It’s the Infrastructure, stupid

Lindner und Co. weisen »den Bürgerinnen« das Verfehlen der Klimaziele zu. Ist das liberal? Sogar die FDP wusste es einmal besser. Der Weg aus der ökologischen Krise wird auf ermöglichender Infrastruktur gebaut. Aber nicht auf Autobahnen.

Sogar noch ein Jahr vor den »Grenzen des Wachstums«, jenes Berichts des Club of Rome zur Lage der Menschheit, der einen frühen Zeitpunkt im Aufstieg des ökologischen Paradigmas markiert, erschienen 1971 die »Freiburger Thesen«. Dass es sich dabei um Dokument des parteiförmigen Liberalismus handelt, erscheint aus heutiger Perspektive abwegig. Wer nur den gesellschaftspolitischen Denkhorizont der FDP des Jahres 2023 kennt, wird nicht für möglich halten, welche liberale Haltung hierzulande einst sogar Parteiprogramm werden konnte.

»Hemmungsloser technischer Fortschritt und wachsen­der Wohlstand führen zu einer Übernutzung und Zerstörung der Naturgrundlagen: von Boden und Rohstoffen, Luft und Wasser«, hieß es damals in den »Thesen«, Leitgedanke beim Schutz der Umwelt sei der Schutz der Würde des Menschen, »zu den unabdingbaren Menschenrechten gehört das Recht auf eine Umwelt in bestem Zustand«, weshalb Umweltschutz »Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen« haben müsse. Die FDP des Jahres 1971 wusste noch, dass ein »Selbstlauf der pri­vaten Wirtschaft« und die »Tendenz zur Akkumulation von Be­sitz und Geld« zu »negativen Tendenzen« führen, die »Ziele liberaler Gesellschaft« selbst bedrohen, weshalb »es gezielter Gegenmaßnahmen des Staates mit den Mitteln des Rechts« bedürfe.

Die FDP machte damals den Vorschlag, den Artikel 2 des Grundgesetzes um eine Formulierung zu ergänzen: »Jeder hat ein Recht auf eine menschenwürdige Umwelt. Die Natur­grundlagen stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Die Grenze der im Allgemeinin­teresse zulässigen Umweltbelastung wird durch Ge­setz bestimmt.« Die Idee hat sich nicht durchgesetzt, leider. Die FDP war damals ökologisch radikaler, als es der dann schließlich eingeführte Artikel 20a im Jahr 1994 sein sollte: »Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.«

Heute rühmt sich die FDP für die Durchsetzung politischer Vereinbarungen, die nicht nur dem Geist dieses Verfassungsgrundsatzes widersprechen, sondern auch das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichtes von 2021 verhöhnen. Zum freidemokratischen Versuch, das Klimaschutzgesetz zu Lasten der Freiheit künftiger Generationen im Handstreich (und mit sozialdemokratischer Hilfe) auszuhöhlen, ist das letzte Wort sicher noch nicht gesprochen. Einstweilen kann man sich deshalb mit den Argumenten befassen, welche die FDP hierbei in Stellung bringt.

»Es ist nicht Volker Wissing, der die Klimaziele im Verkehr nicht erreicht, sondern die Bürgerinnen und Bürger« seien es, hat Christian Lindner das zentrale dieser Argumente in einer Showsendung vorgestellt, deren Zweck genau das ist: Bühne für die Verkündung parteipolitischer Parolen zu sein. Die beiden FDP-Minister hatten sich vielleicht abgesprochen, klangen jedenfalls ähnlich, denn auch der für den Verkehr zuständige Wissing äußerte sich so: »Nicht das Verkehrsministerium hat die Klimaziele verfehlt, sondern die Gesellschaft insgesamt.«

Ihr im gesellschaftlichen und planetaren Sinne krimineller Versuch, bei einem Rückschritt in der Klimapolitik nicht nur voranzugehen, sondern diesen dann auch noch als Fortschritt zu verkaufen, wurde dabei von beiden Freidemokraten in zwei Varianten noch ergänzt. Lindner erklärt, »die Menschen wollen eben mobil sein«, worin Autofahren ganz in FDP-Denke vor allem als Ausdruck von Freiheit erscheinen soll; Wissing verwies - sinnfälliger Weise vor einem Lobbyverband der Automobilindustrie - auf höhere Preise und damit auf mögliche soziale Belastungen.

