehen wir? »Das Jahr 2024 beginnt deutlich wärmer als im gleichen Zeitraum des Vorjahres«, fasst Zeke Hausfather die bisherigen Januar-Daten zusammen. Temperatur-Kurven, El-Nino-Einflüsse… noch begreiflicher wird das Ausmaß des Klimawandels in einem Thread von Beispielen, die der Forscher von Berkeley Earth zusammengetragen hat. Durch menschliche Aktivitäten wurde bislang eine CO2-Menge in die Atmosphäre abgegeben, die dem Gewicht der kompletten lebenden Biomasse entspricht plus der gesamten von Menschen hergestellten und errichteten Dinge. Oder: Allein der grönländische Eisschild hat seit 1970 über 6 Billionen Tonnen Eis verloren; das sind über 700 Tonnen Verlust pro derzeitigem Erdbewohner. Durch Auswertung von Satellitenaufnahmen ist schon vor einigen Jahren ermittelt worden, »dass die Gesamtmasse von Meer- und Gletschereis seit 1994 um 28 Billionen Tonnen geschrumpft ist«. 

Das sind Dimensionen, die eine dringliche Herausforderung verdeutlichen. Gibt es einen Zusammenhang zu jener anderen Herausforderung, die derzeit Hunderttausende auf die Straßen treibt: für Demokratie, gegen die AfD? »Viele Menschen sehen diese Verbindung. Denn für jede Krise, ob es die Ungerechtigkeit im Land oder der drohende ökologische Kollaps ist, brauchen wir eine wehrhafte, integre und belastbare Demokratie. Das ist der Grundstein von allem, und darum geht es«, sagt Luisa Neubauer. Aber da ist noch mehr, sagt Lukas Franke. »Populistischen Demagogen nicht nur aus dem faschistischen Lager« spiele nicht zuletzt der Verlust einer positiven Zukunftserwartung angesichts multipler Krisen, hoher Komplexität und rasanter Veränderung in die Hände. Im globalen Norden »ahnt man, dass es so nicht ewig weitergehen wird, freilich, ohne die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Ausnahmslos alle Parteien versprechen unentwegt, den ›Wohlstand erhalten‹ zu wollen, mal garniert mit wohlfeiler Veränderungsemphase, mal mit unverhohlenem Wohlstandschauvinismus.« Stattdessen sei »eine Erzählung« nötig, »die Zukunftsängste übersetzt in Herausforderungen, die zu schaffen sind. Solange es keine wirkmächtigen Vorstellungen einer gelingenden planetarischen Zukunft gibt, wird die faschistische Gefahr jedoch weiterwachsen.«

#2 Damit ist ein Aspekt angesprochen, der bei den Debatten über die Demonstrationen der Vielen bisher eher randständig behandelt wird: Welche Rolle spielt die politische Bearbeitung der Klimakrise bei dem, was als Rechtsruck bezeichnet wird? Wie groß ist der Einfluss der blockierten Transformation

Steffen Mau hat in einem Gespräch mit Hartmut Rosa einen Hinweis darauf gegeben, der die Proteste von Landwirten deutet: Wir erleben »hitzige Anspruchsdurchsetzungskämpfe gegenüber der Politik«; »die Ursache dafür ist eine schwer verunsicherte Bevölkerung, die ahnt, dass es künftig keine Wohlstandsgewinne im bekannten Umfang mehr geben wird«. Daraus resultieren »horizontale Statuskonkurrenzen«, also Versuche, »die eigenen Interessen mit robusten Mitteln durchzusetzen. Wobei die Politik völlig überfordert damit ist, alle Ausgleichserwartungen zu erfüllen.« Dahinter sieht Mau unter anderem eine »Veränderungsmüdigkeit« wirken, welche den »Rückgriff auf das vermeintlich Traditionelle, den Nationalstaat, das Althergebrachte und eine Abwehr jeder Art von Veränderungszumutungen« befördert. 

