Klimanotizen 40

2023 war ein Jahr der Rekorde, das ratlose Wissenschaftler zurücklässt und neue, für gelingende Klimapolitik existenzielle Fragen aufwirft. Die Dimension und Komplexität der Herausforderung machen unzählige Studien deutlich. Mit dem Zeitdruck wächst der politische Druck.

#1 Wo stehen wir? Vor einem Berg an Bilanzen für 2023, die sich nur schwer auf einen einfachen Nenner bringen lassen. Etwa für die Bundesrepublik: Einerseits hat die öffentliche Nettostromerzeugung einen Rekordanteil erneuerbarer Energien erreicht (59,7 Prozent) und sind die Emissionen hierzulande deutlich gefallen - andererseits ist das »überwiegend kein klimapolitischer Erfolg«, weil der Haupttreiber dafür »die geringere Industrieproduktion in Folge der fossilen Energiekrise« ist. (Alsbald wird man die Entwicklung in Sachen Energiewende in einem neuen Dashbord nachverfolgen könnten, wie das Science Media Center in seinem Rückblick auf 2023 ankündigt.) Also: Es bewegt sich was, aber es bewegt sich zu wenig und zu langsam in die richtige Richtung. »Die Problemsektoren Gebäude und Verkehr liefern weiterhin keine signifikanten Emissionsminderungen« so Agora - die auch gleich auf den entscheidenden bundespolitischen Knackpunkt zu sprechen kommen: »Nach dem Karlsruher Haushaltsurteil steht die Bundesregierung 2024 nun vor der Aufgabe, die Klima- und Energiepolitik neu aufzustellen und finanziell nachhaltig abzusichern.« Wie die Ampel diese Aufgabe »löst«, wird keine Lösung sein können. Dass die aus der Opposition heraus formulierte Kritik an der Bundesregierung besonders lösungsorientiert ist, lässt sich freilich auch kaum sagen.

#2 Die Folgen tragen zum besorgniserregenden globalen Stand der Dinge bei: 2023 war das wärmste Jahr auf der Erde seit 1850 und hat den bisherigen Rekord 2016 deutlich übertroffen, fasst der Berkeley Earth's 2023 Global Temperature Report die Daten zusammen. »Dies ist das erste Mal in einem Jahr, dass der wichtige Grenzwert von 1,5 Grad Celsius überschritten wird.« Die NASA kommt auf einen globalen Jahresdurchschnitt von plus 1,2 Grad Celsius über dem Durchschnitt ihrer Basisperiode (1951–1980). Die National Oceanic and Atmospheric Administration kommt auf eine durchschnittliche Land- und Meeresoberflächentemperatur für 2023, die 1,18 Grad Celsius über dem Durchschnitt des 20. Jahrhundert  lag, auch dies »die höchste globale Temperatur aller Jahre in der Klimaaufzeichnung der NOAA von 1850 bis 2023«. Auch wenn die Daten  jeweils »mit leicht unterschiedlichen Quellen und Methoden berechnet wurden«, zeigt sich so oder so, »dass das Jahr weltweit mit Abstand das heißeste seit Beginn der Aufzeichnungen war«. Professor Ed Hawkins hat hier in einer Grafik  einige Indikatoren des Klimawandels anschaulich zusammengebracht. Daten zu Waldbränden in 2023 finden sich hier. Erläuterungen zum Stand der Bedrohung von Baumarten (hier) und zum trotz zurückgehender Abholzung möglichen Erreichen des Amazonas-Kipppunktes (hier)  gibt es vom Science Media Center.

#3 »Zwischen 1,34 und 1,54 Grad ist die von sechs unterschiedlichen Datenbanken errechnete globale Durchschnittstemperatur allein 2023 angestiegen«, fasst die FAZ die Datenlage zusammen. »Jeder Monat seit Juni 2023 pulverisierte die bisherigen Rekordtemperaturen um mehr als ein halbes Grad. Über Land lag die globale Durchschnittstemperatur sogar zum ersten Mal mehr als zwei Grad über dem vorindustriellen Niveau.« Und: »Ganz offenkundig haben die Meere in den oberen 2000 Metern so viel Energie aufgenommen wie noch nie beobachtet.« Der als ungewöhnlich bezeichnete 2023er Ausschlag nach oben lässt auch die Forschung teils ratlos zurück: »Wir sehen uns das an und sind ehrlich gesagt erstaunt«, wird Gavin Schmidt vom Goddard Institute for Space Studies zitiert. Und es geht 2024 auch gleich mit ungewöhnlichen Rekordwerten weiter. Robert Rohde vom Berkeley Earth formuliert mit Blick auf 2023 denn auch: »Sehr wahrscheinlich wird niemand, der heute lebt, jemals wieder ein so ›kaltes‹ Jahr erleben.« Das wirft Licht auf neue Probleme und Fragen: Was bedeuten die Rekordwerte des vergangenen Jahres für die Tragfähigkeit der Prognosen und Modelle? Was bedeuten sie für die Debatte um eine mögliche Beschleunigung der globalen Erwärmung und das zunehmende Energieungleichgewicht der Erde? Was folgt daraus für die Zeitlimits einer Klimapolitik, die das Ziel der Bewohnbarkeit des Planeten wenigstens auf einem Stand ähnlich dem jetzigen nicht aufgeben will? 

