Klimanotizen 7

Neue wissenschaftliche Daten deuten auf bevorstehende Klimarekorde hin, steigende Temperaturen, steigendes Risiko. Derweil appellieren Politiker, Wissenschaftlerinnen, Intellektuelle und andere an Olaf Scholz, die gesetzlichen Klimaziele verfassungsgemäß umzusetzen. Ist das Doomismus?

#1 »Es sieht so aus, als würde die aktuelle Entwicklung alle bisherigen Rekorde brechen«, sagt Matthew England - und dass er dies als Klimawissenschaftler an der Universität von New South Wales sagt, zeigt gleich an, dass es sich  keineswegs um eine positive Nachricht handelt: die Durchschnittstemperatur an der Meeresoberfläche lag Anfang April bei 21,1 Grad und damit über dem bisher gemessen Höchstwert von 2016. Nach mehreren Jahren mit La-Niña-Bedingungen im Pazifik, die dazu beitrugen, die die Auswirkungen der Treibhausgasemissionen - steigende Temperaturen - zu dämpfen, deutet sich nun ein El-Niño-Muster im Pazifik an. Damit wächst das Risiko extremer Wetterbedingungen und globaler Wärmerekorde noch einmal an; die Welt werde »wahrscheinlich das Signal des Klimawandels laut und deutlich wahrnehmen«, so der Klimawissenschaftler Mike McPhaden. Sein Kollege England nennt die Rekordtemperaturen an der Meeresoberfläche »das Auftauchen eines Erwärmungssignals, das den Fußabdruck unserer zunehmenden Einmischung in das Klimasystem deutlicher zeigt«.

#2 An solchen wissenschaftlich belegten Warnungen, dass es immer später und damit ernster wird, besteht kein Mangel. Nun haben Politiker, Wissenschaftlerinnen, Geistliche, Intellektuelle und Aktivistinnen per Offenen Brief an Kanzler Olaf Scholz appelliert, mehr zu tun, »um Klima und Ökosysteme wieder zu stabilisieren und insbesondere die sogenannten Kipppunkte zu vermeiden«. Unumkehrbare Kettenreaktionen des globalen Klimasystems »würden das Gesicht der Erde unwiederbringlich verändern. Je länger wir zögern, desto drastischer sind die Konsequenzen unseres Abwartens«. Die über 200 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner der Initiative, zu der Jörg Alt, Katja Diehl, Wolfgang Lucht und Heinrich Stößenreuther den Anstoß gaben, erklären sich »bereit, wirksame Klimapolitik mitzutragen und zu verteidigen«. Dass sich das mediale Interesse vor allem auf die unterzeichnende Politik richtet, hat wiederum damit zu tun, dass deren Mitgliedschaft von CDU bis Linkspartei reicht - noch stets ist jeder inhaltlich getragene Ausbruch aus dem Raster politischer Zugehörigkeiten eine Neuigkeit. Man kann es auch als neuerlichen Hinweis darauf nehmen, dass die organisatorischen Grenzen von politischen Strukturen, die ihre Ursprünge in Zeiten vor dem ökologischen Paradigma haben, heute nicht mehr die real existierenden politischen Grenzen nachbilden. Wie groß die Bereitschaft ist, auf klimapolitischen Realismus zu schalten, also: radikaler zu werden, lässt immer schwerer an der Parteizugehörigkeit ablesen.

#3 Dass der Appell mit der Forderung an den Kanzler endet, gemäß der Eidesformel Schaden von den Menschen abzuwenden, erinnert an Aufrufe an denselben Adressaten im Zusammenhang mit der russischen Aggression gegen die Ukraine. Ein Vergleich der Unterschriftenlisten würde vielleicht zu der Frage führen, warum einige Prominente zwar ihrer Sorge über eine mögliche atomare Extermination Ausdruck verleihen, nicht aber auch ihre Sorge über die biophysikalische Existenzkrise. Wäre letztere etwa nicht so schlimm? Nun lässt sich sagen, und hier wird es sogleich getan, den Weltuntergang heraufzubeschwören sei in Sachen Klimakommunikation gar nicht dienlich, weil Doomismus lähme und so weiter. Aber es bleibt eben doch dabei, was Hans Magnus Enzensberger schon 1973 vorgeschlagen hat: Mit der zentralen »ökologische Hypothese«, derzufolge »der heutige Industrialisierungsprozess, wenn er sich quasi naturwüchsig fortsetzt, in absehbarer Zeit zu katastrophalen Konsequenzen führen wird«, sollte nach Art der Pascalschen Wette umgegangen werden: »So lange die Hypothese nicht eindeutig widerlegt ist, wird es heuristisch notwendig sein, jeder Überlegung, die sich auf die Zukunft bezieht, ihre Aussagen zugrundezulegen.« Oder um es polemisch zu sagen: Mit der Physik lässt sich noch weniger diskutieren als mit Putin.

#4 Apropos nicht diskutieren: Laut neuer Daten des Copernicus Climate Change Service wurde im März 2023 der zweitniedrigste Stand für die Ausdehnung des Meereises in der Antarktis gemessen, diese lag fast 30 Prozent unter dem für den Monat üblichen Durchschnitt. Schon für Februar war in der Antarktis ein Rekordtief gemessen worden. Im Rahmen von Copernicus wird mithilfe von Messungen und Satellitenbildern dokumentiert, wie weit die Auswirkungen der fortschreitenden menschengemachten Erderhitzung bereits sind; als Vergleich dienen Daten aus dem Referenzzeitraum 1991 bis 2020. Weltweit war der vergangene März demnach der zweitwärmste seit Beginn der Aufzeichnungen; vielerorts wurden neue Temperaturrekorde gemessen und es zeigten sich auch zunehmende Wetterextreme.

#5 Und noch eine: Laut einer Studie haben sich in den vergangenen Jahren fünf langlebige, ozonabbauende Fluorchlorkohlenwasserstoffe FCKW immer stärker in der Atmosphäre angereichert. Aber waren die nicht 2010 im Rahmen des Montrealer Protokolls weltweit verboten worden? Ja, aber hierbei handelt es sich offenbar um Emissionen vor allem aus Prozessen, die bisher nicht von den Regeln des Montrealer Protokolls kontrolliert werden. Die Forscherinnen und Forscher schreiben zwar, dass die erwarteten Auswirkungen dieser Emissionen auf die Erholung des stratosphärischen Ozons gering seien - es müssten allerdings »die Auswirkungen der Emissionen dieser FCKW auf das Klima berücksichtigt werden«. Die Deutsche Presse-Agentur schreibt zu der Studie: »Die fünf Substanzen haben den Angaben zufolge eine atmosphärische Lebensdauer von 52 bis 640 Jahren - schaden der Ozonschicht also über lange Zeiträume. Den Studienergebnissen zufolge entsprach die Gesamtemission der fünf FCKW im Jahr 2020 dem Äquivalent von 4.200 Tonnen FCKW-11, dem am zweithäufigsten vorkommenden Fluorchlorkohlenwasserstoff. Beim Erwärmungseffekt gehen die Autoren von 47 Millionen Tonnen CO2 aus - was 150 Prozent der CO2-Emissionen Londons im Jahr 2018 entspreche.«

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