Klimanotizen 45
Wir kommen nicht schnell genug voran. Realpolitik ist zu Realitätsverlust geworden, dagegen helfen könnten radikale Ehrlichkeit und »nachdenklicher Realismus auf empirischer Grundlage«: Es geht nicht mehr um die Verteilung von Zugewinnen an Wohlstand, sondern um die Verteilung von Verlusten.
#1 Wo stehen wir? Auf dünnem Eis. Sorry für den schlechten Witz, aber es gibt Neuigkeiten zum weltgrößten Gletscher, dem Thwaites, dessen Abschmelzen Folgen für die gesamte Welt hätte. Oder sagen wir: hat. Denn er schmilzt ja und darüber weiß man jetzt mehr als zuvor. Eine andere Studie zeigt, wie die sich durch Klimawandel häufenden Hitzetage das Risiko für Frühgeburten deutlich erhöhen und wie Maßnahmen der Klimaanpassung den Effekt wiederum kleiner halten. Auch die in so genannten Sozialen Medien mit eindringlichen Mahnungen herumgereichten Grafiken werden nicht seltener, auf denen man die roten Linien aktueller Klimadaten weit über den Rekordkurven des letzten Jahres sieht. Die Weltmeere sind so warm wie noch nie, weshalb man hier schon der Frage nachgeht: »Ist das die globale Erwärmung, oder passiert da noch mehr?« Die Debatte um die von James Hansen und anderen aufgeworfene These einer beschleunigten Erwärmung wird da ausführlich vorgestellt; auch jene Stimmen kommen zu Wort, die das vorliegende Datenmaterial anders interpretieren. Zu den möglichen Ursachen für die Hitzewelle wird die Eruption des Hunga Tonga–Hunga Haʻapai gezählt; hier kann man sehen, wie viel Wasserdampf dabei in die Atmosphäre gelangte und dort auch weiterhin ist. Wie groß der Beitrag zur Erwärmung ist, mag umstritten sein; dass die Erwärmung der Ozeane neue Ausmaße erreicht hat, lässt sich schwerlich bestreiten: Johann Grolle hat hier dazu ein anschauliches Bild formuliert: Die vom Wasser aufgenommene Wärmemenge lag 2023 »um 15 Zettajoule höher als im Vorjahr. Dieser Anstieg allein entspricht etwa dem 25-Fachen des Weltenergieverbrauchs oder der Energiemenge, die entstanden wäre, wenn man das gesamte Jahr hindurch jede Sekunde acht Hiroshima-Bomben gezündet hätte.«
#2 Und die Klimapolitik? »Wir kommen nicht schnell genug voran«, sagt der Chef des Umweltbundesamtes. »Und neue Prognosen sagen uns, dass katastrophale Folgen des Klimawandels viel schneller eintreten könnten. Das heißt: Die Bedrohung hat zugenommen, die Resignation aber auch.« Dass Veränderungen »für eine Gesellschaft immer ein Kraftakt« sind, weiß Dirk Messner natürlich auch. »Dazu muss man sich politisch durchringen.« Aber warum und wer ringen sich denn da aus welchen Gründen offenbar nicht ausreichend durch - und zu was eigentlich? Ist es eine Frage des persönlichen Kanzlerformats, wie Bernd Ulrich meint? Sein Hinweis auf die zwei soziologischen Muster, die Olaf Scholz prägen, ist erhellend: Erstens die »liturgische Läuterung« sozialdemokratischer Karrieren von der Radikalität zu einer »Realpolitik«, die das heute nicht mehr sein kann, weil Realismus ja gerade zu radikalen Maßnahmen zwingt. Zweitens Scholz’ Zugehörigkeit zur Boomer-Generation, wobei Ulrich diese Prägung zumutungssoziologisch deutet, weniger mit Blick auf die Tatsache, dass es sich um jene Kohorten handelt, deren Leben, deren Normen, deren