»Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben« (1971)
Der über Jahrhunderte dauernde Raubbau an der Natur müsse aufhören, forderte die FDP 1971 in ihrem neuen Programm. Gewinnsucht auf Kosten der Umwelt solle hart bestraft werden, Schädigung der Natur sei kriminelles Unrecht. Aus dem Archiv linker Debatte.
// Umweltpolitik antwortet auf eine Herausforderung der Industriegesellschaft. Bevölkerungszunahme, Verstädterung und Zersiedlung, hemmungsloser technischer Fortschritt und wachsen der Wohlstand führen zu einer Übernutzung und Zerstörung der Naturgrundlagen: von Boden und Rohstoffen, Luft und Wasser. Der Lärm wird besonders in Verdichtungsräumen unerträglich; Umweltchemikalien drohen unsere Nahrungsmittel zu vergiften. Die Umweltkrise ist weltweit. Sie bedroht auch uns und unser Land. Der über Jahrhunderte dauernde Raubbau an der Natur muß aufhören. Auch für künftige Generationen müssen noch Rohstoffe, frische Luft und reines Wasser vorhanden sein. Die Aufnahmefähigkeit der Natur für Abfälle und andere Umweltbelastungen ist begrenzt.
Die soziale Marktwirtschaft hat wirksame Mittel und Möglichkeiten, die Umweltkrise zu bekämpfen. Leitgedanke ist dabei der Schutz der Würde des Menschen. Daß heißt: Zu den unabdingbaren Menschenrechten gehört das Recht auf eine Umwelt in bestem Zustand.
Umweltpolitik ist Gesellschaftspolitik und geht jeden Bürger an. Der Staat allein kann die Umweltprobleme nicht lösen. Umweltpolitik wird nur auf der Grundlage eines neuen Umweltbewußtseins Erfolg haben können. Umweltschutz kann sich auch nicht nur auf die Abwehr bereits eingetretener Umweltschäden beschränken. Umweltschutz erfordert eine auf lange Sicht angelegte Umweltplanung. Notwendig ist eine ständige Berücksichtigung von Umweltfaktoren in allen Entscheidungen der Wirtschaft und öffentlichen Hand. Auf technischen Fortschritt und Wirtschaftswachstum braucht dabei nicht verzichtet zu werden. Die Leistungskraft unserer Volkswirtschaft wird aber in Zukunft danach beurteilt werden, ob es gelingt, mit marktgerechten Mitteln umweltfreundliche Verfahren und Produkte durchzusetzen.
Umweltpolitik verlangt Umdenken und Nachdenken. Liberales Ziel ist es, jedem Bürger die für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden notwendige Qualität seiner Umgebung zu sichern. Deshalb muß Umweltpolitik den gleichen Rang erhalten wie soziale Sicherung, Bildungspolitik oder Landesverteidigung.
These 1: Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen. Umweltschädigung ist kriminelles Unrecht. Art. 2 GG ist wie folgt zu ergänzen: »Jeder hat ein Recht auf eine menschenwürdige Umwelt. Die Naturgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Die Grenze der im Allgemeininteresse zulässigen Umweltbelastung wird durch Gesetz bestimmt.«
Erläuterung: Die Menschenwürde wird heute zunehmend auch durch Zerstörung der Umwelt bedroht. Die vorgeschlagene Grundgesetzänderung schafft ein Grundrecht auf menschenwürdige Umwelt (»Umwelt in bestem Zustand«), schützt die Naturgrundlagen und erschwert über das unvermeidliche Maß hinausgehende schädliche Nutzungen der Umwelt. Der Schutz der Freiheit der Person wird zu einem sozialen Gestaltungsrecht weiterentwickelt.
Ebenso wie Brandstiftung gehört Umweltschädigung zu den gemeingefährlichen Straftatbeständen. Dies muß in der Novellierung des Strafrechts seinen Niederschlag finden. Gewinnsucht auf Kosten der Umwelt muß hart bestraft werden. Verhängte Geldstrafen müssen auf jeden Fall über dem Gewinn liegen, der durch Unterlassung von Umweltschutzmaßnahmen erzielt wurde.
Lebens- und gesundheitsgefährdende Produktionsmethoden müssen durch administrative Standards und Kontrollen nach Art eines »Lizensierungsverfahrens« geregelt werden. Nichteinhaltung dieser Auflagen führt zu strafrechtlichen Sanktionen und zivilrechtlicher Gefährdungshaftung.
Veraltete Anlagen, deren Schutztechniken nicht mehr den geforderten Standards entsprechen, müssen nach Fristsetzung an gepaßt werden. Der Vorbehalt der wirtschaftlichen Zumutbarkeit kann nicht auf Kosten der Volksgesundheit geltend gemacht werden. In Grenzfällen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit greift das Gemeinlastprinzip ein.//
aus: Freiburger Thesen zur Gesellschaftspolitik der Freien Demokratischen Partei, beschlossen auf dem Bundesparteitag in Freiburg vom 25./27. Oktober 1971.