Klimanotizen 58

Die Welt schlafwandelt in gefährliche Zeiten, warnen neue Studien. Klimapolitischer Realismus hat es trotzdem schwer bei Mitte-Links. Die Grünen entfernen sich von sich, und nennen es Zu-sich-finden. Und vom Klimageld, das planetare und soziale Frage verbindet, will auch kaum jemand etwas wissen.

#1 Wo stehen wir? »Kurz vor einer irreversiblen Klimakatastrophe«, heißt es in »The 2024 state of the climate report: Perilous times on planet Earth«, den renommierte Forscherinnen und Forscher dieser Tage in »BioScience« publiziert haben. Anhand von 35 »planetaren Vitalparametern«, die Indikatoren zu Entwaldung, Eisschmelze, Luft- und Wassertemperaturen, Tage mit Extremhitze u.a. ebenso darstellen wie zu anthropozänen Aktivitäten wie Fleischkonsum, fossile Subventionen, Ausstoß von klimawirksamen Gasen etc. wird hier abermals vor historischen Daten, sich selbstverstärkenden Feedbackschleifen und Kipppunkten gewarnt. »Der Klimawandel könnte ab einem bestimmten Punkt zum Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung beitragen.« Christian Stöcker hat angelegentlich der Veröffentlichung »ein seltsam verhaltenes Medienecho« festgestellt, es sei ja nicht so, dass dieser Bericht übertreibe, eher ist das »Schulterzucken« auffällig, mit dem solche Studien oder die real existierenden Katastrophen reagiert wird. »Und all das ist immer noch erst der Anfang«, so Stöcker. »Die Welt schlafwandelt in die Katastrophe hinein.« Nicht einmal die guten Nachrichten zum Thema würden noch durchdringen. Dass in den kommenden Wochen zwei großen UN-Konferenzen angesetzt sind, die sich mit der Biodiversitäts- und der Klimakrise befassen, macht bisher auch kaum Schlagzeilen. In Kolumbien findet der sechzehnte UN-Naturschutzgipfel (COP16) statt, am 11. November startet in Aserbaidschan der neunundzwanzigste UN-Klimagipfel (COP29). Die FAZ macht anlässlich dessen außerdem auf die Studie »The future extent of the Anthropocene epoch: A synthesis« aufmerksam. Darin warnen Colin P. Summerhayes und andere anhand historischer Klimadaten, »dass die Erderwärmung viel stärker ausfallen könnte, als es die Computermodelle des Weltklimarats IPCC bisher nahelegen«. Und selbst bei einer Absenkung der Emissionen auf Null würden »die Erwärmung, die Eisschmelze und der Anstieg des Meeresspiegels zumindest für 100.000 Jahre anhalten«. Die sonst für übertriebenen Katastrophismus nicht bekannte FAZ: »Ein dramatischeres Bild der Lage lässt sich kaum zeichnen… Eine allgemeine Überlastung der Öffentlichkeit mit Krisen paart sich mit wachsenden Zweifeln, ob globale Events dieser Art überhaupt die nötigen Veränderungen bewirken können. Zudem breitet sich ein antiökologischer Zeitgeist aus.«

#2 Beobachtet man die gegenwärtigen Tendenzen auf dem Feld der hiesigen Parteipolitik, wird man ebenfalls keine Konjunktur klimapolitischen Realismus’ erkennen können. Ob nun der Bundesparteitag der Linken und die um Begriffe wie »Neustart« und »Erneuerung« geführten Debatte, oder die SPD, die ihre Schwerpunktsetzung für das Wahlkampfjahr erkennen lässt, ob es die Entwicklungen bei den Grünen sind oder bei den linken Junggrünen, die sich auf eigene Wege begeben möchten - das alles hinterlässt nicht den Eindruck, hier würden sich politische Formationen auf die Wirklichkeit einlassen. Im Grunde bleibt die planetare Frage ein Unterthema neben anderen; mal mit stärkerer Betonung auf »Verteilungspolitik«, mal mit deutlicherem Fokus auf »Wachstum«, aber der Nexus zwischen Aneignung, Verbrauch, Externalisierung als Voraussetzung dafür, verfügbare Überschüsse entlang politischer Vorstellungen (national) umzuverteilen, wird nicht infrage gestellt. Dass es hier und da entsprechende Appelle gibt, gehört zu den Ausnahmen, welche eine Regel bestätigen. Es ist zwar auch im Mitte-Linke-Spektrum von einem Zeitgeist die Rede, dem man sich - mal so, mal so - entgegenstellen will. Damit ist aber gemeint, was als »Rechtsruck« bezeichnet wird. Nur unzulänglich wird offenbar die Verbindung zwischen Zustimmung für bestimmte Parteien und den blockierten Transformationskonflikten (siehe etwa hier und hier) politisch in den genannten Formationen verarbeitet. 

