Klimanotizen 35

Eine neue Studie der Klima-Legende James Hansen sorgt für Kontroversen. Unstrittig bleibt die Umsetzungslücke, die zwischen klimapolitischen Zielen und klimapolitischem Handeln die planetare Krise verschärft. Aber: Ist »Krise« denn überhaupt ein treffender Begriff?

#1 Wo stehen wir? Laut einer neuer Veröffentlichung von James Hansen und anderen wird die globale Erwärmung in den 2020er Jahren plus 1,5 Grad Celsius  und vor 2050 plus 2 Grad Celsius überschreiten. »Die Auswirkungen auf Mensch und Natur werden sich beschleunigen.« Hansen wird hier mit den Worten zitiert: »Die 1,5-Grad-Grenze ist toter als ein Türnagel. Und die 2-Grad-Grenze kann nur durch gezielte Maßnahmen zur Beeinflussung der Energiebilanz der Erde gerettet werden.« Das Papier weist nicht zuletzt auf die Rolle des Rückgangs von Aerosolen und damit des Kühleffekts von Luftverschmutzung sowie das Ungleichgewicht in der Energiebilanz des Planeten hin. Die Veröffentlichung sorgt für Kritik, laut Insideclimatenews könnte sie »die Gräben in der Klimawissenschaftsgemeinde und in der breiteren Öffentlichkeit über die Schwere und drohenden Gefahren der Klimaauswirkungen vergrößern«. Auf der einen Seite mehren sich die auch wissenschaftlich untermauerten Warnungen, »dass der wissenschaftliche Prozess des IPCC zu langsam sei, um der Gesellschaft bei der Entscheidungsfindung im Umgang mit dem sich schnell ändernden Klima zu helfen«. Auf der anderen Seite hagelt es Kritik am neuen Papier von Hansen und Kollegen. Piers Forster wird mit den Worten zitiert, es handele sich dabei um »ein sehr schlechter Sammelsurium«, die enthaltenen Schätzungen zur hohen Klimasensitivität werden als »recht subjektiv« und »nicht durch Beobachtungen, Modellstudien oder Literatur gerechtfertigt« bezeichnet. Kritik kommt auch von einem anderen klimatologischen Schwergewicht: Michael E. Mann wies mit »höchsten Respekt« den Beitrag von Hansen und seinen Co-Autoren als »nicht überzeugend« zurück. »Ich glaube nicht, dass sie ihre Hauptbehauptungen begründet haben, nämlich dass sich die Erwärmung beschleunigt, dass das Wärmeungleichgewicht auf dem Planeten zunimmt, dass Aerosole eine übergroße Rolle spielen oder dass Klimamodelle all das falsch verstehen.«

#2 Vor der COP 28 wird man noch weitere Papiere erwarten können, mit denen die Dringlichkeit zum klimapolitischen Umsteuern unterstrichen werden soll. Doch eignen sich die großen Klimakonferenzen überhaupt als Plattformen von Veränderung? Kritik daran gibt es schon seit langem, nicht nur aber auch aus der Klimabewegung heraus. Tadzio Müller hat es einmal so formuliert: »Wenn ich eine Grafik der globalen Treibhausgasemissionen zeichne, sehe ich, dass die Klimakonferenzen überhaupt keinen Effekt auf die Emissionen haben.« Wolfgang Blau hat vor dem Gipfel in Dubai, der Ende des Monats beginnt, auf einen Punkt hingewiesen, den der frühere britische Klimadiplomate Simon Sharpe im Prospect Magazine ausführlicher erläutert: »Wenn Sie sicherstellen wollen, dass eine Verhandlung keine substantiellen Ergebnisse liefert, stellen Sie die größtmögliche Gruppe von Verhandlungsführern zusammen und geben Sie ihnen dann das ehrgeizigste Ziel zur Diskussion und fügen Sie ein Zieldatum in ferner Zukunft hinzu. Die Chancen stehen gut, dass Sie nirgendwo hinkommen. Und doch ist es im Großen und Ganzen genau das, was die COP-Klimagipfel tun.« Gibt es »einen realistischeren Ansatz bei den globalen Klimaverhandlungen«? Laut Sharpe könnte dieser in der Konzentration auf bestimmte Wirtschaftssektoren bzw. auf weniger auf Ziele und mehr auf Maßnahmen bestehen: »We need a new kind of climate diplomacy«. 

#3 Auf das Problem der »Umsetzungslücke« - siehe dazu auch unseren neuen Text zur Umsetzungslücke linker Politik - blickt auch Sighard Neckel im »Merkur«: Ein Problem der als notwendig erkannten »Großen Transformation« liege in dem ihr inhärenten »Zirkel von Gleichzeitigkeiten«. Da praktisch »alle tragenden gesellschaftlichen Systeme« mit ihren Emissionen »in der Summe« zum Klimawandel beitragen, reagiere die Politik des Klimaschutzes, indem »sie versucht, all diese Systeme gleichzeitig zu verändern«. Was dabei »Regierungen, der Zivilgesellschaft und dem privaten Sektor abverlangt wird«, gehe aber »über alles hinaus, was moderne Gesellschaften bisher an gesellschaftlichem Wandel erlebt haben«. Im Zeichen der Klimakrise »könnten sich der Kapitalismus, der Schutz der ökologischen Lebensgrundlagen und die Demokratie in die Quere kommen, und das eine könnte dem anderen geopfert werden.« Hinzu tritt: »Nicht nur die technische, auch die mentale Infrastruktur wird sich ändern müssen, soll die Große Transformation gelingen. Der Wandel von kulturellen Selbstverständnissen und normativen Wertorientierungen aber braucht seine Zeit und ist noch weniger planbar als alle anderen Veränderungen im Klimajahrzehnt, da er weitgehend eigensinnig verläuft.« Neckel führt das zu einer skeptischen Prognose: Das Dilemma der Gleichzeitigkeit werde sich »aller Wahrscheinlichkeit nach in ein Nacheinander von einzelnem Stückwerk verwandeln. Nicht die planvollen Absichten einer Großen Transformation dürften hierbei die Staffelung von Veränderungsschritten bestimmen, sondern die Durchsetzungschancen der machtstärksten Interessen. Für die Abwendung der Klimakrise wird dies nicht ausreichen

