Klimanotizen 50

Golfplätze machen hierzulande mehr Fläche aus als Photovoltaik-Freiflächenanlagen. Die Erneuernbaren wachsen zwar weltweit, aber zu langsam. Neue Studien zeigen, dass die Erwärmung größer ist als bisher gedacht. Sommer in Europa bedeute »mittlerweile an vielen Orten: ein Leben in Innenräumen«.

#1 Wo stehen wir? Fangen wir mit etwas - ähm: Positivem an: Der Think Tank Ember hat die Entwicklung im internationalen Energiesektor untersucht und ist angesichts des Rekordzubaus an Erneuerbaren (2023 etwa 30 Prozent an der Energieerzeugung) »zuversichtlich, dass im Jahr 2024 eine neue Ära sinkender fossiler Stromerzeugung beginnen wird und das Jahr 2023 den wahrscheinlichen Höhepunkt der Emissionen im Energiesektor markieren wird«. Wie der Climate Action Tracker mitteilt, haben »die neu umgesetzten und geplanten Maßnahmen im Rahmen des Green Deal der EU die Aussichten für die Treibhausgasemissionen der EU erheblich verbessert«, eine Reduzierung bis 2030 auf 51 Prozent sei möglich - was aber unter dem Ziel von 55 Prozent liegt. »Die Emissionen der EU befinden sich nun auf einem Weg, der mit Szenarien übereinstimmt, die den globalen Temperaturanstieg auf etwas über 2 Grad Celsius begrenzen, was einer Verbesserung um mehr als 1 Grad gegenüber dem Emissionspfad entspricht, den wir 2019 vor den Europawahlen und vor dem Green Deal geschätzt haben.« Die Bundesrepublik hat im ersten Quartal 2024 etwa 1,7 Millionen Tonnen Steinkohle importiert - gegenüber dem ersten Quartal 2016 eine Reduktion um 64 Prozent, zeigen die Energiecharts von Bruno Burger

#2 All das sind wichtige Schritte, die aber zu langsam und nicht ausreichend erfolgen. Die im März 2024 am Mauna Loa-Observatorium der NOAA gemessene monatliche durchschnittliche Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre lag um 4,7 ppm höher als im März 2023 - ein neuer Rekordwert, der die wachsende Geschwindigkeit verdeutlicht, mit der Kohlendioxid durch menschliche Aktivitäten in die Atmosphäre gelangt. Insgesamt lag 2023 die Konzentration 2023 bei 419,55 ppm Kohlendioxid: Der Grund laut Ralph Keeling, Direktor des CO2-Programms an der Scripps Institution of Oceanography der University of California San Diego: »das anhaltende weltweite Wachstum des Verbrauchs fossiler Brennstoffe«. Dass der Sommer 2023 »in weiten Teilen der Nordhalbkugel der wärmste Sommer seit mehr als 2.000 Jahren« war, ist da kein Wunder - Geographen der Universität Mainz und der University of Cambridge zeigen nun, »dass der Klimawandel möglicherweise stärker ist als bislang angenommen«. Untersuchungen mit Baumringdaten hätten gezeigt, das die »vorindustrielle Zeit« von 1850 bis 1900 »kühler als gedacht« war.: »Das würde bedeuten, dass die Erwärmung größer ist als bisher gedacht und dass die formulierten Klimaziele neu kalkuliert werden müssen.« Zwei andere neue Studien deuten auf grundlegende Klimaveränderungen in der Antarktis hin, die bisherige Prognosen über die Geschwindigkeit des Abschmelzens von Gletschern ins Wanken bringen. Unabhängig von einer möglicherweise nötig werdenden Neukalibrierung der Korridore für eine Erreichung von Klimazielen rechnen Expertinnen »mit schlimmeren Tropenstürmen, häufigeren Waldbränden, steigendem Meeresspiegel und Engpässen bei wichtigen Produkten wie Nahrungsmitteln und Mikrochips«. Die Ergebnisse einer neuen Studie zum menschlichen Einfluss auf den saisonalen Zyklus der Meeresoberflächentemperatur zeige, sagt Mike Meredith vom British Antarctic Survey, »dass all diese Wärme in den Ozean gelangt und sich in mancher Hinsicht sogar noch schneller erwärmt, als wir dachten, gibt Anlass zu großer Sorge«.

