Polanyi und die Maßstäbe einer guten linken Erzählung

Eine Transformation, die diesen Namen verdient, müsste tiefgreifend verändern und bedarf deshalb einer Idee, »die die Massen ergreift«, die also mobilisiert, weil sie Wünschbares als Vorstellbares und Machbares erzählt. Eine Skizze von Karl Polanyi aus dem Jahr 1943 - aktuell gelesen.

Der Begriff der Transformation nimmt heute in den Diskussionen über die möglichen Wege zur Bewältigung der »gestörten Naturverhältnisse« neben dem der Nachhaltigkeit den zentralen Platz ein. Auf der Linken wird ihm meist ein »sozial-ökologisch« vorangestellt, oft wird auch von der »Großen Transformation« gesprochen. Uli Brand hat darauf hingewiesen, dass der Gebrauch des Begriffs sehr häufig »einen entscheidenden Impuls« bei Karl Polanyi übergeht, auf den die Idee einer »Großen Transformation« zurückgeht: Es gehe »um eine mittels konkreter Interventionen und Konflikte zu erreichende tiefgreifende Transformation gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen sowie der damit verbundenen Kräfteverhältnisse«.

Das unterscheidet Transformation etwa von »Modernisierung«, unter die Frank Adloff und Sighard Neckel jene Politiken fassen, die anstreben, durch »technologische und soziale Innovationen die Ökobilanz moderner Gesellschaften so entscheidend zu verbessern, dass die Tragfähigkeit des Planeten nicht länger überfordert wird«, ohne allerdings bestehende Strukturen der modernen Gesellschaft zu verändern. Eine ähnliche Systematisierung von Carsten Kaven, der Transformation von Konversion unterscheidet, hatten wir hier aufgegriffen.

Polanyi, ungarisch-österreichischer Wirtschaftshistoriker und Sozialwissenschaftler, hat 1944 in »The Great Transformation« den tiefgreifenden Wandel westlicher Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert untersucht und als ein Kernelement des Wandels die Verselbständigung der Wirtschaft gegenüber der Gesellschaft im Wechselverhältnis mit der Herausbildung von Nationalstaaten ausgemacht. Die »Entbettung« des Marktes im Kapitalismus, seine Verselbstständigung gegenüber natürlichen und gesellschaftlichen Grundlagen, sei, so unter anderem Philipp Ther,  von Anfang an auf Gegenkräfte gestoßen, die auf dessen Regulierung ausgerichtet waren. Diese »Doppelbewegung«, das »Polanyische Pendel«, schlägt allerdings nicht politisch richtungslos aus, sondern die Gegenbewegung könne nach rechts oder links gerichtet sein.

2011 griff auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Veränderungen den Begriff der »Großen Transformation« auf, um einen »Gesellschaftsvertrag« hin zu einem klimaverträglichen Umbau einzufordern. Wolfgang Sachs hat kritisiert, dass das Gutachten hinter Polanyis Intentionen zurückbleibe, »auch wenn man die umweltpolitische Exzellenz des Gutachtens anerkennt«. Der würde sich »im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass unter ›seinem‹ Titel ein Buch veröffentlicht wird, welches das Marktsystem nicht infrage stellt«. Die Große Transformation im Verständnis des Beirates komme »ungleich evolutionärer, ja modernistischer, auch machbarkeitsseliger daher als das große Vorbild. Dagegen zeigt Polanyi die Moderne als Geschichte von Niederlagen, Kämpfen und Fortschritten«.

Ob jene politischen Strömungen, die im Anschluss an Polanyi nach möglichen Wegen zu einem »sozial-ökologischen Umbau« suchen, auch dem Anspruch gerecht werden können, solche tiefgreifende Veränderung gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen zu erreichen, dazu wird heute nicht selten eine wirksame, mobilisierende, überzeugende »Erzählung« zur Voraussetzung erklärt.