Über beide Begründungen könnte man lachen, wenn die Sache nicht so verdammt ernst wäre. Lindner spricht genau so, wie es einem liberalen Vordenker der Zeit der »Freiburger Thesen«, Karl-Hermann Flach, noch politisch gruselte: Es sei natürlich einfacher, »die bestehenden Zustände als im Grunde ideal zu bemessen, das Überkommene zu verehren, der Konfrontation von Theorie und Praxis auszuweichen, die ideologische Verschleierung der bestehende Verhältnisse hinzunehmen«, so Flach 1971 in »Noch eine Chance für die Liberalen«, der dabei »die meisten Menschen« im Blick hatte und sich sorgte: »Es ist nicht auszuschließen, dass der Liberalismus zunächst einmal daran zugrunde geht, dass er zu hohe Ansprüche an seine Verfechter stellt.«

Dieser Punkt ist bei der FDP längst überschritten, was bleibt ist einerseits Farce. Zum Beispiel, wenn ein Wissing sich in die Pose des Schutzes sozialer Belange der lohnarbeitenden, pendelnden, geringe Einkommen habenden Bevölkerungsteile wirft, also der Vertreter einer Partei, die in der Nach-Flach-Zeit beständig versucht hat, die sozialen Belange dieser Bevölkerungsteile unter Druck zu bringen, damit es ein paar Porschefahrer besser haben.

Heutige Porschefahrer, muss man im Lichte des ökologischen Paradigmas ergänzen. Denn in der Klientelpolitik einer vom sozialen, fortschrittlichen Liberalismus entkernten FDP gibt es für eine künftige Klientel keinen Platz. Der wird ohne Geschwindigkeitsbegrenzung auf neuen Autobahnkilometern verheizt. (Die Alltagsrede vom »heizen« als Begriff für »rasen« findet auf Wissings neuen Fahrspuren ihre klimapolitische Pointe; die Partei, die in der populistischen Front der Kritiker eines angeblichen »Heizdiktates« ganz vorn dabei ist, verfolgt ihr ganz eigenes Heizdiktat auf der Autobahn.)

Aber halt, stimmt es denn nicht etwa, was Wissing und Lindner da sagen: dass »die Bürgerinnen und Bürger« bzw. »die Gesellschaft« die Klimaziele nicht erreicht? Ja, das ist so, und es ist zugleich nicht so, die Behauptung ist sozusagen Ideologie, das, was die FDP nicht müde wird, anderen zu unterstellen. Wie auch immer man rechnet liegen die Pro-Kopf-Emissionen hierzulande weit über dem, was für ein sicheres Leben innerhalb planetarer Grenzen zumutbar wäre. Die Emissionen sind sozial sehr ungleich verteilt, aber selbst wenn die obere Hälfte ihre Lebensweise derart verändern würde, dass dabei das Niveau der Pro-Kopf-Emissionen der unteren Hälfte erreicht würden, wäre das noch längst nicht mit dem 1,5-Grad-Ziel kompatibel.

Was überhaupt nicht gegen die Forderung nach Eingrenzung des die biophysikalische Existenzkrise verschärfenden Überkonsums und der emissions-verlängernden Investitionen dieser vermögenden Minderheiten spricht, nur reicht es eben hinten heraus bei weitem nicht, wenn man die planetaren Grenzen im Blick hat und zudem die globalen Ungleichheiten, in deren Raster wiederum große Bevölkerungsteile hierzulande eine Stellung in der oberen Hälfte einnehmen und dort sogar im oberen Teil. Nicht die Letzte Generation, sondern die Bertelsmann-Stiftung hat vorgerechnet, »dass in der Bundesrepublik weniger als 1 Prozent der Bevölkerung derzeit einen 1,5-Grad-kompatiblen CO2e-Fußabdruck hat«.

