Vom Schlimmsten ausgehen

Ist »Endzeitdenken« nützlich? Das wissenschaftliche Interesse an möglichen Zeitdimensionen und Verlaufsformen denkbarer Katastrophen hilft bei der politischen Bearbeitung des Kommenden.

Bei den Debatten um die Klimakrise gibt es ein Hintergrundgeräusch, das manchmal auf die Vorderbühne drängt: Wohin kann das alles in naher Zukunft führen und was würde das für das Agieren im Hier und Jetzt bedeuten? Überdrehen jene, die von der Möglichkeit der großen Katastrophe sprechen? Welche Vorstellungen haben wir von der möglichen Dimension der planetaren Überlebensfrage?

Im Zusammenhang mit Lützerath etwa ist den Protestierenden berechtigterweise zugeschrieben worden, sie würden die Überzeugung vertreten, »dass jedes weitere Verbrennen von Kohle das ›Überleben auf diesem Planeten‹ gefährde«. Auf solche Positionieren spielt an, wer wie Armin Nassehi »die endzeitliche Begründung, gegen die kein Argument mehr ankommt«, als »das Verstörendste« an einem Teil der Klimabewegung ansieht. »Die unmittelbar bevorstehende Implosion des Ganzen, von dem die Aktivisten sprechen«, bediene »endzeitlichen Erwartungen«; über »die letzten Dinge« könne man aber nicht verhandeln.

Es soll im Folgenden weniger um die Frage gehen, ob die hier zitierte Beschreibung der Klimabewegung richtig ist, ebensowenig, ob die Anrufung des Allerschlimmsten zu erfolgreicher Klimakommunikation beiträgt oder Veränderung eher blockiert. Sondern es soll um die Möglichkeit der Katastrophe und ihre Verlaufsform gehen. Auf dieser Ebene macht es einen Unterschied, was man unter einer Implosion versteht, welche Zeitdimensionen von Zerfall man für möglich hält oder ob man eine ganz andere Vorstellung von den katastrophischen Entwicklungen hat, die in den Bereich des wissenschaftlich Denkbaren fällt.

Anders Levermann, Physikprofessor und Leiter des Bereichs Komplexitätsforschung am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, hat unlängst an »eine physikalische Wahrheit« erinnert, die »unabhängig von der Temperatur« gilt, auf die man sich politisch geeinigt hat: »Wenn wir die Temperatur des Planeten stabilisieren wollen, müssen wir also komplett aufhören, Kohle, Öl und Gas zu verbrennen, um die Treibhausgasemissionen zu stoppen.« Und weiter: »Diese Wahrheit gilt sogar, wenn man rücksichtslos auf vier oder sogar fünf Grad Temperatur-Erhöhung zielt, was für viele Menschen auf dem Planeten gefährlich wäre und unsere Demokratien wahrscheinlich an den Rand des Zusammenbruchs treiben würde. Auch wenn man eine solche enorme Erwärmung zulassen würde, müsste man zu einem bestimmten Zeitpunkt auf netto null Emissionen.«

Wissenschaftlich sicher ist, dass ohne Reduzierung der Treibhausgase auf Null die Temperatur des Planeten nicht stabilisiert werden kann. Nur von Prognosen und Szenarien lässt sich erfassen, wie sich der Ausstoß von Treibhausgasen entwickelt, welche sonstigen Einflussfaktoren eine Rolle für die Entwicklung der Temperatur haben und wohin das führt. Auf der einen Seite wird die Auffassung vertreten, die Einhaltung des politisch gesetzten 1,5-Grad-Zieles sei praktisch nicht mehr zu erreichen; auf der anderen wird darauf hingewiesen, die schlimmsten Temperaturszenarien, »die vor kurzem noch plausibel erschienen, erscheinen jetzt viel weniger plausibel«, wie David Wallace-Wells es im vorigen Oktober formuliert hat.

