Klimanotizen 38

Im Ringen um den Erhalt der 1,5-Grad-Grenze sind 19 Jahre verloren worden. Und das in nur sieben Jahren. Werden die COP28-Verabredungen daran etwas ändern? Wie steht es um die Veränderungsbereitschaft? Wie um unsere Handlungsfreiheit? Und was macht die Schuldenbremse daraus?

#1 Wo stehen wir? Vor jeder Menge Ausreißern auf Klimadiagrammen, und das ist eine leider ebenso erwartete wie schlechte Nachricht. Die Temperaturen auf der Nordhalbkugel haben in den letzten drei Monaten den bisherigen Rekord um etwa 0,5 Grad Celsius übertroffen. Eine in Klimafragen gewaltige Differenz, die Zack Labe von der Princeton University mit einem fassungslosen »Äh« kommentiert. »Das Ausmaß des Sprungs in einem Jahr hätten sich Meteorologen nie vorstellen können«, sagt Jeff Berardelli. Es wird darüber zu diskutieren sein, wie stark sich hier eine bedrohliche Beschleunigung der globale Erwärmung zeigt, wie James Hansen und andere meinen, die davon ausgehen, dass schon in den nächsten Monaten die Temperaturwerte »jeden Zweifel« daran ausräumen werden: »dass die 1,5-Grad-Grenze bereits überschritten wurde«. Über die Kritik von Fachkolleginnen hatten wir hier berichtet. Was man kaum wird bezweifeln können ist, dass dieser Überschreitungszeitpunkt immer näher rückt, und zwar schneller als gedacht. »Seit dem Pariser Abkommen haben wir 19 Jahre im Kampf gegen die globale Erwärmung verloren«, bilanziert das Copernicus-Projekt der EU: »Im Jahr 2015 waren es noch 30 Jahre bis zu unserem ehrgeizigen Ziel. Jetzt sind es nur noch 11 Jahre. Die Daten deuten darauf hin, dass uns in den letzten sieben Jahren die Zeit rapide davongelaufen ist.« Und das alles hat Folgen, über eine davon berichten die »Klimareporter«: Aufgrund der Folgend es Klimawandels müssen immer mehr Menschen ihre Wohnorte aufgeben. 2022 habe »es weltweit mehr Binnenflüchtlinge aufgrund von wetterbedingten Katastrophen als infolge von Gewalt oder Konflikten« gegeben. Eine neue Studie zeigt, »dass auch in den USA immer mehr Menschen aus Angst vor Überschwemmungen flüchten. Ganze Innenstädte leeren sich.« 

#2 Wird die COP28 etwas ändern? »Gewaltige Gegensätze« bilanziert Sarah Zitterbarth hier und sieht die Ergebnisse der Klimakonferenz »zwischen historischem Erfolg und Kollektivversagen« schwanken. Zwar wird die Abkehr von den fossilen Energien zum ersten Mal in einer Erklärung eines Klimagipfels gefordert. »Doch was helfen Worte ohne konkrete Ziele? Und was sagt die Wissenschaft dazu?«, fragen sich die »Klimareporter«. Sehr eingehend stellt »Carbon Brief« die Ergebnisse vor. Eine ausführliche Übersicht mit Kommentierungen von Expertinnen und Experten zum Abschluss findet sich beim Science Media Center.

#3 »Kein Land tut genug für 1,5 Grad«, meldet die TAZ und greift die neueste Ausgabe des Climate Change Performance Index auf. Der CCPI wird seit 2005 jährlich veröffentlicht und bilanziert die, nun ja: Anstrengungen der Länder zur Bekämpfung des Klimawandels. »Die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens gerät demnach in noch weitere Ferne. Deutschland gehört im Index zwar zur Spitzengruppe, Querelen innerhalb der Ampel-Koalition behinderten aber eine wirklich zufriedenstellende Klimabilanz, kritisierten die Berichtsautoren.« Es passiert zu wenig, es passiert aber nicht nichts: »Klimaneutral erzeugter Strom hat in diesem Jahr mit 52 Prozent erstmals mehr als die Hälfte des Stromverbrauchs in Deutschland gedeckt«, lautete eine der Meldungen der vergangenen Tage. Im Vergleich zum Vorjahr entspricht das einem Plus von 5 Prozent. Vielleicht sollte über solchen Fortschritt mehr gesprochen werden, nicht zur Selbstberuhigung, sondern im Sinne positiver Möglichkeiten, die ergriffen werden können. Dass die Deckschleuder »Bild« behauptet, »unser Strom ist so schmutzig wie seit fünf Jahren nicht«, will genau das Gegenteil: Indem die in den Fortschritt eingearbeiteten Widersprüche skandalisiert werden, soll das Ziel des Fortschritts der Lächerlichkeit preisgegeben werden, um so auch die politische Kraft zu beschädigen, die am ehesten damit verbunden wird. 