#4 »Hört auf mit dem Klima­wandel«, ruft derweil Christoph Keller der Diskussion zu - und erneuert die Kritik an einem Begriff, der »ganze Kausalletten und damit auch Komple­xi­täten verschleiert«. Stattdessen komme es darauf an, »in radi­kaler Offen­heit zu benennen, was das Problem ist: die fort­ge­setzte, wissent­liche Konta­mi­nie­rung der Atmo­sphäre durch profit­gie­rige Konzerne, die Bürge­rinnen und Bürgern, Konsu­men­tinnen und Konsu­menten keine Alter­na­tive für Fort­be­we­gung und Heizung geboten haben (und weiterhin nicht bieten) als die fossilen Brenn- und Treib­stoffe, um deren Schäd­lich­keit sie erwie­se­ner­maßen seit den 1970er Jahren wissen«. Wir hatten an anderer Stelle bereits auf Kritik verwiesen, die auch »Krise« oder »Katastrophe« für unpassend hält - beide könnten den Charakter und die Dimension der ablaufenden Veränderungen nicht angemessen erfassen. Das ist alles keine Nebensache, nimmt man Bertolt Brechts Diktum ernst, dass Begriffe, die man sich von was macht, sehr wichtig sind: »Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kannDieser Tage ist an Reinhart Kosellecks Ansicht erinnert worden, dass es im Wesen einer Krise liege, »dass eine Entscheidung fällig ist, aber noch nicht gefallen. Und es gehört ebenso zur Krise, dass offenbleibt, welche Entscheidung fällt. Die allgemeine Unsicherheit in einer kritischen Situation ist also durchzogen von der einen Gewissheit, dass ein Ende des kritischen Zustandes bevorsteht.« Trifft das auch auf die Klimakrise zu? Eher nicht. In einem ganz anderen Zusammenhang hat Christian Geulen darauf hingewiesen, dass »fast das gesamte 20. Jahrhundert hindurch« der Begriff der Krise »mehr die Gefährdung des Bestehenden als die Erscheinung eines Neuen beschrieben« habe; also von »einer weitgehenden Unsicherheit darüber, was kommen wird, sowie von der Sorge um eine Rückkehr dessen, was längst überwunden schien« geprägt war. Das sei heute anders: »Die eigentliche Sinnbildung aus den neuen Krisenerfahrungen erfolgt heute fast ausschließlich im Blick nach vorn«, Geulen spricht von einer Neigung, »aktuelle Krisen unmittelbar in die Zukunft hochzurechnen«. Wie man an der Kontroverse um das neue Papier von James Hansen und anderen sehen kann, liegt genau darin ein Kern klimawissenschaftlicher Prognosen - die bei aller Unsicherheit den Rahmen vorzeichnen, innerhalb dessen sich eine Politik der Bearbeitung der Klimakrise zu orientieren und zu bewegen hat.

#5 Indes: »Nicht nur das Klima droht zu kippen«, warnt die »Süddeutsche« anlässlich eines neuen Berichts der UN-Universität, die vor Risikokipppunkten mit irreversiblen Auswirkungen auf Mensch und Planeten warnt - von Weltraumschrott bis zum wachsenden Grundwasser-Problem. »Dem Menschen stellt der Bericht ein schlechtes Zeugnis aus: Planlos gehe er in die Zukunft, vermülle und überhitze den Planeten, breite sich ohne Rücksicht aus, informiere sich nicht genügend, scheue sich vor Regulierungen und lebe und arbeite in Risikogebieten«, heißt es in dem Bericht darüber. So weit, so bekannt. Was die beteiligten Forscherinnen vorschlagen, ist im Grunde auch nicht neu - plädiert wird für eine neue »Geisteshaltung: Man müsse sich klar werden, dass bislang Selbstverständliches womöglich bald nicht mehr selbstverständlich ist«. Menschen sollten sich deshalb mehr darin üben, »ein guter Vorfahre« zu sein: »die Zukunft in die Entscheidungen von heute zu integrieren, um die Menschheit von möglichst vielen Kipppunkten fernzuhalten. Und dort, wo das nicht mehr möglich ist, sie an den riskanteren Zustand anzupassen«. Als Beispiel wird Wales angeführt - dort wurde ein »Beauftragter für die zukünftigen Generationen« eingeführt. So kann sie aussehen: die praktische Sinnbildung im Blick nach vorn.

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