Klimanotizen 5

Neuer IPCC-Bericht, Waldzustandserhebung, DWD-Klimarückblick 2022, die Studie »Global warming in the Pipeline«, der Report der Global Commission on the Economics of Water - in immer kürzeren Abständen und mit immer überzeugenderen Argumenten kommen »Weckrufe«. Die Zeit wird immer knapper.

#1 Der »Synthesebericht des 6. Sachstandsbericht des IPCC« ist weithin als »Weckruf« bezeichnet worden - wie das so üblich ist, wenn wissenschaftlich untermauert darauf hingewiesen wird, dass beim Handeln gegen die Ursachen der biophysikalischen Existenzkrise die Zeit davon läuft. So gesehen werden wir seit fast 50 Jahren in immer kürzeren Abständen und mit immer überzeugenderen Argumenten »geweckt«, nur stellt sich nicht jene Wachheit ein, die nötig wäre. (Hier könnten sich ein paar Gedanken zur propagandistischen Nutzung des Begriffes »woke« anschließen, aber vielleicht bei anderer Gelegenheit.) »Der Bericht ist wie ein Déjà-vu, die Warnung vor einer längst bekannten Katastrophe. Alles ist wie üblich, geht also in die falsche Richtung«, kommentiert die dänische »Politiken« den Bericht. Und die Taz schreibt: »Bis 2030 müssen sich die Emissionen ungefähr halbieren. Nur dass dafür jetzt eben nur noch sieben Jahre Zeit sind. Die Aufgabe wird größer, weil die Zeit immer knapper wird.« Matthias Garschagen, der im Kernautorenteam des Weltklimarates mitwirkt, erklärt die wichtigsten Befunde. Erstens: Die Auswirkungen der Erderhitzung und künftige Risiken fallen immer stärker aus - sowohl tatsächlich als auch im Vergleich zu früheren Annahmen. Zweitens: Es hat sich einiges getan, aber die Maßnahmen reichen nicht aus - die Lücke zu den Zielen wird größer. Drittens: »Noch haben wir es selbst in der Hand. Es bedarf allerdings tiefgreifender unmittelbarer Veränderungen.«

#2 Im Schatten des IPCC-Berichts haben die Waldzustandserhebung für das Bundesagrarministerium und der Klimatologische Rückblick des DWD auf 2022 recht eindringlich auf zwei Feldern gezeigt, was biophysikalische Existenzkris hierzulande bedeutet. »Insgesamt befinden sich die Schäden weiterhin auf einem sehr hohen Niveau und haben sich je nach Baumart im Vergleich zum Vorjahr gar nicht oder nur sehr geringfügig verändert, es haben sich keine deutlichen Verbesserungen des Waldzustandes eingestellt«, heißt es etwa zum Wald - unter anderem weil 2022 »erneut zu trocken und zu warm« war. Beim Deutschen Wetterdienst gibt es dazu die genaueren Daten: » 2022 war das sonnenscheinreichste und gemeinsam mit 2018 wärmste Jahr in Deutschland seit Beginn der systematischen Wetteraufzeichnungen mit einem deutlichen Niederschlagsdefizit.« Seit Beginn der 1970er Jahre, so Andreas Becker, Leiter der Abteilung Klimaüberwachung im DWD, habe »sich dieser Erwärmungstrend deutlich beschleunigt und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich dieser in den nächsten Jahren verlangsamen wird. Wir erleben inzwischen Hitzeperioden und -intensitäten, die wir aus den Klimamodellen eigentlich erst in ein paar Jahrzehnten erwartet hätten. Dies alles muss für uns eine starke Motivation sein, den Klimaschutz in Deutschland und global bedeutend stärker voranzutreiben«.

#3 Weckrufe und Anlässe für gesteigerte Motivation - daran also besteht kein Mangel. Warum passiert dennoch zu wenig? Geog Diez nimmt einen Gedanken auf, den wir hier mit Blick auf die Ergebnisse des Gießener »Panel on Planetary Thinking« auch schon einmal vorgestellt hatten: »Kann es sein, dass wir immer noch nicht weit genug denken?« Ja, findet auch Diez und spricht sich für »eine neue Vorstellung von Welt« aus, »die den realen Gegebenheiten besser entspricht: Das Konzept der Welt, das auf Menschensicht beruht, muss ersetzt werden durch jenes des Planeten, des Planetaren, also die Gesamtheit dessen, was als Lebendiges oder auch Nicht-Lebendiges auf dieser Erde existiert, vernetzt, verbunden, verletzlich als System, überlebensfähig als System ist.« Dies sei eine Voraussetzung dafür, »dass wir unsere Politik radikal anders organisieren« können, man könne nicht weiter »mit einer Art von Politik, die radikalen Individualismus fördert, auf komplexe Probleme reagieren. Wir brauchen eine neue Form von Politik, die der Form der Wirklichkeit entspricht – und diese Form ist planetar.« Diez schließt hier zunächst an den italienischen Philosoph Lorenzo Marsili und seien 2020 erschienenes Buch »Planetary Politics« an, der einen Blockadegrund darin sieht, »dass unsere Vorstellungskraft an den Grenzen des Nationalstaates Halt macht«. Eine planetare Politik brauche auch transnationale Parteien, »grenzüberschreitende Interessenskoalitionen…die gemeinsam Forderungen formulieren«. Das wäre in der Tat eine »weitere kopernikanische Wende, eine fundamentale Revision unserer Weltsicht«, wie es Diez formuliert.