Auch Claus Leggewie hat in seiner Rezension der »Triggerpunkte« von Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser betont, wie »graduelle Verstöße gegen eine unterstellte Normalität, Ängste vor Verlust des gewohnten Lebens, Empörung über vermeintliche Grenzverletzungen« sich »unter dem Dach eines Generalgefühls der Überforderung« ansammeln, gewissermaßen immer mehr Druck im Kessel erzeugen. Damit allein sind Zuwächse für rechtsradikale und wohlstandschauvinistische Parteien nicht zu erklären; dass die »Veränderungserschöpfung« eine Rolle spielt, wird man aber nicht einfach so abstreiten können. 

#3 Demonstriert haben ja noch andere. Man kann die Aktionen von Landwirten als Ausdruck eines zentralen Transformationskonfliktes begreifen, in dem Agrardiesel nur der »Triggerpunkt« ist, es in Wahrheit aber um eine tragende Säule von Produktions- und Konsumverhältnissen geht, die sehr stark ins Individuelle hineinragt: die Ernährung. Die heftigen Konflikte um das Gebäudeenergiegesetz verweisen auf einen zweiten zentralen Transformationskonflikt, der tief in mentale und gesellschaftliche Strukturen eindringt: das Heizen. Ein dritter Konflikt ist der um Mobilität, auch hier sind nicht nur Interessengruppen (Beschäftigte, Autokonzerne) einbezogen, sondern praktisch jede und jeder im Alltag betroffen. Was unter anderem Mau »Veränderungserschöpfung« nennt, tritt in kulturell aufgeladenen Debatten (mein Diesel!), in Auseinandersetzungen, die Verteilungs- und Eigentumskonflikte betreffen (mein Haus, meine Heizung!) und solchen Aspekten zutage, die in populistischer Absicht als Moralangelegenheiten fehlbeschrieben werden, im Grunde aber Lebensgewohnheiten betreffen, die im Lichte der planetaren Krise unsicher geworden sind (mein Fleischkonsum!). 

Der Agrarökonom Sebastian Lakner hat angesichts der Bauernproteste daran erinnert, dass hier das Großeganze mit dem individuellen Konkreten, das intellektuell Erkennbare mit dem alltäglichen Erleben zusammenkommt - und sich zu einer blockierten Veränderungsfrage aufstaut: »Der Klimawandel ist abstrakt, und auch wenn Landwirte dessen Auswirkungen bereits seit Längerem bemerken, beispielsweise an veränderten Wetterlagen oder längeren Dürreperioden, stellen sie sich dennoch die gleichen Fragen wie die Gesellschaft insgesamt: Wer fängt an? Was kann ich alleine ausrichten?« 

Man kann hier weiterfragen: Wie sozial geht die mich betreffende Veränderung zu? Wer unterstützt mich, wer übernimmt Verantwortung, wer wird gerecht zur Verantwortung gezogen, wie sehr kann ich auf die Praktikablität und Umsetzungsfähigkeit der vorgeschlagenen Lösungen vertrauen? Diese Fragen sind nicht hinreichend beantwortet, wenn sie von Mehrheiten als nicht hinreichend beantwortet angesehen werden. Darüber wird man sich auch nicht mit Parolen wie »Besteuert die Superreichen« hinwegtäuschen können. 

Zwischen dem individuellen Ändern-Wollen und dem gesellschaftlichen Ändern-Können klafft ein Riss, in der »Veränderungserschöpfung« kommt so auch eine unerfüllte Erwartung an »die Politik« zum Ausdruck: deren widersprüchliches oder unzureichendes Klimahandeln führt zu mangelnde Planbarkeit, schürt Unsicherheit und bestärkt individuelle Verdrängung. Die zunehmende Dynamik der einzelnen, gleichwohl miteinander verbundenen Transformationskonflikte und die individuell als blockiert erfahrene Veränderungsfrage treiben einen übergeordneten Gesellschaftskonflikt an, der rechtsradikal und wohlstandschauvinistisch wutbewirtschaftet wird und dabei das demokratische Allgemeine gefährdet. Das entschuldigt weder AfD-Zustimmung noch ist es schon die vollständige Erklärung für eine allgemeine Stimmung, in der sich die Sorge um den Erhalt der Demokratie als Voraussetzung konstruktiver Lösungssuche nun endlich lauter artikuliert.

