Klimanotizen 43
Klimapolitisch ist aus einem Vorsprung des Wissens ein Rückstand des Handelns von 128 Jahren geworden. Doch es gibt auch Gründe für eine vorsichtige Klimahoffnung. Die falschen Botschaften der Parteien gehören nicht dazu. Wird die Letzte Generation das Feld aufmischen? Will sie denn überhaupt?
#1 Wo stehen wir? Man könnte sagen: 128 Jahre im Rückstand. Der US-Blogger Jason Kottke nennt es »unseren verpassten Vorsprung in der Klimakrise« - immerhin haben schon 1896 Wissenschaftler festgestellt, dass die Industrialisierung der Atmosphäre CO2 hinzufügt; auch quantifizierten sie, wie stark das die Erde erwärmen würde. Ihre Forschung veröffentlichten Svante Arrhenius und Arvid Hogbom 120 Jahre nach der Entwicklung der Dampfmaschine durch James Watt. Seit den Berechnungen ist bis heute also mehr Zeit vergangen, als zwischen der bahnbrechenden Veröffentlichung und dem Beginn der industriellen Revolution. Über die Rolle von Arrhenius und Hogbom in der Klimawissenschaft, erzählt hier die Meteorologin Leonore Jungandreas mehr. »Heutige Klimamodelle bilden die Realität sehr viel besser ab«, sagt die Leipziger Klimaforscherin da unter anderem. Womit wir bei einer Klimameldung wären, die viele Schlagzeilen gemacht hat: »Forscher warnen vor ›verheerendem Kipppunkt‹ bei Strömungen im Atlantik«, heißt es zum Beispiel hier. Die zugrundeliegende Studie dürfte auch deshalb für so viel Aufmerksamkeit sorgen, weil sie drei verbreiteten Alltagsintuitionen widerspricht: Bricht das komplexe Zusammenspiel von Meeresströmungen aufgrund der Erderhitzung zusammen, sind die Folgen vor allem in Europa spürbar (nicht irgendwo in der Ferne), es muss mit einem drastischen Temperatursturz gerechnet werden (es wird also nicht wärmer, was freilich keine Neuigkeit ist); außerdem könnte der Meeresspiegel in einem Maße und Tempo ansteigen, das eine Anpassung an die gravierenden Veränderungen unmöglich wird (es wird also nicht doch noch dank Adaption gutgehen). Die Ergebnisse der Forschungsarbeit sind umstritten, das ist beim Thema AMOC keine Neuigkeit, wie man das schon bei einer ähnlichen Studie vor einem halben Jahr verfolgen konnte. Eine gute fachliche Einordnung der neuen Arbeit gibt es von Stefan Rahmstorf. Oder bei Inside Climate News.
#2 Die Veröffentlichung ist vielfach zum Anlass genommen worden, zu wirksamerer und schnellerer Klimapolitik aufzurufen; ein Adressat sind also die Parteien. Wie sieht es da aus? Schlecht, sagen die Psychologen Myriam Bechtoldt und Felix Peter von Psychologists for Future. »In mal stärkerer, mal schwächerer Form« würden »in weiten Teilen alle im Bundestag vertretenen Parteien« die Botschaft aussenden: »Wir müssen uns nicht verändern, damit alles gut wird.« Diese Parteien »betonen die Nachteile von Klimaschutz, sagen, dass er teuer sei oder sozial ungerecht oder dass uns technologische Lösungen bald retten. So haben wir über alle Parteien hinweg eine Kommunikation der Verzögerungsdiskurse oder Beruhigungspillen.« Parteien reagieren damit teils auch auf Einstellungen in der Bevölkerung – die sie mit ihrer Reaktion zugleich aber wieder beeinflussen. Wie verschiedene Milieus ticken, dafür gibt es jetzt von der Ebert-Stiftung und dem Forschungshaus Pollytix neue Daten. »Auf der einen Seite zeigt sich, dass das Problembewusstsein im Bereich Klimaschutz nach wie vor auf einem hohen Niveau ist«, heißt es da unter anderem. Gleichzeitig zeige sich aber, »dass sich die wahrgenommene Problemlösungsfähigkeit der Politik auf einem Tiefstand befindet. In Bezug auf die Klimapolitik besteht in der Bevölkerung aktuell zudem der Eindruck, von der Regierung werde kein klarer Plan verfolgt.« Eine zentrale Schlussfolgerung dieser Arbeit lautet: »Veränderungsbereitschaft braucht eine planvolle und ambitionierte Klimapolitik.« Anmerkungen zur Rolle der Veränderungsbereitschaft, die zur Praxis nur führen wird, wenn individuelles Wollen auf öffentlich ermöglichtes Können trifft, haben wir unter anderem hier und hier formuliert.