Gemeint ist nicht weniger als: eine Idee, »die die Massen ergreift«, die also mobilisiert, weil sie Wünschbares als Vorstellbares und Machbares erzählt. Das wiederum gelingt nur, wenn eine solche Erzählung die Wirklichkeit, wie sie sich vom Standpunkt des »einfachen Bürgers« darstellt, aufnimmt und die in der Realität steckenden Möglichkeiten freilegt. Anders gesagt: Die Große Transformation kommt dann so richtig in Gang, wenn die Erzählung Menschen in großer Zahl  aktiviert, zum Handeln ermutigt, wozu sie realistisch an vielfältigen Handlungshorizonten ansetzen müsste.

Auch über eine »neue linke Erzählung« ist viel publiziert worden. Angesichts pessimistischer Einschätzungen darüber, wie ausreichend schnell und weitgehend das Ruder tatsächlich herumgerissen wird, wird man schwerlich behaupten können, es gebe diese »Erzählung« bereits in der beschriebenen Qualität, geschweige denn politische Kräfteverhältnisse, von ihr aus zu verändernder Praxis zu kommen. Das wäre als Manko jener vorliegenden Entwürfe zu bezeichnen, die immerhin den Versuch einer solchen Erzählung unternehmen.

Ein anderes Manko liegt vor, wenn die tatsächlichen Schwierigkeiten, eine solche zu formulieren, nicht einen neuen Anlauf dazu, sondern die Neigung fördern, stattdessen auf Schlagworte, Verkürzungen oder frühere, inzwischen anachronistisch gewordene »Erzählungen« zu setzen, das Themenfeld in der Hoffnung zu wechseln, auf anderem erfolgreicher zu sein, oder die biophysikalische Existenzkrise gleich ganz zu verdrängen.

Hier kommt wieder Polanyi ins Spiel. 2015 hat Michael Brie untersucht, was dessen Erbe zur »Konzipierung eines demokratischen Sozialismus« beisteuern kann. In dem Band werden auch drei bisher unveröffentlichte Skizzen vorgestellt, die 1943 - also zur der Zeit, zu der auch »The Great Transformation« zum Abschluss kam - entstanden, und die für eine weitere, dann aber unvollendete Publikation formuliert wurden: »The Common Man’s Masterplan«. Darin finden sich von Polanyi formulierte »Maßstäbe einer guten linken Erzählung«.

Die Erläuterungen zu den Maßstäben sind vorderhand vor dem historischen Hintergrund ihrer Entstehung zu verstehen: Noch tobte der Weltkrieg, über die zu ziehenden Lehren wurde freilich, wo dies möglich war, bereits rege debattiert. Auf die zeitliche Prägung des Textes deuten schon die Übersetzungsprobleme hin, welche der Titel hervorruft: Den »einfachen Mann« würde man heute berechtigterweise nicht mehr anrufen.

Eine solche Erzählung, so Polanyi, »soll in einer einfachen Sprache davon berichten, wie alles begann, wo die Verantwortung lag für die zurückliegenden Fehler, was unvermeidbar war und nicht zum Gegenstand einer Gegenanklage werden sollte, welche Fehler vermeidbar waren, ob sie aus moralischer, intellektueller oder politischer Schwäche hervorgingen.«

Ins Heute gewendet wird man nicht dabei stehen bleiben können, auf die Versäumnisse von CDU bis LINKE zu verweisen, die in den vergangenen Jahren Große Transformation im Polanyischen Sinne entweder gar nicht angestrebt oder in der Umsetzung wirksamer Klimapolitik nicht weit genug gegangen sind. Gerade weil zur Erreichung etwa des 1,5-Grad-Zieles tiefgreifend in die bestehenden Strukturen der Gesellschaft eingegriffen, sie verändert werden müssten, sollte eine gelingende linke Erzählung die eigene historische Bilanz kritisch in den Blick nehmen.

Bisherige Versuche, nicht-kapitalistische Gesellschaften zu gestalten, erwiesen sich in der Regel als ökologische Katastrophen. Daran ändert auch der Hinweis auf vielfältige, teils extern verortete Ursachen nichts. Aber auch soziale Erfolge, die innerhalb des Kapitalismus errungen werden konnten, blieben an ein produktivistisches Modell des »immer mehr« gebunden. Es waren Teilsiege in Verteilungskämpfen, bei denen man die Folgen der der Verteilung vorausgehenden Produktion in der Regel außer Acht ließ bzw. in die Zukunft oder in andere Weltgegenden externalisierte.

