Klimanotizen 46

Unsere Ostereier: neue Daten und Studien zum Klimawandel, bei dem weiter umstritten bleibt, ob er nun schneller wird oder nicht. »Die Wahrheit ist schon schlimm genug«, sagt ein Experte. Außerdem bleiben wir beim Problemthema Wachstum und fragen, warum die Klimabewegung keine Pop-Hymnen hat.

#1 Wo stehe wir? An dem Punkt, wo das Editorial Board der »Financial Times« solche Leitartikel schreibt: »In einem Ausmaß, das allgemein nicht anerkannt wird, erwärmt sich die Welt derzeit in einem Tempo, mit dem Wissenschaftler nicht gerechnet haben und das alarmierenderweise nicht vollständig verstanden wird.« Zitiert wird unter anderem Gavin Schmidt, Direktor des Goddard Institute for Space Studies der NASA, mit der Warnung, dass die Daten darauf hindeuten könnten, dass ein sich erwärmender Planet bereits »die Funktionsweise des Klimasystems grundlegend verändert«, dahingehend aber »eine beispiellose Wissenslücke« herrsche. Einer von Schmidts Vorgängern auf dem Posten war übrigens James Hansen, dessen Hinweise darauf, dass die globale Erwärmung sich beschleunigen könnte, derzeit umstritten sind.

#2 Diese Debatte geht natürlich weiter, nicht immer direkt, aber die Aufstellung auf dem Spielfeld ist deutlich: Hier jene, die den Eintritt ins Unbekannte als vollzogen ansehen mit allen, schwerlich prognostizierbaren Folgen, dort andere, die trotz der jüngsten Extreme »die globalen Temperaturen deutlich innerhalb des von Klimamodellen prognostizierten Bereichs« sehen. Oder in den Worten von Michael E. Mann: »Die Wahrheit ist schon schlimm genug.« Das zeigt etwa ein Blick in den »State of the Global Climate 2023« der Weltwetterorganisation WMO, laut dem »bei den Treibhausgaswerten, den Oberflächentemperaturen, der Hitze und Versauerung der Ozeane, dem Anstieg des Meeresspiegels, der antarktischen Meereisbedeckung und dem Gletscherrückgang erneut Rekorde gebrochen« wurden. Diskutiert werden die Ergebnisse unter anderem hier von Experten. Und hier werden Hinweise darauf besprochen, dass die Methan-Emissionen aus Lecks bei der Förderung größer als angenommen sind. 

#3 Das Climate Service Center Germany hat den »Klimawandel in Deutschland« neu aufgelegt - eine umfassende Darstellung von Klimawandel und Klimawandelfolgen in einem interdisziplinären Ansatz, in dem zahlreiche Fachgebiete und Themen zusammengeführt werden. Die Beiträge von über 165 Expertinnen über Auswirkungen und Handlungsmöglichkeiten gibt es hier im Open Access zum Download. Der Gesamtwasserspeicher in Deutschland hat sich im Jahr 2023 zwar etwas erholt, im Vergleich zum langjährigen Mittel fehlen aber immer noch rund 10 Milliarden Tonnen Wasser - das ist eine der Erkenntnisse aus den neuen Daten zum Wasserhaushalt 2023, die auf der Auswertung des aktuellsten Datensatzes des Satellitenduos GRACE-Follow-On durch Forschende des GeoForschungsZentrums basiert. Das Ganze und noch viel mehr wird im neuen Informationsportal globalwaterstorage.info aufbereitet. Enorme Schmelzraten von 130 Metern pro Jahr unter dem 79° N Gletscher im hohen Nordosten Grönlands haben Messungen unter Leitung des Alfred-Wegener-Institut ergeben: Die Dicke des Gletschers nahm seit 1998 um mehr als 160 Meter ab. Wie sich Trockenheit auswirkt und zwar großflächig und gleichzeitig auf Flusspegel und Grundwasserspiegel, hat das Schweizer WSL-Instituts für Schnee- und Lawinenforschung erkundet - mit für die Wissenschaftler überraschenden Ergebnissen. Und: Eine neue Studie befasst sich mit den Folgen von Chat GPT und anderen »KI«-Anwendungen - diese können dem Klima gewaltig schaden und zugleich der Erreichung von Klimazielen nützen, wie die »Klimareporter« zusammenfassen.