#3 Entsprechend fällt der Ausblick der National Oceanic and Atmospheric Administration auf die diesjährige Hurrikansaison aus, die »Washington Post« spricht von der »aggressivsten Mai-Prognose, die die Agentur je veröffentlicht hat«. Derweil droht Mexiko-Stadt eine Wasserknappheits-Krise enormen Ausmaßes, wie hier nachzulesen ist. Kein Einzelfall, aber dort leben fast neun Millionen Menschen. Woanders führt der Klimawandel zu feuchteren Jahreszeiten: Weil ein nasser Herbst die Aussaat von Winterkulturen und das nasse Wetter im Februar und März die Aussaat von Frühjahrskulturen verhindert, rechnet das britische Energy and Climate Intelligence Unit mit einem Umsatzrückgang bei wichtigen Anbaukulturen von etwa einem Viertel im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2023. Insgesamt könnten die Landwirte über eine Milliarde Pfund an Umsatz verlieren - aber es geht hier nicht nur um Einnahmen, sondern auch um eine schrumpfende Menge von Agrarprodukten. Immer deutlicher werden ebenso die gesundheitlichen Warnsignale. »Breitensport ist schon jetzt nicht mehr so ausführbar, wie wir es gewohnt waren«, wird ein Wissenschaftler von der Uni Mannheim hier zitiert. Auch der neueste Lancet-Countdown-Report schlägt Alarm: Untersucht werden dafür die Auswirkungen des Klimawandels in Europa anhand von 42 Indikatoren. »Die meisten zeigen einen Trend zum Schlechteren.« Vor allem die häufigeren Hitzetage verändern spürbar den Alltag und lassen Risiken erheblich steigen. Sommer in Europa bedeute »mittlerweile an vielen Orten: ein Leben in Innenräumen«; mangelnde Bewegung wiederum begünstigt Krankheiten, Hitze schlägt auch auf die Nahrungsproduktion durch, das Risiko von Infektionskrankheiten steigt und und und. Maike Voss, Direktorin des Thinktanks Centre for Planetary Health Policy, wird hier mit den Worten zitiert: »Um sich an extrem heißen Tagen zu schützen, hatten 2021 16 Prozent der europäischen Haushalte Klimaanlagen im Einsatz – dabei stießen sie zusammen so viel Kohlendioxidaus wie ganz Bulgarien.« Maßnahmen zur Anpassung an aktuelle Auswirkungen und zur Eindämmung künftiger Folgen würden »immer noch hinterherhinken«, so Joacim Rocklöv von der Universität Heidelberg. 

#4 Der Technologiekonzern Microsoft hat sich 2020 zum Ziel gesetzt, bis zum Ende des Jahrzehnts CO2-negativ zu sein. Wie ist der Stand? 2023 lagen die Emissionen des Unternehmens um 30 Prozent höher als drei Jahre zuvor. Ein entscheidender Grund: die Nachfrage nach technologischen Dienstleistungen im Zusammenhang mit der »Künstlichen Intelligenz«. Dass die Konzernspitze hofft, dass der kommende Nutzen der KI für die Welt ihre Auswirkungen auf die Umwelt überwiegen wird, klingt ein bisschen wie Pfeifen im Walde. Zumal der neueste Schrei aus der Welt der »Künstlichen Intelligenz« nicht eben die geäußerte Hoffnung unterstützt. Neues gibt es auch vom niederländischen Klimaforscher Lennard de Klerk, der mit anderen die Klimafolgen des russländischen Eroberungskrieges gegen die Ukraine untersucht, siehe unter anderem hier. Für die ersten anderthalb Jahre des verbrecherischen Feldzuges wird mit kriegsbedingten Treibhausgasemissionen von 150 Millionen Tonnen CO2e gerechnet; mehr als die jährlichen Emissionen von Belgien. Ein großer Teil der kriegsbedingten Treibhausgasemissionen entsteht erst nach einem Ende: durch den Wiederaufbau. Empirische Evidenz zum Grünen Paradoxon, laut dem die Ankündigung einer Emissionsreduktion in der Zukunft zu mehr Verbrauch in der Gegenwart führt, liefert diese StudieEine andere Untersuchung über die makroökonomischen Schäden durch den Klimawandel, die darin sechsmal höher als bisher angenommen taxiert werden, sorgt derweil für Debatten. Die Schätzungen sind bedeutend höher als bisherige Prognosen, die Ergebnisse, so die Autorinnen »deuten auf soziale Kosten des Kohlenstoffs von 1.056 US-Dollar pro emittierte Tonne Kohlendioxid hin. Ein Business-as-usual-Erwärmungsszenario führt zu einem gegenwärtigen Wohlfahrtsverlust von 31 Prozent.« Die Studie legt größeren Schwerpunkt auf globale Temperaturschocks, die stärker mit extremen Klimaereignissen korrelieren als die in der Panelliteratur üblicherweise verwendeten Temperaturschocks auf Länderebene. Daran gibt es methodische Kritik - etwa hier und hier. Unterdessen hat das ifo Institut vorgerechnet, dass eine gemeinsame Energie- und Klimapolitik in der EU »die Kosten des Klimaschutzes von 2024 bis 2050 um 248 Milliarden Euro senken« könne. »Sollte jedes Land in Europa allein Energie- und Klimapolitik betreiben, wäre dies mit hohen Mehrkosten verbunden. Gemeinsamer Klimaschutz ist immer besser als nationaler Klimaschutz.« 