»Diese Erzählung soll schonungslos ehrlich sein«, so Polanyi weiter. »Sie soll die Illusionen über die Natur des internationalen Friedenssystems überwinden, wie sie von einer Reihe von Wunschdenkern im pazifistischen und ökonomistischen Lager fest verwurzelt wurden. Die viel zu einfache Vorstellung, die annimmt, dass Krieg nur einer Spitze von internationalen Finanziers oder großen Rüstungsunternehmern geschuldet war, muss überwunden werden. Nur dann ist es möglich, Methoden vorzuschlagen, von denen ernsthaft erwartet werden kann, die Wahrscheinlichkeit von Kriegen zu reduzieren, das Ausmaß jener, die auftreten, zu beschränken, und zu sichern, dass, wenn sie auftreten, der Aggressor der Verlierer ist.«

Es ist nicht leicht, hier der Versuchung zu widerstehen, diese Bemerkung von Polanyi auf aktuelle Auseinandersetzungen um Analyse und Umgang mit der russischen Aggression auf die Ukraine hin zu diskutieren. Sieht man durch die Brille der biophysikalischen Existenzkrise auf diesen Paragrafen der »Maßstäbe einer guten linken Erzählung« hieße das, nicht über komplexe und widersprüchliche Tatsachen dieser Krise hinwegzugehen, nicht die Erwartung zu nähren, es müsste nur diese böse Kraft überwunden, jene Technik erfunden, irgendeine Reichensteuer eingeführt werden, um auf dem Weg in eine mit den planetaren grenzen kompatible Gesellschaft wirklich voranzukommen. Das gern wiederholte, auf Luxemburg zurückgehende Lassalle-Zitat, laut dem die revolutionärste Tat sei, immer »das laut zu sagen, was ist«, würde in diesem Sinne bedeuten, das klimapolitisch Fortschrittliche im Kapitalismus und das trotz aller Widerstände Erreichte genauso zum Ausgangspunkt eigener Überlegungen zu machen wie die enormen Rückstände des klimapolitisch Falschen - auch der Fehler bisheriger linker Politik, linker Forderungen. Nur mit solcher Ehrlichkeit kommt man dorthin, wo Methoden greifbar werden, »von denen ernsthaft erwartet werden kann, die Wahrscheinlichkeit« katastrophaler Szenarien der biophysikalischen Existenzkrise zu reduzieren.

»Diese Erzählung soll in sich konsistent sein«, so Polanyis nächster Maßstab, »der konsistente Demokrat muss standhaft dem reaktionären Beharren auf antiquierten Grenzen widerstehen und gleichzeitig konsequent das Recht auf kulturelle Freiheit verteidigen – ein Recht, dass allzu oft unter die Räder genau jener Regierungen kommt, die auf übertriebenen territorialen Erweiterungen und hypertrophierter Souveränität bestehen.« Heute, 80 Jahre und zahlreiche wissenschaftlich fundierte Szenarien zur planetarischen Klima- und Ressourcenkrise später, reicht die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts nur hin, wenn die Erzählung auch den Weg zur - notwendigen – Kooperation beschreibt.

In diesem Sinne, und das wäre dann doch ein Hinweis zu gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen, kann Konsistenz nicht erreicht werden, wenn man Forderungen nach Diplomatie auf das Argument fußt, ein längerer Krieg würde sonst hierzulande zu »Wohlstandsverlusten« führen. Mit einer solchen Haltung wird man weder Demokratie verteidigen, noch Kriege verhindern, geschweige denn biophysikalische Katastrophen abwenden, abmildern können. Konsistent, also widerspruchsfrei zu argumentieren, würde erfordern, sich der historisch gewachsenen Ungerechtigkeit zu stellen, dass auch der deutsche Wohlstand auf dem exzessiven Verbrauch fossiler Rohstoffe beruht, dessen externalisierte Folgen andernorts, in Afrika, in Südostasien, im Pazifik, heute schon Menschen ihre Heimat raubt. Und man wird nicht ohne den Hinweis auskommen, dass, wer angesichts der planetarischen Herausforderungen ein anderes Land überfällt, nicht nur Verbrechen an Menschen, an Völkerrecht, an internationaler Kooperation verübt, sondern auch der notwendigen Klimapolitik schweren Schaden zufügt - es ist dies neben anderem ein Crime against (the future of) humanity.