#3 Da derzeit oft die Frage strapaziert wird, »wer wollen die Grünen eigentlich sein?«, lässt sich die merkwürdige Abwesenheit des Omnipräsenten auch am Beispiel dieser Partei diskutieren. Als »symptomatisch für den neuen Kurs« wird hier beschrieben, dass »das einstige Kernthema Klima« nur noch »eines von vielen« sei. Robert Habeck, auf dessen Person die Partei zugeschnitten werde, »wirkt zunehmend defensiv, wenn er darüber spricht. Lieber rückt er seine Partei ganz pragmatisch in die Mitte, will den Menschen bloß nicht zu viel zumuten, sie auf keinen Fall noch einmal überfordern. Nicht nur unter Parteilinken wachsen die Zweifel an diesem Kurs.« Klimapolitik sei eben »kein Gewinnerthema mehr« - eine Bemerkung, die den Anachronismus gut zum Ausdruck bringt, die planetare für eine fakultative Frage zu halten, die je nach wahlpolitischen Aussichten auch ausgetauscht werden könne. Was als »Läuterung« der Grünen verkauft wird, werfe zwei Fragen auf, heißt es hier: »Erstens ist unklar, warum irgendjemand die geläuterten Grünen wählen sollte – und nicht einfach jene, die die grünen Schwächen weit vor ihnen erkannt haben und die Politik vorschlagen, auf die nun auch die Grünen einschwenken. Und zweitens muss sich zeigen, was das für das grüne Parteiprogramm heißt. Beispiel Klimaschutz: Die Bundesrepublik verfolgt Klimaziele, die gemessen am Pariser Abkommen unzureichend sind. Die Ampelregierung macht Klimapolitik, die diese Ziele perspektivisch verfehlen wird – auch und gerade im Gebäudesektor. Wenn die Grünen nun sagen, sie hätten zu schnell zu viel gewollt, gerade beim Heizen, dann können sie schwer das Pariser Abkommen weiter zum Maßstab ihrer Politik erklären. Wenn sie das, was die Masse will, zum Ausgangspunkt ihrer Politik machen, werden sie nie bei Umweltschutz landen.« Oder in einem Satz: »Die Grünen dagegen wollen nun zu sich finden, indem sie sich noch schneller noch weiter von dem entfernen, was sie einmal waren.« An anderer Stelle ist darauf hingewiesen worden, dass der häufigen Bezugnahme darauf, die Grünen (und eigentlich alle Parteien) seien »nachhaltig traumatisiert vom Verlauf und vom Ausgang der Heizungsdebatte«, weil »die Veränderungsbereitschaft der Menschen überstrapaziert« worden sei mit jede andere wirksame Klimapolitik ebenso ruinierenden Folgen, eine falsche Annahme zugrunde liegt: »Schließlich läuft das ökologische Rollback zurzeit im gesamten Westen, sogar in Ländern, in denen man von einem Habeck noch nie etwas gehört hat. Das Heizungsgesetz-Theater ist folglich nicht die Ursache für den klimapolitischen Stimmungsumschwung, sondern dessen Symptom… Die westlichen Gesellschaften schütteln sich offenbar gerade die ökologische Krise von den Schultern, während sie gleichzeitig immer tiefer in sie hineingeraten. Das ist der wahre Knoten, den (nicht nur) die Grünen durchschlagen müssen.« Doch mit dem Ausweichen vor Vorschlägen, deren Wirkung man unter wahlpolitischen Gesichtspunkten fürchtet, wirft man schon vor dem ersten Hieb das Schwert beiseite. Warum, das hat der Leiter der Leipziger Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik auf einen einfachen Satz gebracht: »Die Grünen sind noch nicht radikal genug.« Statt immer vorsichtiger zu werden, sei »vielleicht die Flucht nach vorn Erfolg vielversprechender… Den Leuten reinen Wein einzuschenken und zugleich im persönlichen Verhalten sehr konsequent zu bleiben, könnte mehr Erfolg versprechen als falsch verstandene Zurückhaltung.« Aber in Zeiten, in denen es als das Schlimmste gilt, grüner als die Grünen zu werden, nimmt auch niemand anderes diese Position ein.