#4 Jan Schlemermeyer hat mit Blick auf die bundesweiten Kundgebungen auf die Notwendigkeit passender politischer Kursänderungen hingewiesen. »Die Wut vieler Menschen muss bald in spürbare Verbesserungen und Verlässlichkeit im Wandel übersetzt werden.« Das ist der Sache angemessener als unterkomplexe Schuldzuweisungen, die »der Ampel« die alleinige Verantwortung für den Aufstieg der AfD zuschieben - von wegen Kürzungspolitik. Solche parteipolitischen Übungen werden auch nicht durch Verweise auf Studien sinnvoller, die einen Zusammenhang von Austerität und den Erfolgen bestimmter Parteien erläutern. In denen ist nämlich in der Regel von »extremen« oder Parteien »der Ränder« die Rede, die davon profitieren würden. Eva Roth hat den Stand dazu hier zusammengefasst, beim Dezernat Zukunft wird erläutert, warum die vom Lindnerismus der Ampel aufgezwungene Haushaltspolitik eine »unnötige Schwerlastprobe« ist. 

Aber warum profitiert hierzulande nicht zum Beispiel die Linke? Womöglich deshalb, weil auch sie die Frage der Veränderungserschöpfung unzureichend adressiert. Jedenfalls scheint das Vertrauen darin nicht besonders groß, dass ihre Vorschläge etwas zu meiner eigenen - nennen wir es vorläufig: Veränderungskompetenz beitragen kann, also zur Verringerung der Kluft zwischen Wollen und Können, zwischen individueller Bereitschaft und gesellschaftlich hergestellter Möglichkeit, auch entsprechend zu handeln. 

Aus Studien wie jenen des Umweltbundesamtes ist bekannt, wo sich Veränderungsbereite blockiert fühlen, was Veränderungsskeptische zum Abwarten bringt, welche Handlungsbarrieren Unentschlossene sehen und so weiter. Es geht hier um Erwartungen an »den Staat« und »die Politik«, in denen Gerechtigkeitsempfinden, materielle Ressourcen und Vertrauen in Lösungen vielfältig verbunden sind. »Eine Kernerkenntnis zur Gemütslage der Menschen in Sachen Klimaschutz: Sie fühlen sich in ihrem Tun häufig vereinzelt und stoßen an die Grenzen ihres individuellen Spielraums, der eben nicht die kollektive Anstrengung ersetzen kann. Es entsteht ein selbstverstärkendes Kooperationsdilemma: Weil man sich inmitten einer gefühlt noch zu untätigen Gesellschaft hilflos fühlt, leidet der eigene Antrieb; dieses Signal wiederum befördert das gegenseitige Zögern«, so bei More in Common. »Zögern beim weiteren persönlichen Handeln in Sachen Klima beruht also in den meisten Fällen nicht auf einer Ablehnung von Klimaschutz oder einer aggressiven Verantwortungsabwehr. Vielmehr dominiert das (unterschwellige) Bedürfnis nach einem kollektiven Impuls, den man nicht allein leisten kann.« 

Weitere Aspekte von Veränderungsbereitschaft und Veränderungskompetenz lassen sich in Schriften etwa der Böckler-Stiftung zu »Erwartungen von Beschäftigten an die sozial-ökologische Transformation« oder, apropos »Bauernproteste« bei der Uni Hamburg finden: Veränderungsbereitschaft ist motivational keineswegs nur eine Frage von ausreichend staatlichen Kompensationen und Förderungen, es geht mithin keineswegs nur ums Geld: »Ganz oben auf der Liste für motivierende Faktoren steht die Anerkennung: Die Landwirte bewerteten persönliche Überzeugung (75,6%) und öffentliche Anerkennung (68,9%) als sehr motivierend für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen.«