Freilich ergänzte er: »Zweitens, und das ist ebenso wichtig, liegen die wahrscheinlichsten Zukunftsaussichten immer noch jenseits von Schwellenwerten, die lange Zeit als katastrophal galten, was ein Scheitern der globalen Bemühungen um eine Begrenzung der Erwärmung auf ein ›sicheres‹ Niveau bedeutet. Da wir jahrzehntelang nur minimale Maßnahmen ergriffen haben, haben wir diese Chance vertan. Vielleicht noch besorgniserregender ist, dass die Erwärmung selbst auf relativ moderatem Niveau immer gravierender und schwieriger zu steuern zu sein scheint, je mehr wir über sie erfahren.«

Im vergangenen Spätsommer ist darüber diskutiert worden, ob wir genug über Endzeit-Szenarien und deren Wahrscheinlichkeit wissen. Dass dies unter anderem von führenden Klimaforschern wie Hans Joachim Schellnhuber und Johan Rockström in einer Fachzeitschrift infrage gestellt wurde, sorgte für Aufmerksamkeit. »Drei Grad sind die rote Linie, ab der der Klimawandel überhaupt nicht mehr beherrschbar sein dürfte. Und leider könnte diese Linie überschritten werden. Drei bis fünf Grad bedeuten das ›Climate End Game‹«, so Schellnhuber in einem Interview zu besagter Veröffentlichung und in dieser: »Sich einer Zukunft mit beschleunigtem Klimawandel zu stellen, ohne die schlimmsten Szenarien zu bedenken, ist bestenfalls naives Risikomanagement und schlimmstenfalls fatal töricht.« Kolleginnen wie Daniela Jacob, Direktorin des German Institute for Climate Services, sagte zu den Äußerungen in den »Proceedings«, dass man im Dialog mit der Öffentlichkeit mit solchen Endzeit-Szenarien nicht weiterkomme, »wenn man noch nicht weiß, was genau auf einen zukommen kann, wann das passieren könnte und was man tun muss, um das Schlimmste zu verhindern«.

Das eine widerspricht dem anderen aber nicht, weshalb eine auf die Dimension der Klimakommunikation beschränkte Diskussion nicht weit bringt. Es geht vielmehr um eine weitere Frage: Was wissen wir über die mögliche Katastrophe? Welche Vorstellungen gibt es davon schon, welche Theorien? Auf der naturwissenschaftlichen Seite ist man da zweifellos schon weiter. In Reaktion auf »Climate Endgame: Exploring catastrophic climate change scenarios« wurde berechtigt darauf hingewiesen, dass »die mit großem Abstand meisten wissenschaftlichen Studien« Klimafolgen bei extremen Erwärmungsszenarien untersuchen. Eines der Hauptmotive der Autorinnen um Rockström und Schellnhuber war aber, den Blick über den biophysikalischen Horizont auf soziale Zusammenhänge zu erweitern: »Wie anfällig sind menschliche Gesellschaften für durch den Klimawandel ausgelöste Risikokaskaden, zum Beispiel durch Konflikte, politische Instabilität und systemische Finanzrisiken?« Und: »Wie können diese vielfältigen Erkenntnisse - zusammen mit anderen globalen Gefahren - sinnvoll zu einer ›integrierten Katastrophenbewertung‹ zusammengeführt werden?«