»Diese Erzählung soll intelligent sein«, fügt Polanysi einen nächsten Maßstab hinzu. »Wir müssen Fortschritt auch dort anerkennen, wo Kräfte des Bösen sie als ihr Mittel nutzen.«

Hier geht es darum, was der Leitspruch dieses Blogs beinhaltet: »der Schlüssel steckt von innen«. Oder, in den Worten von Hans Thie und auf das Thema der biophysikalischen Existenzkrise gebracht: Hier geht es darum, die »Verlegenheit der Kapitalismuskritik« zu überwinden. »Am wichtigsten ist wohl die selbst verschuldete Blockade marxistischen Denkens, die sich vielfältig äußert, aber vor allem einen großen Mangel hat: Die Unfähigkeit, für die Ökonomie, also für den nach wie vor relevantesten Teil dessen, was wir Gesellschaft nennen, eine wirklich überzeugende und – angesichts der Verwerfungen – angemessen radikale und durchgehend ökologische Vision hervorzubringen. Diese Vision müsste, wenn sie mehr sein wollte als ein beliebiges Wunschkonzert, in schon vorhandenen Tendenzen gründen und Knospen identifizieren, die – gut bewässert und gut gepflegt – zur Blüte treiben… Wer den jeweiligen Entwicklungsstand der Produktionsmittel, der Arbeitsteilungen, der Unternehmensstrukturen, der Betriebsstätten, der Märkte, der Investitionsrechnungen nicht kennt, wird zwangsläufig nicht in der Lage sein, Dissonanzen zwischen materiellem Gehalt und Formbestimmung zu benennen.«

»Diese Erzählung soll wahr sein. Wir müssen zumindest die Fakten zur Kenntnis nehmen – die Fakten«, so Polanyi weiter. »Wir dürfen uns nicht vor jenen Fakten drücken, die unseren Idealen zu widersprechen scheinen, sondern einen klaren Blick auf sie werfen und die Konturen unseres Ideals dort neu ziehen, wo sie nur in geringem Maße durch die Fakten bestätigt werden. Wir sollten uns nicht zimperlich hinter selbstgefälligen Bezugnahmen auf vergangene Formulierungen verstecken.«

Eine Erzählung, die heute wahr zu sein beansprucht, muss zugleich einfach und doch komplex, das heißt systemisch sein. Von simplen monokausalen Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung auszugehen, ein Problem lösen zu wollen, ohne diese Lösung auf mögliche ungewollte Folgen zu prüfen, wird den »Fakten« längst nicht mehr gerecht. Zum Beispiel in der Wohnungsfrage: Ja, offensichtlich brauchen wir Hunderttausende neue Wohnungen an Stellen, wo diese nicht leerstehen; aber würden sie herkömmlich gebaut, wären zwingende Klimaziele nicht mehr erreichbar, wodurch Folgen wahrscheinlich werden, die mit Wohnungspolitik nicht mehr zu beheben wären.»Wahrheit« gibt es heute nicht, ohne dass man für alle Belange, Vorschläge usw. durchbuchstabiert, was diese global zu biophysikalischen Existenzkrise beitragen.