Und genau an dieser Stelle wird das, was im Hinweis der FDP zum Ausdruck kommt, es seien die Bürgerinnen und Bürger, die die Klimaziele verfehlen, reaktionär. Mit dem Begriff wurden seinerzeit gegenrevolutionäre und die Aufklärung in Abrede stellende Positionen erfasst. Heute sollte man reaktionär auch Positionen nennen dürfen, die faktisch gegen jene »unabdingbaren Menschenrechte« gerichtet sind, welche die FDP noch 1971 kannte und zu denen sie auch »das Recht auf eine Umwelt in bestem Zustand« zählte.

In diesem Sinne wäre es, jeder politischen Maßnahmen, die - übersetzt ins Heute: noch den kleinsten Beitrag zur Dämpfung der biophysikalischen Existenzkrise leisten könnte, einen »Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen« zuerkennen. Die Lindner-Wissing-Freidemokraten machen sich stattdessen mit ihrem Gebaren über entsprechende wissenschaftliche Warnungen lustig, sind nicht einmal dazu bereit, wenigstens kompensatorischen Forderungen wie einem Tempolimit zuzustimmen. Und für all das nimmt man »die Gesellschaft« doppelt in Geiselhaft: als Schuldige und als künftig darunter Leidende.

Selbst wenn man die Äußerungen von Lindner und Wissing vorderhand als Volte politischer Kommunikation ansieht, kommt man stets wieder zu diesem Punkt: Es mag ja im Sinne freidemokratischer Publikumspflege sein, bloß nicht in die Nähe von »Verbot«, »Verzicht«, »Planung« kommen zu wollen, weil man sich daraus den Unterschied zwischen 5 und 8 Prozent in Umfragen erhofft. In einem gesellschaftlichen Sinne bleibt es »objektiv« falsch, mit der Physik wird auch eine sich selbst überhöhende FDP nicht diskutieren können.

Eine Nebenbemerkung: Im Grunde sind Lindner und Wissing nur die Politdarsteller eines Verständnisses von »Liberalismus«, das mit liberalem Denken nur noch den Begriff gemeinsam hat. Ein Begriff, der auch noch dadurch weitgehend nutzlos geworden ist, dass er heute von sich als links Verstehenden gern zur Abwertung anderer Linker gebraucht wird, denen die Einlasskontrolle zum Diskurs das richtige Maß an Linkssein abspricht. Das liberale Elend, wenn man so will, ist nicht allein von der FDP gepachtet.

Wenn Lindner das Verhalten der »Bürger« ins Feld führt und Wissing die »Gesellschaft«, die das Klimaziel verfehlt, erstaunt auf den ersten Blick, dass hier die beiden üblichen freidemokratischen Lieblingsakteure, der überregulierende Staat und der alles richtende Markt, fehlen. Auch wenn allzu offensichtlich ist, dass »Bürgerin« und «Gesellschaft« als billige Ausrede herhalten sollen, ähnlich billig wie der Hinweis auf die 91,3 Prozent der Wahlberechtigten, die die FDP nicht wählen wollten, so bleibt doch interessant und wichtig der Hinweis, dass es neben Staat und Markt noch einen dritten Akteur gibt.

Tatsächlich werden es am Ende »Bürgerin« und »Gesellschaft« sein, die den Alltag einer dem ökologischen Paradigma verpflichteten Produktions- und Lebensweise – nach Möglichkeit demokratisch – gestalten. Und eine sozialökologische Transformation wird in demokratischen Gesellschaften nur gelingen, wenn die Bürger aktive Träger der Umgestaltung werden können. Die Frage, welche Möglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen, ist bereits heute keine unerhebliche. Einem Friedrich Merz, der mit seinem Privatflugzeug zur Hochzeit eines Christian Lindner anreist, stehen weit mehr Möglichkeiten zur Verfügung, die Treibhausgas-Emissionen seiner ganz persönlichen Lebensweise zu verringern als einer, sagen wir, auf dem Lande lebenden Pflegekraft mit einem monatlichen Einkommen im 3. Dezil von unten. Sie zählt, so die bereits angesprochene Bertelsmann-Studie, zu denjenigen Bürgerinnen, die in ihrer Lebensweise in »Lock-In-Emissionen« gefangen sind, weil sie unter den gegebenen Bedingungen keine Möglichkeit haben, ihre Treibhausgas-Emissionen nennenswert zu verringern.