#4 Im Grunde geht es darum, Veränderungserschöpfung zu erzeugen, um Veränderung zu verhindern. »Da muss man wirklich mit Lösungen dagegenhalten«, sagt der Politikpsychologe Thomas Kliche: »wer veränderungsbereite Minderheiten nicht unterstützt, würgt Veränderungsbereitschaft ab. Politik muss dabei beherzigen, dass Menschen auf unterschiedlichen Stufen der Veränderungsbereitschaft sind. Manche wissen gar nicht, dass etwas ein Problem ist, andere wehren ab, doch einige wollen was tun. Politik muss alle diese Veränderungsbereitschaften auf allen Stufen adressieren und heben. Keinen Sinn hat es aber, Lösungen vorzuschlagen, wo Leute nicht mal ein Problem sehen. Es braucht eine Strategie, auf verschiedenen Ebenen mit all diesen Gruppen reden zu können. Dafür wäre die Ampel eigentlich geeignet, weil die Parteien unterschiedliche Veränderungsbereitschaften unter ihren Wählern haben. Aber die haben sich über so etwas nicht einmal Gedanken gemacht.« Sich darüber mehr Gedanken zu machen, wäre nicht nur an die derzeit regierenden Formationen als Aufforderung zu adressieren. Der Klimaforscher Michael E. Mann hat in der »Süddeutschen« dieser Tage noch einmal »die Gleichzeitigkeit von Dringlichkeit und Entscheidungsfreiheit« unterstrichen. Aus seiner Forschungsarbeit zum Untergang früherer Zivilisationen aufgrund von Klimawandel zieht er also zwei Schlüsse - der erste ist naheliegend: »Es kommt nicht nur auf den Umfang der Erwärmung an, sondern auch auf das Tempo, das zur Gefahr werden kann.« Der zweite enthält etwas Kontraintuitives: »dass wir noch die Freiheit haben zu handeln, um die Klimakatastrophe abzuwenden«. In der öffentlichen Debatte mit all ihren interessegeleiteten Verzerrungen wird gegenwärtige Klimapolitik oft als freiheitseinschränkend verhandelt, wer die Blockaden kritisiert, argumentiert mit dem Erhalt künftiger Freiheit. Mann hingegen betont jenen gegenwärtigen Freiheitsgrad, der in den Konflikten über richtige Klimapolitik zwar enthalten ist, aber aufgrund der Art und Weise, in der die Konflikte geführt werden, untergeht. An ihn zu erinnern, könnte etwas zur Veränderungsbereitschaft beitragen.

#5 Apropos Freiheit. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur so genannten Schuldenbremse verhallt noch längst nicht, dazu geht es auch um zu Grundsätzliches - nämlich um jene Freiheit zu handeln, von der Mann spricht. Hier wird kurz und knapp erläutert, welches »haushaltspolitisches Monster« das Bundesverfassungsgericht erschaffen hat. Hier wird die Tatsache diskutiert, dass das Urteil keinen hinreichenden Begriff von Krise, kein Krisenkonzept hat, und daher nicht die nötige Unterscheidung zwischen Normal- und Notlage trifft. Hier findet sich ein Hintergrund zur globalen Ausbreitung von Schuldenregeln, deren Zahl von neun Mitte der 1980er Jahre auf 105 im Jahr 2021 angestiegen ist. In der Debatte um das Karlsruher Urteil ist auch an folgende Aussage eines Anhängers der restriktiven Regelung erinnert worden: »Die Schuldenbremse ist vielleicht in manchen Kreisen auch so unbeliebt, weil sie als Utopie- und Ideologiebremse funktioniert. Das ist aber nüchtern betrachtet ein willkommener Nebeneffekt.« Man kann sich darüber lustig machen, dass hier eine rein ideologisch begründete Etatregel ausgerechnet als Ideologiebremse verteidigt wird. In ihrer Anpreisung als »Utopiebremse« steckt aber das in Zeiten der planetaren Krise viel größere Problem. Oliver Weber hat das im »Philosophie Magazin« sehr gut auf den Punkt gebracht: Mit der Schuldenbremse habe man die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes »endgültig aufgegeben«, sie wirke als »permanentes wirtschaftsliberales Misstrauensvotum« gegen das Demokratieprinzip der Verfassung und lege »den Staat in grundsätzlichen Wirtschaftsfragen auf eine Zuschauerrolle fest«. Das ist »eine kaum zu unterschätzende Revision unseres Staatsverständnisses«, wie Weber schreibt eine »Beschneidung demokratischer Freiheit«. Man wird abwarten müssen, ob diese wenigstens durch einfachgesetzliche Reformen rasch genug gelockert wird, brauchbare Vorschläge dazu liegen vor. Doch Skepsis ist angebracht. Oder wie es Bernd Ulrich mit Blick auf die Debatte nach dem Schuldenbremsen-Urteil formuliert hat: »Das Problem der Ampel liegt nicht in den Unterscheiden zwischen den drei Parteien, sondern in dem, worüber sie sich einig sind

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