#3 Gelingende Klimapolitik hat also auch etwas mit positiver Kommunikation zu tun, bei der die Möglichkeiten der Zukunft mindestens ebenso betont werden wie glaubwürdige Maßnahmen, die dorthin führen. »Wir schaffen das«, lautete einmal eine berühmte Formulierung. Aber was schaffen wir denn? Vor ein paar Tagen hat Zeke Hausfather vor dem Hintergrund eines »düsteren Meilensteins« - laut EU-Klimawandeldienst Copernicus lagen die weltweiten Durchschnittstemperatur erstmals zwölf Monate lang über 1,5 Grad Celsius höher im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter - »einige Gründe für eine vorsichtige Klimahoffnung« formuliert. Hausfather bringt eine ganze Reihe von Daten dafür zusammen. »Wir sind weit davon entfernt, unsere Klimaziele zu erreichen, und es bleibt noch viel zu tun. Aber die positiven Schritte, die wir unternommen haben, sollten uns darin bestärken, dass Fortschritt möglich und Verzweiflung kontraproduktiv ist.« Auch die Datenwissenschaftlerin Hannah Ritchie meint in der BBC, dass die vom anthropogenen Klimawandel erzeugten Schäden auf dem Planeten bald ihren Peak überschreiten können. Die Wissenschaft sei »sich ganz klar darüber, dass es nie zu spät ist.«
#4 Eine Autorengruppe um Aljoša Slameršak hat in einer neuen Studie gezeigt, »dass ein geringes Wachstum es einfacher macht, die Emissionen in einer Weise zu senken, die einer Erwärmung von 1,5 bis 2 Grad Celsius entspricht«. Wie solche Vorschläge aus der Post-growth-Szene in Zeiten aufgenommen werden, in denen die Folgen der bereits laufenden Transformation oft unter wutbewirtschaftenden Losungen wie »Deindustrialisierung« und »Unser Wohlstand ist in Gefahr« diskutiert werden, mag man sich denken. Auch das hat Auswirkungen auf die Veränderungsbereitschaft und das Zutrauen in gelingende Klimapolitik. Eine andere, aber ebenso mit dem Problem Wachstum verbundene Frage ist die, ob es eine Widerspruch zwischen der Bekämpfung extremer Armut durch Wirtschaftswachstum und der Bekämpfung der Klimakrise gibt. Nein, sagt der Entwicklungsökonom Lant Pritchett in seinem Blog und zeigt am Beispiel der Subshara-Region und unter Verweis auf eine aktuelle Studie, selbst wenn dort das zur Überwindung der Armut nötige Wirtschaftswachstum dem historischen Muster bei der Energieintensität folge, dies keinen nennenswerten Effekt auf den Klimawandel habe.
#5 Die Meldung, dass die Letzte Generation zur Europawahl antreten will, hat für weniger Schlagzeilen gesorgt, als die Nachrichten vom Antritt anderer gerade neu gegründeter Parteien. Man kann den Schritt der Aktivistinnen aufs wahlpolitisch-parlamentarische Feld als weiteres Symptom dafür betrachten, dass eine schon länger bestehende Form-Substanz-Krise des Politischen in die vorhergesagte Neuordnung des Parteiensystems mündet. Wenn man, wie unter anderem hier vorgeschlagen, die »Trennlinie zwischen Fossilisten und Postfossilisten« dabei für eine entscheidende hält, lässt sich die LG leicht einordnen. Dass es weniger um Durchsetzungsperspektive und Machbarkeit geht, sagt Carla Hinrichs - sondern darum, »endlich die Stimme des Widerstands ins Parlament« zu tragen. Der Aktivist Tadzio Müller findet die Idee gar nicht gut und fürchtet, »jeder Wahlkampfauftritt der ›Klimakleber‹ wird mehr Menschen rechts und gegen das Klima mobilisieren, als links und für das Klima«. Von dort, wo man sich für ganz links hält, heißt es, die LG habe schon immer für »vollendeten Politinfantilismus« und staatstragende Appelle an die Herrschaft gestanden. Hier dagegen findet man, der Schritt »könnte die Bewegung aber trotzdem weiterbringen. Den Versuch ist es wert«.