#4 Ungeahnte Folgen gelingender Klimapolitik greift Joachim Müller-Jung in seiner Berichterstattung zum jüngsten IPCC-Bericht auf: »Die lange Zeit stabile Energiebilanz des Planeten droht aber noch über andere Wegen schneller als gedacht aus der Balance zu geraten. Der sogenannte Schatteneffekt ist da zuletzt besonders aufgefallen.« James Hansen, Makiko Sato und andere gehen in ihrer Studie »Global warming in the Pipeline« von einer Verdoppelung der Erwärmungsrate aus - weil die Luftverschmutzung zurückgeht. Partikel, die etwa mit Abgasen aus fossiler Verbrennung emittiert werden, wirken wie ein Strahlungsschirm: Schmutzaerosole kühlen die Luft etwas ab. Wenn dieser Effekt nun aufgrund wirksamer Regelungen zur Reinhaltung der Luft schwächer wird, steigt die Erwärmung und das offenbar ziemlich schnell. Seit etwa 1970 hat die zunehmende Erderhitzung durch Treibhausgase die Abkühlung durch Aerosole übertroffen, »was zu einer globalen Erwärmung von 0,18°C pro Jahrzehnt führte«, schreiben Hansen, Sato und viele Mitautorinnen. Da die Abkühlung durch Aerosole bisher unterschätzt worden sei, zugleich aber Politiken der Reduzierung von Partikeln greifen, fordern sie »einen neuen Ansatz, der sich mit den bisherigen und künftigen Emissionen befasst«. Joachim Müller-Jung verdeutlicht die Dimension der Veränderungen: Der Überschuss bei der Einstrahlung und Abstrahlung von Wärmeenergie auf der Erdoberfläche habe »zuletzt zweimal hintereinander« absolute Rekordwerte ergeben; es sei »exorbitant viel Energie aufgenommen und ins Klimasystem gespeist« worden. »Über das Jahr gesehen, handelt es sich um die gleiche Energiemenge, die frei wird, wenn in jeder Sekunde zwölf Hiroshimabomben in die Luft gehen

#5 Apropos Rekorde: »Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sei der globale Wasserkreislauf aus dem Gleichgewicht geraten«, berichtet Alexandra Endres unter Berufung auf den ersten Weltwasserbericht der Global Commission on the Economics of Water, die von der Regierung der Niederlande einberufen und von der OECD unterstützt wird. Es werde keine Lösung der Klimakrise geben, »wenn wir die Wasserproblematik nicht lösen. Wir werden auch bei allen Zielen für nachhaltige Entwicklung scheitern«, heißt es in dem Report: »Kein Mensch, kein Ort, keine Wirtschaft und kein Ökosystem wird verschont bleiben.« Man sehe jetzt die Folgen »davon, dass wir jahrzehntelang weltweit schlecht mit Wasser umgegangen sind«, man stehe nun »vor einer systemischen Krise, die sowohl lokal als auch global ist«. Kollektives Handeln habe den weltweiten Wasserkreislauf »aus dem Gleichgewicht gebracht, was überall zunehmenden Schaden anrichtet«. Länder seien nicht nur durch grenzüberschreitende Flüsse oder Grundwasserströme, sondern auch durch atmosphärische Wasserdampfströme miteinander verbunden - was die Notwendigkeit planetarer Perspektiven unterstreicht. Wasser hänge »immer enger mit dem Klimawandel und dem Verlust der biologischen Vielfalt« zusammen. Die Probleme könne man »nur gemeinsam lösen. Und das nur, wenn wir schnell handeln.« Noch so ein Weckruf, schon wieder. Fünf Tage später kam der UN-Weltwasserbericht heraus. »Bisher gibt es keinen internationalen Vertrag zu dem Thema und keine Wasser-Organisation der UN. Die letzte Wasserkonferenz ähnlicher Größe hatte im Jahr 1997 in Argentinien stattgefunden«, wird dazu berichtet.

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