#4 Apropos Klimaziele: Laut Umweltbundesamt sind die Klimaemissionen im vergangenen Jahr hierzulande um 10,1 Prozent gesunken, das war der größte Rückgang seit 1990. Insgesamt wurden 2023 in Deutschland rund 674 Millionen Tonnen THG freigesetzt. Diskutiert worden sind in der Öffentlichkeit nach der Vorstellung der UBA-Projektion, die immerhin die Botschaft enthielt, das nationale Klimaziel bis 2030 sei erreichbar, drei Aspekte: der erfreuliche Anstieg des Anteils erneuerbarer Energien, der mit dem Rückgang der fossilen Energieerzeugung einhergeht; die Probleme in den Sektoren Verkehr und Gebäude sowie die Tatsache, dass ein Teil der zurückgehenden Emissionen auf die gesunkene Energienachfrage bei Wirtschaft und Verbrauchern zurückzuführen ist. »Auf Kurs auch dank Wirtschaftsflaute«, hieß es bei einer führenden öffentlichen Nachrichtensendung, »schlechte Konjunktur lässt sich jedoch ebenfalls kaum als Klimaschutzerfolg verkaufen«, befand ein führendes privates Nachrichtenmagazin

#5 Man könnte die Pointe auch anders setzen, etwa so: Die Daten des Umweltbundesamtes zeigen, dass Klimaziele eher oder überhaupt nur erreicht werden können, wenn es bei anderen, konjunkturellen Indikatoren »schlecht« läuft. Weniger Wachstum, mehr Klimaschutz? Jeder sieht sofort ein, dass das auch mit Problemen einhergeht, etwa verteilungspolitischen. Wir hatten hier aber schon angemerkt, dass es in Zukunft nicht mehr um die Verteilung von Zugewinnen an Wohlstand gehen wird, sondern sich die Konflikte um die Verteilung von Verlusten drehen werden. Die Frage ist, welchen Stellenwert man der Erreichung von Klimazielen einräumt. Wenn man die Aufmerksamkeit als Maßstab nimmt, das ein wenige Tage nach Veröffentlichung der UBA-Projektion vorgestelltes Papier des Sachverständigenrates für Umweltfragen erhalten hat, kann man pessimistisch werden. Über die ausführlich begründete Einladung zur Diskussion über Suffizienz als »Strategie des Genug« ist kaum die Rede gewesen - obwohl es, wie der Rat feststellt, »Zeit ist, sich diesem schwierigen Thema zu stellen«. Ratsmitglied Wolfgang Lucht vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung nennt es hier »unbestreitbar, dass wir ökologisch über unsere Verhältnisse leben. Gleichzeitig haben viele Menschen keinen ausreichenden Zugang zu Energie und Ressourcen. Wie kann unsere Zivilisation also ökologischer und zugleich gerechter werden? Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen ist nicht einfach, angesichts der Krisen aber Teil eines notwendigen Lernprozesses.« Den man allerdings auch wollen muss. Das Papier des SRU mit seinen 16 Thesen, die ethische und Freiheitsfragen genauso behandeln wie verteilungspolitische, bietet dafür eine gute Grundlage. Suffizienz wird hier nicht vorderhand als individuelle Lebensstilfrage diskutiert, es geht um Politiken und Strukturen der Ermöglichung, wieder zurück hinter die zurzeit überschrittenen elementaren planetaren Belastungsgrenzen zu kommen. Die Lösung liege dabei nicht in einer Entscheidung in der polarisierten Debatte zwischen grünem Wachstum und Postwachstum, das »bringt uns nicht weiter«, sagt Claudia Kemfert. Klar sei aber: »Bereiche, die der Umwelt und dem Klima schaden, dürfen nicht immer weiter wachsen

#6 Weil Osterwoche heute mit einem zusätzlichen Punkt aus der Welt von Bewegung und Popkultur verbunden mit einer Hörempfehlung. Diedrich Diederichsen hat mit der »Zeit« gesprochen - und anderem über die Frage, warum die Klimabewegung eigentlich nicht von Popmusik getragen wird. Anders als früher, als Pop noch für utopische Veränderungshoffnungen stand, gebe es heute »keine Perspektive für eine positive Entwicklung. Sondern es geht nur noch um die Frage: Soll man die Apokalypse abzuwehren versuchen, oder soll man es lassen? Es ist auffällig, dass die Bewegungen, die sich noch an der Verhinderung der Apokalypse versuchen, der Klimaaktivismus zum Beispiel, keine Hymnen besitzen, keinen Soundtrack. Der Widerstand gegen den Untergang läuft, anders als zu Zeiten von Joy Division und Einstürzende Neubauten, weitgehend ohne Popmusik.« Auf den Einwand hin, dass das auch schon bei der Ökobewegung in den 1980er so gewesen sei, wofür auf das »gruselige« Beispiel »Karl, der Käfer« der Band »Gänsehaut« verwiesen wird, sagt Diederichsen: »Es gibt überhaupt nur drei gute Songs über die ökologische Apokalypse, alle von Jefferson Airplane, 1968/69: The House at Pooneil Corners, Eskimo Blue Day und natürlich Wooden Ships.« 

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