Auch hier geht es um zwei Perspektiven: Beziehen die Prognosen der Klimawissenschaft hinreichend die gesellschaftspolitische Plausibilität ihrer Annahmen für die unterschiedlichen Szenarien mit ein? Das hat vor anderthalb Jahren eine Studie des Exzellenzclusters »Climate, Climatic Change, and Society« bezweifelt. Es sei »derzeit nicht plausibel«, hieß es seinerzeit, dass die 1,5-Grad-Grenze eingehalten und die globalen Gesellschaften bis 2050 nachhaltig dekarbonisiert werden könnten. »Das liegt weniger an den technisch-naturwissenschaftlichen Faktoren; die sind weitestgehend da. Es fehlen vor allem die Voraussetzungen und nötigen Entwicklungen in der Gesellschaft. Es ist zurzeit nicht realistisch zu erwarten, dass die gesellschaftlichen Bedingungen die nötigen Veränderungen tragen«, so die Hamburger Soziologieprofessorin Anita Engels zum »Hamburg Climate Futures Outlook« des Exzellenzclusters. Man analysiere, »welche gesellschaftlichen Treiber den Wandel ermöglichen und motivieren. Wir nutzen diesen neuen Analyserahmen, um die vorhandenen Daten mit Blick auf die notwendige Dekarbonisierung systematisch zu bewerten.«

Selbst bei konservativer Betrachtung wird man kaum sagen können, dass sich diese gesellschaftlichen Bedingungen seither bedeutsam zugunsten der klimapolitischen Ziele verbessert hätten. Hier schließt sich die zweite Perspektive an: Welche Vorstellungen von der Katastrophe, eines »Climate Endgame« haben wir überhaupt? Wie lange dauert so eine »Implosion«, gibt es dann noch Notausgänge, auf welche regionalen Maßstäbe bezieht sich der Katastrophenbegriff, und ab wann sprechen wir überhaupt davon? Gibt es denen einen großen Knall, wie man es aus der Filmindustrie kennt? Oder geht es auch hier um sich dynamisch entwickelnde Trends mit sozialen Kipppunkten, regional ausdifferenzierte Überschreitungen von Grenzen der Klimaanpassung, deren Folgen aber nicht regional begrenzt bleiben?

Carsten Kaven hat bereits 2020 »Die Ordnung des Zerfalls« in den Blick genommen und über mögliche »Verlaufsformen im Angesicht ökologischer Krisen« nachgedacht. »Wenn ich nach der Struktur von Zerfallsprozessen frage, will ich damit keinem Determinismus das Wort reden. Nichtsdestotrotz scheint mir dies ein vernachlässigtes Thema zu sein«, so Kaven: »Wie kann man sie dann genauer fassen? Welche Verlaufsmuster lassen sich aus bisherigen Erfahrungen bilden? Mit welchen gesellschaftlichen Folgen ist zu rechnen, wenn der Druck auf zentrale Elemente des sozialen Lebens (Habitat, Subsistenz, Sicherheit) dauerhaft wird? Welche Ordnung besitzen Prozesse gesellschaftlicher Desintegration im Zuge kommender ökologischer Krisen?«

Über die Begriffe Katastrophe und Zerfall sowie die dazu in der sozialwissenschaftlichen Literatur bereits formulierten Annahmen führt Kaven durch die Materie: Niklas Luhmanns Differenzierungsformen und die Frage des Rückfalls, Walter L. Bühl Kaskade des Systemabfalls, Joseph A. Tainters Grenzen, ein erreichtes Komplexitätsniveau aufrechtzuerhalten, Jared Diamonds Bedingungen für Zerfallsprozesse, Norbert Elias’ Prozess- und Figurationstheorie sowie der Verlust von Kontrolle, die katastrophensoziologischen Modelle von Lars Clausen und Wolf Dombrowsky sowie schließlich Christopher L. Dyers Konzept der unterbrochenen Entropie.

Anschließend daran geht Kaven seiner Frage nach der Ordnung eines Zerfallsprozesses nach und entwirft ein eigenes Modell, das aus vier Phasen besteht, die von Transitionen verbunden sind. Bezogen wird die Skizze in erster Linie auf Länder des sogenannten globalen Nordens. Die Pointe ist, dass es sich bei den Phasenmodell nicht um einen einmaligen Vorgang mit einem Höhepunkt handelt. Sondern Kaven geht von einer Sequenz aus seinen vier Phasen aus, »welche sich vielfach wiederholen wird«. Gesellschaften werden also »durch die wiederkehrenden Folgen ökologischer Krisen in ihrer Stabilität betroffen«, die sich aneinanderreihenden »Sequenzen werden durch Ergebnisse vorheriger Durchläufe verstärkt«.