»Diese Erzählung soll vollständig sein«, schlägt Polanyi weiter vor »Nicht im Sinne des Pedanten oder des Antiquars, der sich einbildet, er habe die Wahrheit, wenn er alle Fakten habe. Er mag nur alle Worte einer toten Sprache gesammelt habe. Die Erzählung soll vollständig sein im Sinne, dass sie die Szenerie des menschlichen kollektiven Lebens in all ihrer Breite und Tiefe in den Blick nimmt, und dass sie die Aufgabe in ihr Gänze formuliert, denn die Demokratie ist entweder eine Form des Lebens oder sie ist nichts.«

Das menschliche kollektive Leben in aller Breite und Tiefe: Hier verweist Polanysi auf die Fehler zu enger Blickwinkel. Erzählungen, die das gesellschaftliche Leben reduzieren auf das ökonomische, soziale, technologische usw., die also den Menschen zurechtstutzen etwa auf einen homo oeconomicus, auf einen homo politicus, einen homo germanicus usw., sind falsche, weil einseitige unvollständige Erzählungen. Damit verbunden ist die Aufforderung, sich nicht passende Teile aus der empirisch erfassbaren Wirklichkeit herauszugreifen, weil diese den aktuell eingenommenen politischen Standpunkt belegen, statt wirklich eine Erklärung komplexer Wirklichkeit zu ermöglichen. Wer zum Beispiel »den Arbeiter« auf seine soziale Position, eine holzschnittartige Konsumweise oder irgendwelche Ansichten reduziert, also in paternalistischer Absicht »Eigenschaften« zuschreibt, verfehlt »das menschliche kollektive Leben in aller Breite und Tiefe«. Auch weil sich solche Engführungen selbst gern als die linkeste aller Erzählungen ausgeben, sollte dem mit Polanyi widersprochen werden.

»Diese Erzählung soll praktisch sein. Dies nicht in dem Sinn, dass sie volkstümliche Lösungen für angeblich brennende Fragen vorschlägt und dabei wesentlichen ausweicht aus Angst, Akademiker genannt zu werden, sondern im Sinne einer Verantwortlichkeit, die einschließt, dass niemand Überzeugungen vertreten sollte, denen er selbst sich nicht in der Lage sieht zu genügen. Forderungen, wie moralisch sie auch immer sein mögen, die von ihrer Natur her nicht realisiert werden können, sind nicht idealistisch, sondern bedeutungslos. Und wer im Namen solcher Ideale das Erreichen des Möglichen behindert, ist kein Idealist, sondern nur ein soziales Ärgernis.«

Wie Wolfgang Fritz Haug einmal  zum »Antikapitalismus« sagte, muss dieser »sich mit zwei Problemen herumschlagen: er braucht eine konkrete Vision der Alternative zum Kapitalismus; und er muss etwas über den Weg zu dieser Alternative und über die Subjekte, die diesen Kampf kämpfen sollen, sagen können. Kann er dies nicht – oder nicht realistisch –, herrscht ein Antikapitalismus der Phrase, Opium linker Sekten. (…) Es genügt nicht, mit Benjamin zu sagen, die Katastrophe bestehe darin, dass es so weitergeht. Jene Situation wird ihr Ende erst finden angesichts einer neuen Konzeption, die eine konkrete Möglichkeit darstellt, ›die Katastrophe abzuwenden‹, d.h. unsere Lebensgewinnung im produktiven Umgang mit Naturressourcen sowie unsere Verhältnisse untereinander anders und sowohl sozial als auch ökologisch glaubhaft besser als kapitalistisch zu gestalten, (…) Da der Kapitalismus, wie sich in Anlehnung an einen Satz von Brecht sagen lässt, auch das Tun des Nützlichen monopolisiert, kann er nicht in Bausch und Bogen verurteilt werden. Er hat gleichsam das Produktive der Gesellschaft als Geisel genommen. Die Aufgabe bestünde darin, ihm diesen seinen integralen Bestandteil zu entwinden oder, um im Bild zu bleiben, die Geisel zu befreien, ohne sie zu gefährden.«

»Diese Erzählung sollte die des einfachen Bürgers sein«, schreibt Polanyi 1943. »Eine Gesellschaft kann nur aus arbeitenden und tätigen Menschen allein bestehen; aber keine Gesellschaft kann nur aus reichen Leuten bestehen. Der reiche Mann ist nicht schlechter als der arbeitende Mann, aber er muss sich dessen bewusst sein, dass er nicht der einfache Bürger ist, und dass es die Bedürfnisse des letzteren sind, an die die Gesellschaft angepasst werden sollte.«