#4 Welche Studien aus dem Bereich Klimaforschung im vergangenen Jahr am meisten Aufmerksamkeit in den Medien erhielten, stellt Carbon Brief hier vor. Die »Klimareporter« haben sich die Übersicht auch angesehen und fragen am Schluss ihrer Vorstellung: »Auffällig ist, dass es ausschließlich naturwissenschaftliche Studien auf die Liste geschafft haben. Aber Klimaforschung umfasst natürlich mehr. Wie funktionieren soziale Kipppunkte? Mit welcher Klimakommunikation lassen sich Menschen am besten erreichen? Wie kann Gerechtigkeit besser in Klimapolitik integriert werden?« All dies wird in Zukunft nicht leichter zu beantworten sein als bisher; im Gegenteil. Mit dem Zeitdruck wächst der politische Druck. Und einige unumstößliche Wahrheiten gelingender Klimapolitik spielen in den öffentlichen Debatten bisher noch nicht einmal eine angemessene Rolle. Zum Beispiel: Fast alle Emissionspfade, im Zuge derer die Erwärmung bis 2100 auf 1,5 Grad begrenzbar sein soll, gehen von einem vorherigen Overshoot aus - die Temperaturen steigen über den Zielwert, weshalb der Entnahme von CO2 und der so erfolgenden Minderung der Konzentration in der Atmosphäre eine wachsende Rolle zukommt. Das ist physikalisch möglich, die technische Machbarkeit in den erforderlichen Größenordnungen wäre vielleicht auch erreichbar, aber »die Herausforderungen für die wirtschaftliche und politische Durchführbarkeit« bleiben »beträchtlich, nicht zuletzt wegen der grundlegenden Verteilungskonflikte«, wie es vor wenigen Wochen in einer neuen Studie hieß. Auch hierzu haben die »Klimareporter« eine Frage formuliert: »Anschaulich machen das die aktuellen Proteste der Bauern. Sie leisten massiven Widerstand gegen die Abschaffung einer relativ geringfügigen Subvention. Welcher Politiker traut sich da, einen substanziellen Teil des Haushalts für CO2-Entnahmen zur Verfügung zu stellen?« (Siehe oben: noch steht die Bundespolitik weit vor Lösung dieser Aufgabe.)

#5 Fortgesetztes Unterlassen hat jedenfalls Folgen - die sich wiederum auf die Möglichkeit gelingender Klimapolitik auswirken werden. Gerade erst wurde eine Studie für das Weltwirtschaftsforum bekannt, laut der der Klimawandel bis 2050 global zu mehr als 14,5 Millionen zusätzlichen Todesfällen führen und ökonomische Schäden von 12,5 Billionen US-Dollar verursachen könnte. Gesundheitsinfrastrukturen geraten unter Druck, es ist mit langfristigen Krankheiten und damit verknüpfter verminderter Arbeitsfähigkeit zu rechnen. Ressourcen, die dann nicht mehr für Klimapolitik zur Verfügung stehen. »Am teuersten wird es für Asien und Europa. Regionen wie Afrika und Südasien seien aber besonders anfällig für die Auswirkungen des Klimawandels, da sie nur über begrenzte Ressourcen verfügten. Das mindere ihre Fähigkeit, die ökologischen Herausforderungen zu bewältigen und sich an die veränderten Bedingungen anzupassen«, heißt es hier in einem Bericht zu den Berechnungen, in dem auch kritische Stimmen zu diesem zitiert werden und der an  eine Prognose des Europaparlaments erinnert, laut der »bis 2050 im Extremfall mit bis zu 1,2 Milliarden Klimaflüchtlingen zu rechnen sei«. 

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