Das Modell biete »die Möglichkeit, das Katastrophische eines sozialen Zerfalls als Prozess zu begreifen. Es löst sich von punktuellen, ereignishaften Vorstellungen, die üblicherweise mit dem Begriff der (ökologischen) Katastrophe verbunden sind« und beschreibt die Potenz eines Zerfalls auf Raten. Es geht also nicht um eine »unmittelbar bevorstehende Implosion des Ganzen«, sondern um eine Katastrophe, die längst stattfindet, die weiter andauern wird, auch wenn über deren weitere Entwicklung nur begrenzt Prognosen möglich sind. Was im globalen Süden schon weiter vorangeschritten ist, wird auch im globalen Norden in zunehmendem Maße wirken.

Damit ist nicht gesagt, das eine Implosion, gedacht als Kipppunkt zwischen Überleben und Aussterben, unmöglich ist, Kavens beschreibt modellhaft einen Weg dorthin und eröffnet damit Perspektiven, unter sich wahrscheinlich zunächst eher deutlich verschlechternden Umständen doch noch erfolgreich die  biophysikalische Existenzkrise zu bearbeiten. Die kommenden biophsyikalischen Kipppunkte sorgen für mehr Dynamik mit ungewisser Wirkung, sie können Trends beschleunigen, die zur Überschreitung sozialer Kipppunkte führen, je nach Entwicklungsverlauf wird so das Gegensteuern immer größere Ressourcen beanspruchen, die wiederum im Gesamtsystem an anderer Stelle fehlen. Schutzwälle gegen Hochwasser und Kühlzonen in überhitzten Städten werden nicht ausreichen, genauso wäre über jene Dämme und die Schwierigkeiten ihrer Errichtung zu diskutieren, mit denen »rückläufige Modernisierung« verhindert werden kann, also Gefahren für Demokratie, erreichten zivilisatorischen Fortschritt, die Möglichkeiten von Kooperation zwecks Durchsetzung von Politiken der Gleichheit und Freiheit etc.

Schon 1973 bezeichnete es Hans Magnus Enzensberger als »offenbar unklar, was als ›Umweltkatastrophe‹ gelten soll. In dieser Hinsicht lassen sich verschiedene Erwartungs- oder Befürchtungshorizonte unterscheiden«, aufgezählt werden begrenzte Störungen in (physiologischen, klimatischen, gesellschaftlichen und politischen) Teilbereichen, ein mögliches Ende der auf Industrialisierung beruhenden Gesellschaftsformen sowie das Aussterben der menschlichen Spezies und das Erlöschen einer ganzen Reihe von Arten. »Ausschlaggebend für diese Differenzen ist natürlich die Frage, inwieweit der Prozess der ökologischen Zerstörung und Ausplünderung als irreversibel anzusehen ist.« Solange aber die Möglichkeit einer umfassenden Überlebenskrise, eines Climate Endgame »nicht eindeutig widerlegt ist, wird es heuristisch notwendig sein, jeder Überlegung, die sich auf die Zukunft bezieht«, diese Möglichkeit zugrundezulegen.

Hier könnte »Endzeitdenken« in einer anderen Weise ansetzen, als Nassehi es im Sinn hatte: als wissenschaftliches Interesse, mehr über die möglichen Zeitdimensionen und Verlaufsformen denkbarer Katastrophen zu erfahren, weil nur so Zukunft nicht dem Reich der Mythen überantwortet wird, sondern auf der Ebene der Geschichte und damit gestaltbar bleibt - auch wenn die Aussichten aufgrund politischer Unterlassungen der Vergangenheit sehr kritisch sind. Genau deshalb sollte man diese Unterlassungen nicht wiederholen. (tos, haka)

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