Denn die Deckung der Grundbedürfnisse, der »Basiskonsum«, hierzulande ist noch untrennbar mit fossiler Infrastruktur und Akkumulation fossilen Kapitals verbunden. Politischer Liberalismus könnte nun, im Sinne der Freiburger Thesen, die Frage stellen, was getan werden kann, damit auch diejenigen, die zur unteren Hälfte der Einkommenspyramide zählen, aktiv an der Umgestaltung der Produktions- und Lebensweise mitwirken können, und würde vermutlich bei der staatlichen Aufgabe einer Dekarbonisiserung der Infrastruktur landen. Unser freidemokratisches Duo benutzt aber die nicht vorhandenen Möglichkeiten als Argument, um genau dieses »Gefängnis« einer fossilen Infrastruktur nicht schleifen zu müssen.

Lindner und Wissing mussten eigentlich nicht erst enthüllen, wie sie über das Verhältnis von staatlicher Rahmensetzung und individuellem Klimaverhalten denken. Hinter dem Fingerzeig auf die Bürgerinnen und Bürger soll zum Verschwinden gebracht werden, dass ein planetar verträgliches Leben politische Rahmensetzungen braucht, die zu materiellen gesellschaftlichen Voraussetzungen führen, welche für jede und jeden gleich und frei zugänglich sein müssten, wofür Umverteilung zu sorgen hätte. Oder kurz: It’s the Infrastructure, stupid.

Die Fokussierung auf die Emissionen der »Bürgerinnen und Bürger« stärkt eher jene polarisierenden (und dann meist von rechts bewirtschafteten) Diskurse, in denen Fragen der praktischen Nachhaltigkeit als Auseinandersetzungen um die »richtige Moral«, teils als Distinktionsinstrument, vor allem aber als Streit um individuelle Lebensführung gepflegt werden. Aus ihnen wird so mehr und mehr das Gesellschaftliche herausgeschrieben.

Gegen Veränderungen des persönlichen Klimaverhaltens ist nichts zu sagen, nur ist eine Klimapolitik der Millionen Einzelsubjekte nicht möglich weil sie am Ende unwirksam bleiben muss. Das Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und Projektpartner haben in Berlin einmal die Probe aufs Exempel gemacht und untersucht, wie weit Haushalte bei dem Versuch kommen, ihre Emissionen individuell zu verringern. Ergebnis: Sie konnten diese »im Schnitt um etwa 10 Prozent senken, und das obwohl sie schon zum Projektbeginn im Mittel 25 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt starteten«. Das Experiment verdeutlicht so, »wo die Grenzen des einzelnen Beitrags zum Klimaschutz liegen und politische Rahmenbedingungen gefragt sind, um die Voraussetzungen zu schaffen für einen klimafreundlicheren Alltag«.

Nur so, nur im Zuge von Politiken der Ermöglichung, kann auch individuelle Verhaltensänderung wirksam werden. Wir wissen, »in welch elementarer Weise Menschen voneinander abhängig sind, wie verwundbar soziale Ordnungen werden, wenn sie auf die Herausforderungen von Krisen und Katastrophen nicht mit einer Wiederbelebung von Kooperation und Solidarität reagieren«, schreibt unter anderem Sighard Neckel. Das ist auch, worauf das Klimaurteil des Bundesverfassungsgericht hin verstanden werden sollte: als Ermahnung, endlich Strukturveränderungen anzupacken, umzusetzen, abzusichern.

Das geht nur durch eine staatliche Ordnungspolitik »die materielle Infrastrukturen als öffentliche Güter zur Verfügung stellt, wo privatwirtschaftliche Interessen der Sache des Klimaschutzes entgegenstehen«, wie es Neckel - durchaus im Sinne der »Freiburger Thesen« formuliert. »Gefragt ist mit anderen Worten ein grundlegender Umbau der gesellschaftlichen Grundversorgung und ihrer materiellen Infrastrukturen, um die existenziellen Risiken, die der Klimawandel für die Allgemeinheit darstellt, doch noch abwenden oder zumindest eingrenzen zu können.« Oder, wie es die FDP noch 1971 wusste: Es bedarf »gezielter Gegenmaßnahmen des Staates mit den Mitteln des Rechts« - und nicht deren gezielte Aushöhlung. (haka, tos)

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