Erwartungshorizonte auf dem Fundament eines fossilistischen Klassenkompromisses aufgebaut wurde, dessen naturzerstörerische Wirkung nun gern verdrängt wird, weil man an den wohlfahrtsstaatlichen Erfolgen von früher gern festhalten würde. Doch »die positive Nostalgie ist tot. Es gibt kein Zurück«, könnte man hier den Politikpsychologen Thomas Kliche einsetzen lassen - der außerdem daran erinnert, dass »nicht viel positiv« war an der Zeit, »in der Kinder und Frauen zu Hause verdroschen wurden, in der der ›blaue Himmel über der Ruhr‹ ein Wahlkampfthema war, weil man nur Qualm sehen konnte, in der die alten Nazis in praktisch jeder Ecke eine Generation lang heimlich weiter gewerkelt haben. Nostalgie ist ein anderer Ausdruck für Denkfaulheit und Gefühlsträgheit, nämlich die klammheimliche Hoffnung, den schmerzhaften Aufbruch doch noch zu vermeiden.«
#3 Aber wie bekäme man diesen hin? Und was müsste diesen ausmachen? Kliche plädiert dafür, »die Gesellschaft muss sich durchgehend zur Vernunft, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit verändern«. Das ist erst einmal eine recht vage Richtungsanzeige; sie wird ergänzt um Maßstäbe politischer Praxis, die hier als Handlungstipps gegen Rechtspopulismus formuliert sind, an denen sich Parteien und andere Akteure aber auch generell auf ihre »klimapolitische Performance« einmal messen lassen können: Ehrlichkeit auch mit Blick auf eigenes bisherigen Versagen; Formulierung von einschneidenden Maßnahmen für eine andere, bessere Politik, »sonst ist die Reue unglaubwürdig«; dabei sich von Radikalität und Weitsicht leiten lassen, wozu die klare Ansage gehöre, »wem wird was warum wehtun, und warum ist das dennoch unabdingbar«; schließlich: eine ergebnisorientierte Zuverlässigkeit. Kliches Insistieren darauf, dass Politik aber ebenso auch soziale Bewegungen, Zivilgesellschaft sagen können müssen, was die jeweiligen »Mindestforderungen für echte Problemlösung« sind, führt freilich über den Radius persönlicher Eigenschaften von Kanzlern und wem auch immer hinaus. Es ist eben dann doch nicht nur eine Sache des politischen Durchringens von »Entscheidern« oder »Konsumenten«. Sondern eine der »unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«, unter denen Menschen ihre eigene Geschichte machen, wie das einmal jemand formuliert hat. Mit den unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen sowie ihrer Wirkung auf soziales Handeln und soziale Strukturen befasst sich die Soziologie. Im Editorial der gleichnamigen Zeitschrift stellt Andreas Diekmann fest: »Der Klimawandel, das drängendste Problem dieses Jahrhunderts, spiegelt sich in der Soziologie kaum wider.« Der Text hinterlässt ein wenig den Eindruck, er verfolge einen Pappkameraden. Wird nicht alle paar Tage ein Forschungsergebnis veröffentlicht? Sind debattenprägende Bücher wie das von Steffen Mau und anderen, die Verlust-Thesen von Andreas Reckwitz, die reichhaltigen empirisch angelegten Studien zu Klimabewusstsein, blockierter Veränderungsbereitschaft und den sozialen Ungleichheitsstrukturen der Transformation nicht dutzendfache Gegenargumente zu Diekmanns These? Sein Text umreißt aber gut, was beforscht wurde, wird und was zu beforschen ist.
