Die Art und Weise verändern, wie wir leben

Wie individuelle Verhaltensänderungen maßgeblich zur Bewältigung der Umweltkrisen beitragen können und was die Politik dazu an Erleichterung, Anreiz und Forderung beitragen müsste, ist Gegenstand eines aktuellen Sondergutachtens des Sachverständigenrates für Umweltfragen.

Update 17. Juli: Das Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen, das empfiehlt, umweltfreundliches Verhalten durch entsprechende politische Rahmenbedingungen zu erleichtern, liegt jetzt auch als Unterrichtung dem Parlament vor.

Für die rechtskonservative NZZ ist es eine »Anleitung zur Entmündigung«, der »Cicero« wähnt, dass die » Bundesregierung mal wieder einen Anschlag auf die eigene Bevölkerung plant«: Anfang Mai hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen mit einem Sondergutachten die Politik in die Pflicht genommen, umweltfreundliches Individualverhalten zur erleichtern.

»Lange Zeit lag der Fokus der Umweltpolitik vor allem auf umweltfreundlichen und effizienten Produktionsprozessen und dem Ausbau erneuerbarer Energien«, heißt es in der 222-seitigen Expertise. So wichtig diese Maßnahmen seien, »sie reichen nicht aus, um die Überschreitung ökologischer Belastungsgrenzen zu verhindern.« Die »vielfältigen Umweltkrisen unserer Zeit« ließen sich nur bewältigen, »wenn wir die Art und Weise verändern, wie wir leben – also wohnen, konsumieren, uns fort­ bewegen und ernähren.« Hier liege eine wesentliche »Aufgabe der Politik, durch entsprechende Weichenstellungen umweltfreundliches Verhalten zu erleichtern, anzureizen und auch einzufordern«.

Das Sondergutachten erhielt eher wenig mediale Öffentlichkeit, was in zweifacher Hinsicht bemerkenswert ist: Auf der einen Seite passt es als Erregungsanlass, siehe die oben genannten Beispiel, der klimapolitischen Abwehrfront eigentlich ins propagandistische Konzept; auf der anderen konnte man vor dem Hintergrund der Stimmungsmache gegen das »Heizdiktat« erwarten, dass von FDP bis »Bild« auch alle auf das Sondergutachten aufspringen. Womöglich gibt es so etwas wie Sättigungsgrenzen im öffentlichen Empörungsraum; oder das ausführliche Papier wurde für zu lang und differenziert empfunden, um daraus noch mehr Stimmungskapital zu schlagen.

»Viele verbreitete Verhaltensweisen verschärfen die heutigen Umweltprobleme. Umgekehrt können Verhaltensänderungen maßgeblich zur Bewältigung der Umweltkrisen beitragen. Jedoch geben die heute bestehenden, auch von der Politik gesetzten Rahmenbedingungen oft keinen Anreiz für umweltfreundliches Verhalten oder erschweren dieses sogar.« Hier setzen die Hinweise auf den Stand der Forschung sowie die politischen Empfehlungen des Umweltrates an. Das Sondergutachten erläutert zunächst, »welche Rolle das Verhalten der Bevölkerung für die Schädigung der Umwelt spielt und wann es aus umweltpolitischer Sicht geboten ist, politische Maßnahmen zu ergreifen, die Veränderungen des Verhaltens zum Ziel haben«.

Danach werden verschiedene Faktoren, die menschliches Verhalten beeinflussen, und entsprechend unterschiedliche Ansätze diskutiert, um Veränderungen hin zu umweltfreundlichen Verhaltensweisen zu fördern. Sodann geht es um »die Akzeptanz in der Bevölkerung, parteipolitische Präferenzen für bestimmte Instrumente, der Widerstand organisierter Interessengruppen und institutionelle Restriktionen«, bevor das Sondergutachten anhand von »drei Fallbeispielen aus den Bereichen Ernährung, Nutzungsdauer von elektronischen Geräten und Gebäudewärme« zeigt, »wie adäquate Instrumente ausgewählt, kombiniert und eingeführt werden könnten«.

Das Sondergutachten nimmt seine Antworten auf die oben zitierte »Kritik« an politisch geförderten Verhaltensänderungen bereits vorweg. »Teilweise wird argumentiert, dass eine staatliche Einflussnahme auf umweltschädigende Verhaltensweisen der Bürger:innen einen illegitimen Eingriff in die Freiheit darstellt. Richtig ist, dass umweltpolitische Maß­ nahmen die Freiheit beschränken können. Bei der Beurteilung dieser Beschränkung sollte aber beachtet werden, dass auch die vom Menschen in Gang gesetzten Umweltveränderungen zu einer Bedrohung für die Freiheit werden, etwa für das Grundrecht auf Leben und Gesundheit.« Damit »eine faire Verteilung dieser Einschränkungen auch zwischen den Generationen gelingen« könne, seien »weitreichende Veränderungen von umweltrelevanten Verhaltensweisen« unabdingbar - freilich: neben anderen klimapolitisch wirksamen Maßnahmen.

Der Vorzug des Sondergutachtens liegt nicht allein darin, einen Elefanten im politischen Raum zu adressieren, sondern auch in der Fülle des vorgestellten wissenschaftlichen Materials, das zur Grundlage von differenzierenden Diskussionen über Verhaltensänderungen allemal besser geeignet wäre als wutbewirtschaftende Ressentiments gegen »Verzichtspropaganda«. Die versammelten Erkenntnisse öffnen Räume, das Wechselspiel zwischen individuellem Verhalten und staatlichen Maßnahmen besser zu verstehen und damit auch politische Möglichkeiten der Förderung von Selbstwirksamkeit und Eigeninitiative - statt ausschließlich auf »den Staat« als Lieferanten von Klimapolitik zu warten, dessen Maßnahmen dann regelmäßig in den parteipolitischen und von Interessen angetriebenen Konfliktmühlen kleingemahlen werden.

Eine gute Zusammenfassung der Botschaften des Sondergutachtens gibt es bei den Klimareportern unter der Überschrift: »Die Freiheit zu mehr Umweltfreundlichkeit« oder auf dem Portal »Klimafakten«. Auch die »Süddeutsche« hat über das Papier berichtet. Darauf, dass die Expertise auch etwas gedankliche Abkühlung in die erhitzte Diskussion über das Gebäudeenergiegesetz bringen könnte, etwa zur »Frage, ob Menschen Steuerung über Preise oder Verbote lieber ist«, hat Jonas Schaible hingewiesen. Eine sehr ausführliche Kommentierung aus wissenschaftlicher Perspektive hat das »Science Media Center« zusammengetragen, wo die Umweltpsychologen Gerhard Reese und Andreas Ernst, Cornelia Betsch vom Planetary Health Action Survey sowie Lukas Fesenfeld und Tobias Gaugler (zum Thema Fleischkonsum) bzw. Immanuel Stieß und Lamia Messari-Becker (zum Thema Gebäudesanierung) zu Wort kommen. (tos)

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