#5 Aber nationaler Klimaschutz wäre ja auch schon etwas… Dagegen stemmt sich aber ein beträchtlicher Teil der politisch Verantwortlichen hierzulande. Gerade hat die fossilistische CDU eine Kampagne gegen das »Verbrennerverbot« auf EU-Ebene losgetreten, es stehen Wahlen bevor, die Benzinwut soll bewirtschaftet werden. Was Experten dazu sagen? »Anstatt unsere Autobauer zu retten, zerstört das Gerede über eine Abkehr vom Verbrenner-Aus unsere Industrie.« Ja, schon… aber fehlt es nicht wirklich auch an Ladepunkten, schließlich hat man das schon sehr oft gelesen?! Also gucken wir mal: Laut Ladesäulenregister der Bundesnetzagentur waren im November 2023 genau 93.261 Normalladepunkte und 22.047 Schnellladepunkte in Betrieb. Das sind zusammen rund 115.000. Nimmt man die Zahl der öffentlichen Tankstellen in Deutschland und schätzt, dass im Schnitt jede 8 Säulen zum Tanken hat (was großzügig sein dürfte), kommt man auf ziemlich genau dieselbe Zahl an »Kraftstoff-Ladepunkten«: rund 115.000. Noch hübscher werden in diesem schon etwas älteren Video Fakten über Elektroautos und Verbrenner aufgedröselt. (Und ja, schon klar, elektrische Individualmobilität ist auch nicht die Lösung, aber ein Schritt auf dem Weg der Dekarbonisierung, weshalb es auch Kritik an Aktionen gegen die Hersteller von Elektroautos gibt.) Zum Schluss dieser Klimanotizen noch drei Hinweise auf Anschauungsmaterial im besten Wortsinne: Christian Victor stellt hier eine Grafik vor, die zeigt, »dass der gesamte Flächenverbrauch von Solarparks in Deutschland deutlich unter dem von Golfplätzen liegt«. Wie bitte? Ja, ist so: Für Ende 2021 waren laut Umweltbundesamt etwa 32.000 Hektar Photovoltaik-Freiflächenanlagen installiert, das Bundesamt für Naturschutz gibt für 2023 insgesamt rund 48.000 Hektar Golfplätze an. Gut visualisiert werden zahlreiche klimapolitischen Themen im neuen »Atlas of Climate Change«, der von tschechischen Expertinnen erarbeitet wurde und auch in einer englischen Version erhältlich ist. Und weil man immer wieder daran erinnern sollte, weil auch das die Problemlage sehr gut anschaulich macht: die Hälfte aller Kohlendioxidemissionen, die gegenüber der vorindustriellen den Planeten erhitzen, wurde in den letzten 25 Jahren emittiert. Aber sind das nicht nur so klitzekleine Partikelchen? Ja, aber, sagt David Wallace-Wells: »Das Gewicht dieses Kohlenstoffs ist größer als die Gesamtmasse von allem, was jemals von Menschen gebaut wurde und noch auf der Erde steht.«

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