»Die große Herausforderung« (2005)

Für einen »neuen Frühling des marxistischen Denkens« plädierte 2005 Michael Löwy - ein sozialistisches Projekt könne »nicht nur auf eine neue Gesellschaft und eine neue Produktionsweise«, sondern müsse »auch auf ein neues Zivilisationsmuster« zielen. Aus dem Archiv linker Debatte.

// Die ökologische Frage ist meines Erachtens die große Herausforderung für einen neuen Frühling des marxistischen Denkens an der Schwelle des 21. Jahrhunderts. Sie verlangt von den Marxisten einen radikalen Bruch mit der Ideologie des linearen Fortschritts und dem technologisch-ökonomischen Paradigma der modernen industriellen Zivilisation. Zwar geht es – selbstverständlich – nicht darum, die Notwendigkeit des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der Steigerung der Arbeitsproduktivität in Frage zu stellen: Das sind unumgängliche Voraussetzungen für zwei wesentliche Ziele des Sozialismus, die Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse und die Verkürzung des Arbeitstags. Die Herausforderung besteht darin, den Fortschritt so umzulenken, daß er mit der Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts des Planeten verträglich wird.

Die Achillesferse der Marx-Engelsschen Argumentation war eine in manchen »kanonischen« Texten auftretende unkritische Auffassung der kapitalistischen Produktivkräfte – das heißt des modernen industriekapitalistischen Technik- und Produktionsapparats –, als ob diese »neutral« seien und als ob es genüge, daß die Revolutionäre sie vergesellschaften, ihre private Aneignung durch gemeinschaftliche Aneignung ersetzen, sie zugunsten der Arbeitenden laufen lassen und sie schrankenlos entwickeln.

Ich denke, daß für den vom Kapital geschaffenen Produktionsapparat dasselbe Argument gelten muß, wie Marx es im Bürgerkrieg in Frankreich für den Staatsapparat geprägt hat: »Aber die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen.« Mutatis mutandis können die Arbeitenden nicht einfach die kapitalistische Produktions»maschinerie« in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen; sie müssen sie radikal nach sozialistischen und ökologischen Kriterien transformieren – das Äquivalent dessen, was Marx in einem Brief an Kugelmann zur Pariser Kommune als Zerschlagen des bürgerlichen Staatsapparats bezeichnet. Das beinhaltet nicht nur die Ablösung destruktiver Energieformen durch erneuerbare, nicht verschmutzende Energiequellen wie die Solarenergie, sondern auch eine tiefgreifende Umgestaltung des vom Kapitalismus überkommenen Produktionssystems sowie des Verkehrssystems und des urbanen Siedlungssystems.

Kurzum, der Ökosozialismus beinhaltet eine Radikalisierung des Bruchs mit der kapitalistischen materiellen Zivilisation. In dieser Sichtweise zielt das sozialistische Projekt nicht nur auf eine neue Gesellschaft und eine neue Produktionsweise, sondern auch auf ein neues Zivilisationsmuster. //

aus Michael Löwy: Destruktiver Fortschritt. Marx, Engels und die Ökologie, in: Utopie kreativ, Heft 174 (April 2005).

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