#4 Hierzulande habe »niemand die Absicht, den Wahnsinn hinter sich zu lassen, das immer Gleiche zu tun, sich dabei aber andere Ergebnisse zu erwarten«, hieß es hier schon vor Monaten einmal. Bezogen war das auf die »grüne Wirtschaftspolitik, die sich dort einreiht, wo die anderen Parteien immer waren: die industrielle Struktur Deutschlands nicht antasten. Erstens würde solche Transformation nämlich Wähler vergraulen, man wäre schnell die Macht los und damit die Aussicht, was verändern zu können.« Der Text unternimmt dann einige Erkundungen darüber, was zu den »Hausaufgaben in der ökonomischen, technologischen, sozialen und kulturellen Transformation« gehören könnte - zum Beispiel eine, nennen wir es: Gesellschaftskritik der Industrie zu entfalten, welche eine Überwindung des Industrialismus ermöglicht. Ob in planetarem Sinne dazu nicht doch mehr nötig wäre als eine Hinwendung zu »Wissen und Innovation«, weil es ja auch die nicht ohne Ressourcenverbrauch gibt und strukturelle Mechanismen der Kapitalverwertung ihrerseits Kräfte des Rückständigen, Gestrigen sind, wäre dann freilich noch zu diskutieren. So oder so, wäre ein »linker Industrialismus« nicht besser als ein »grüner«.

#5 Dass Grüne und SPD in der Regierung nicht auf das Klimageld als das Thema setzen, das am einleuchtendsten »grüne Modernisierung« und »soziale Politik« miteinander verbinden würde, hat sicher mit der FDP zu tun, die man sich vor drei Jahren wie einen rostigen Nagel eingetreten hat, damals überwog weitgehend inhaltsleerer Progressismus noch die Schmerzen, die von Anfang an angebracht gewesen wären. Aber warum nicht etwa die Linkspartei, die eigener Aussage zufolge in der Fokussierung auf wenige, für den Alltag der meisten Leute entscheidenden Fragestellung einen zukunftsfähigen Ansatz sieht. Während die Ampel mit der FDP als Bremse die Einführung des Klimagelds verzögert, rücken vereinbarte Anhebungsschritte bei der CO2-Bepreisung immer näher. Die Beschaffung fossiler Brennstoffe wird 2025 und 2026 teurer; ab 2027 wirkt das Emissionshandelssystem der EU für die Bereiche Verkehr und Heizen. »Was hier auf uns zukommt, haben viele Menschen noch nicht auf dem Schirm«, wir hier unter anderem eine Studie des gewerkschaftsnahen IMK zusammengefasst. In der geht es um den sozial ungleichen Mangel an Akzeptanz, was solche Preissysteme angeht. Klar wird aber auch: Die meisten Befragten überschätzen »ihre aktuelle finanzielle Belastung durch den CO2-Preis drastisch, während sie die absehbare Kostenentwicklung in den kommenden Jahren unterschätzen, wenn ein unbegrenzter Marktmechanismus die bislang recht moderate politische Preissetzung ablöst und zu deutlich höheren Kosten führen dürfte«. Das DIW hat gerade ein Modell vorgeschlagen, dass von der sozialen Ungleichheit ausgehend vorschlägt: »Die unteren 30 Prozent der Bevölkerung behalten die Klimaprämie unverändert, während sie bei den oberen 30 Prozent vollständig abgeschöpft wird.« Natürlich ist ein Klimageld allein kein Allheilmittel, sondern nur ein Baustein in einem großen Bild. Dass es aber zum Beispiel bei der Linken aktuell nur dort eine Rolle spielt, wo man der Ampel Untätigkeit vorwerfen möchte, leuchtet wenig ein. Zumal es potenzielle Partner in der Zivilgesellschaft gibt, wie jenes ökosoziale Bündnis von Attac bis Paritätischer, das im Sommer mit einer bundesweiten Aktion die Trommel für die Einführung einer sozialen Klimaprämie forderte. (Wir haben hier Studien rund um das Klimageld zusammengestellt.) 

Subscribe to linksdings

Don’t miss out on the latest issues. Sign up now to get access to the library of members-only issues.
jamie@example.com
Subscribe