#4 »Langfristige Ziele werden in der Politik schnell formuliert, wesentlich zäher ist die tatsächliche Umsetzung«, schreibt Diekmann an einer Stelle, und genau an der setzt Jens Beckerts neues Buch an: »Verkaufte Zukunft.« Es will erstens erklären, »warum es nicht gelingt, die notwendigen Pläne zu verabschieden und politisch gesetzte Ziele zu erreichen«. Beckert geht dabei zweitens von einem »pessimistischen Schluss« aus: »Die nötigen Veränderungen bedürften nämlich grundlegend veränderter wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Strukturen. Ein solcher tiefgreifender Wandel ist überhaupt nicht in Sicht und wäre ohnehin nur über einen längeren Zeitraum zu bewerkstelligen.« Für diesen ist keine Zeit mehr, weshalb man die Perspektive ändern solle: Hin zu einem »nachdenklichen Realismus auf empirischer Grundlage«; mit Walter Benjamin im Kopf will Beckert »dazu beitragen, den Pessimismus, der sich aus der nüchternen Beobachtung der Situation ergibt, ›zu organisieren‹«. Das so zu erreichende Verständnis der blockierenden Mechanismen würde, drittens, dabei helfen, wenigstens das, was noch möglich ist, erfolgreicher umzusetzen: Begrenzung der Krise, Anpassung an gravierend veränderte Lebensbedingungen auf dem Planeten, die mit gravierend veränderten sozialen und politischen Umständen einhergehen werden. Zu den charakteristischsten Veränderungen gehöre, dass es in Zukunft nicht mehr um die Verteilung von Zugewinnen an Wohlstand gehen wird, sondern sich die Konflikte um die Verteilung von Verlusten drehen werden.
#5 Um genau diesen Punkt geht es auch in Hans-Jürgen Urbans Kurzfassung einiger Gedanken, die ausführlicher in einem Gespräch mit Stephan Hebel dargelegt sind: Das Modell des fossilen Wohlfahrtsstaatskapitalismus ist am Ende, das bisher soziale Integration im hiesigen Kapitalismus ermöglicht hat und damit den Rahmen einer »politischen Wohlfahrtsproduktion« bildete, die nahezu alles, was unseren Alltag prägt, bestimmt. Urban redet hier nicht der von Kliche kritisierten Nostalgie das Wort, im Gegenteil: Er drängt darauf, dass die Gewerkschaften (man könnte das aber über diesen Bezug hinaus auch an die politische Linke adressieren) sich der »Jahrhundertaufgabe mit hohen Risiken« stellen. Es werden eben ganz andere Verteilungskonflikte sein, in denen man sich bewegen muss, wenn diese sich nicht mehr um die Zuwächse drehen, sondern man »direkt in Besitzstände eingreifen« muss, weil es um die Verteilung von Verlusten geht. Urban schlägt »fünf Essentials eines alternativen Entwicklungsmodells« vor und plädiert »für einen neuen ökosozialen Reformismus«. Dieser müsse sich »insbesondere in vier Punkten von seinem traditionellen Vorgänger unterscheiden«. In beiden Listen steht die Wachstumsfrage ganz oben, in beiden folgt darauf die zeitpolitische Dimension der Planetaren Krise. Wohnt Urbans Plädoyer noch etwas mehr die Hoffnung auf eine gelingende Transformation inne, fokussiert Beckert schon deutlicher darauf, was ihr Scheitern für neu zu lösende Fragen aufwirft. Dennoch ergänzen sich beide Sichtweisen, eben in jenem »nachdenklichen Realismus auf empirischer Grundlage«. Auch Urbans Skepsis - »Wenig spricht dafür, dass sich die Gesellschaft über die Tragweite des endgültigen Endes des Wohlfahrtsstaatskapitalismus bewusst ist. Bisher ist jedenfalls kein neuer Mechanismus der politischen Wohlfahrtsproduktion in Sicht« - ist keine Absage an Anstrengungen, solche Lösungswege weiterhin zu suchen und zu begehen. Ein erster Schritt ist so oder so - radikal ehrlich zu sein darüber was nicht mehr geht. Man wird sich nicht nur vom bisherigen Wachstum verabschieden müssen, sondern auch von linken Lösungsillusionen.