#5 Noch einmal zu den Demonstrationen der Vielen. Isolde Charim glaubt als Haupttreiber für »das, was man als Polarisierung der Gesellschaft bezeichnet« nicht inhaltliche Gegensätze zu erkennen, sondern die Formen, in der heute Meinungsdifferenzen ausgetragen werden. »Jeder Konflikt wird zur Identitätsfrage aufgeladen. Die Meinungen werden zu Stellvertretern der Person. Das Ich wird zum Einsatz jeder Auseinandersetzung. Aber das Ich ist unverhandelbar. Daher rührt die Unerbittlichkeit. Und genau das ist der Boden, auf dem die Rechten gedeihen.« Darüber mehr zu verstehen, hilft ein Blick in die Forschung zur affektiven Polarisierung, denn um die geht es Charim, nicht um die »ideologische Polarisierung«, bei der sich zwei Lager in ihren Ansichten immer weiter voneinander entfernen, und die für die Bundesrepublik bisher nicht in größerem Maße empirisch feststellbar ist. 

Adrian Blattner und Jan Voelkel haben vor einigen Monaten den Stand der Forschung zur »affektiven Polarisierung« vorgestellt: und diese nimmt hierzulande zu. »Schaut man auf die Daten, sieht man, dass die politische Abneigung in mehreren Stufen mit dem Entstehen neuer Parteien wuchs. 1983 zogen die Grünen in den Bundestag ein, 1990 die PDS und spätere Linkspartei, 2017 die AfD. Während also ein Teil der Gesellschaft positivere Gefühle für nahestehende Parteien entwickelte, stieg die Abneigung gegenüber politisch Andersdenkenden außerhalb dieses Spektrums.« 

Das hier soll nicht auf das hinreichend kritisierte »Mit Rechten reden« hinauslaufen. Sondern auf die Frage, wie die Art, wie wir existenzielle Problemfragen behandeln, deren Lösungen blockieren können. Veränderungsbereitschaft wird womöglich nicht dadurch verbreiteter, dass man anderen vorhält, was sie für klimaschädliche Dinge tun, sondern indem eine Gesellschaft im Transformationsstress lernt, diesen durch Trauerarbeit abzubauen. Ja, genau: Trauer. Denn ganz egal, welcher Idee man zuneigt, die Produktions- und Konsumweise in planetare Grenzen zurückzuführen, wird dies mit Verlusten einhergehen: an Gewohnheiten, an den Rollen, die bestimmte Erfahrungen und Fertigkeiten in einer Gesellschaft spielen, an alten Statuszugehörigkeiten und vielem mehr. 

Andreas Reckwitz hat den Begriff des Verlustes ins Zentrum seiner soziologischen Zeitdeutungen gestellt und so auch den Blick auf das Nicht-Materielle, auf die politisch gemachte Gefühlswelten gelenkt. Lösungen? Reckwitz schlägt eine veränderte Fortschrittsorientierung vor, die Zukunft neu und anders mit positiven Erwartungen verknüpft; eine, in der die für längere Zeit nicht mehr aufzuhaltenden Folgen der Klimakrise eine Rolle spielen, etwa durch Zentralisierung des Ziels, Resilienz aufzubauen. Im schlechtesten Fall sieht er eine »Verlust-Eskalation moderne Demokratien in eine Systemkrise stürzen, wodurch unklar würde, ob diese sich in der uns bekannten Form erhalten können«. 

Womit wir noch einmal bei den Demonstrationen der Vielen wären: Bringen die was? Friedemann Karig hat an eine Studie über die Proteste in Italien 2020 gegen die rechtsradikale Lega erinnert; ergänzend wurde auf die Forschungsarbeit »The Electoral Effects of Anti-Far Right Protests in Greece« verwiesen. »Lasst euch nicht erzählen, das wären jetzt nur schöne Bilder gewesen.«

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