Der »einfache Bürger« - diese Denkfigur richtet sich gegen die besitz- und bildungsbürgerlichen Ansprüche, aufgrund der eigenen Superiorität besser und allein entscheiden zu können, was gut für das Allgemeinwohl sei. Dagegen hält Polanyi fest: »Bildung ist kein Schutz gegen sozialen Aberglauben, wovon die abgefeimten Unwahrheiten zeugen, die von den Intellektuellen in den 1920er Jahren gesponsert und verbreitet wurden und als Brutstätte des Faschismus dienten.« An Entscheidungen müssen diejenigen, die davon betroffen sind, beteiligt werden. Entscheidungen, die alle betreffen, können nicht ohne diejenigen, die den Laden am Laufen halten, getroffen werden. Diese demokratischen Fundamente sind gegen Vermögens- und Diskursmacht zu behaupten. Doch das ist es nicht allein. Der »einfache Bürger« ist heute nicht mehr als Angehöriger eines bestimmten Nationalstaates vorstellbar, er ist per sei ein »planetarischer Bürger«: Von den Wirkungen, die Entscheidungen für die weitere Nutzung fossiler Rohstoffe haben, sind die Bewohnerinnen pazifischer Inseln ebenfalls betroffen.

»Diese Erzählung sollte sich den ungelösten Problemen unserer Zeit zuwenden«, lautet Polanysi letzter Maßstab für eine politische Erzählung, die eine Große Transformation möglich machen solle. »Was wir brauchen, ist nicht so sehr eine Aufklärung über die Intentionen als über die Situation, in der wir uns befinden – nicht über Werte, sondern über Fakten. Die Selbstgefälligkeit resultiert im intellektuellen Versagen, die Bedeutung der Ereignisse zu verstehen. (…) Auf dem kompletten Verständnis dieser Probleme muss der einfache Bürger seinen Masterplan begründen, wenn er der bewusste Herrscher in seiner eigenen Welt werden will.«

Im Folgenden bezieht Polanyi seine Vorschläge auf aus seiner Sicht ungelöste Probleme einer - 1943 noch bevorstehenden - Nachkriegszeit, deren Lösung gleichsam eine Wiederholung der Barbarei ausschließen sollten. In den beiden anderen Skizzen geht es um Überlegungen für eine demokratische und soziale Umgestaltung in der Nachkriegszeit sowie um die Auseinandersetzung mit elitären Positionen und demokratische Mitsprache der unteren Klassen. Nimmt man die heute »ungelösten Probleme« in den Blick, stößt man auf die von Polanyi beklagte »Selbstgefälligkeit« unter anderem dort, wo die biophysikalische Existenzkrise in ihren ganzen Dimensionen, möglichen Szenarien, die Zukunft einschränkenden Folgen nicht ernst genommen wird. Wer, um das zuzuspitzen, erklärt, auf der linken Seite dürfe man »nicht grüner als die Grünen« werden, verweigert die Fakten, macht es sich aber auch mit seinen Werten bequem, sofern diese vorhanden. In diesem Punkt wäre Polanyi zu widersprechen: Aufklärung über die Intentionen ist gerade deshalb auch wichtig, weil die Fakten nahelegen, dass schon in kurzer Frist die Bedingungen für eine an Freiheit, Gleichheit, Kooperation orientierte Politik zerstört werden könnten. Das sind die - biophysikalischen - Fakten. Eine Große Transformation im Sinne Polanyis ist nötig, um auch in Zukunft den Werten Geltung verschaffen zu können. (haka, tos)

Michael Brie: Polanyi neu entdecken, Beiträge zur kritischen Transformationsforschung des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Hamburg VSA 2015.

Subscribe to linksdings

Don’t miss out on the latest issues. Sign up now to get access to the library of members-only issues.
jamie@example.com
Subscribe