Klimanotizen 36

Vor der COP28 fährt die Welt auf 2,5 Grad Erderhitzung zu. Umsonst waren die Anstrengungen dagegen bisher freilich nicht, das liegt auch am Geschick der ärmeren Länder. Derweil wird über die Schuldenbremse diskutiert, die wie ein ideologischer Anachronismus aus ferner Vergangenheit wirkt.

#1 Wo stehen wir? Allen klimapolitischen Ankündigungen zum Trotz entfernt sich die Welt derzeit vom Pariser 1,5-Grad-Ziel, so fassen die »Klimareporter« die Ergebnisse des jüngsten Emissions Gap Reports zusammen: Kurs 2,5 Grad, »würden die Staaten die in ihren nationalen Klimaplänen angekündigten Maßnahmen komplett in die Tat umsetzen«. Das ist ein doppeltes Wenn: Nicht nur ist diese Umsetzung unklar, sowohl was den politischen Willen als auch die technologischen Möglichkeiten angeht. Es ist auch nicht ganz sicher, was droht, wenn die Erderhitzung auf 2 Grad zusteuert (und dann auch nicht von alleine aufhören würde): »Wenn die globale Durchschnittstemperatur um zwei Grad ansteigt, droht der Erde ein Anstieg des Meeresspiegels um mehr als 12 Meter – und das ist die konservative Schätzung«, heißt es derweil hier mit Blick auf einen neuen Bericht der International Cryosphere Climate Initiative, der eine »überzeugende Anzahl neuer Studien, die die Eisdynamik, Paläoklimaaufzeichnungen aus der Erdvergangenheit und aktuelle Beobachtungen des Verhaltens der Eisdecke berücksichtigen« berücksichtigt - und einen Anstieg um bis zu 20 Meter für möglich hält. Im Vorwort machen Ministerpräsidentin Islands, Katrín Jakobsdóttir, und der Präsident Chiles, Gabriel Boric, klar: »Mit dem Schmelzpunkt des Eises können wir nicht verhandeln.« Das fossile Kapital erschließt derweil neue Öl- und Gasfelder - den »Moment der Wahrheit«, von dem die IAEA spricht, stellt man sich anders vor: Demnach müssten die derzeitigen Investitionen von 800 Milliarden US-Dollar pro Jahr in den Öl- und Gassektor um die Hälfte reduziert werden. 

#2 Der Klimaphysiker Anders Levermann, der zurzeit mit seinen Überlegungen zur »Faltung« oft im Gespräch ist, hat einen mit der Bewältigung der Klimakrise allgemein zu wenig beachteten Punkt jetzt noch einmal unterstrichen: »Vielen Leuten ist nicht klar: Wir stabilisieren die Temperatur der Erde nur, wenn wir auf null Emissionen kommen… Egal, ob sie die Temperatur bei 1,5 Grad, bei deutlich unter zwei Grad, was die Obergrenze des Pariser Klimaabkommens ist, und selbst wenn Sie sie bei fünf Grad stabilisieren wollten, was eine absolute Katastrophe wäre: Selbst dann müssen sie danach auf null Emissionen kommen. Sonst steigen die Temperaturen weiter.« Den politischen Ankündigungen nach müsste die Bundesrepublik bis 2050 CO2-neutral werden; linke und ökologische Organisationen fordern, dieses Ziel noch viel früher zu erreichen. Doch aber: »Verlängerung für Kohle, Öl und Gas« ist ein aktuelles Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik überschrieben, das mit Blick auf die Debatten vor der in wenigen Tagen beginnenden COP28 in Dubai Befürchtungen darüber mitteilt, wie »das Narrativ der emissionsreduzierten Nutzung fossiler Energien« die Pariser Klimaziele (noch weiter) zu untergraben droht. Die »Klimareporter« haben in einem informativen Schwerpunkt nicht nur ein Auge auf die Kontroversen um das Gastgeberland. »Ein verbindliches Ausstiegsdatum aus den fossilen Energien oder feste Ausbauziele für Erneuerbare sind möglich«, so die optimistische Vorschau, angekündigt wird eine umfangreiche Berichterstattung vom Klimagipfel - unter anderem wird es um die Ausgestaltung des auf der COP27 beschlossenen Klimafonds für Verluste und Schäden sowie um Strategien zur Klimaanpassung gehen. Beim Science Media Center kann man sich in einer knappen Stunde im Zoomformat von Niklas Höhne (New Climate Institute), Lambert Schneider (Öko-Institut) und Reimund Schwarze (Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung) zur COP28 briefen lassen. »Who wants what at the COP28 climate change summit« fragt der »Carbon Brief« und listet sehr umfangreich die Prioritäten der Teilnehmerstaaten zu den einzelnen Themenbereichen auf; diese Übersicht wird auch während des Gipfels aktualisiert. In einem Q&A wird zudem erklärt, warum Vereinbarungen auf der COP28 zur »Verdreifachung erneuerbarer Energien« und »doppelter Effizienz« für das 1,5-Grad-Ziel von entscheidender Bedeutung sind. Das Science Media Center lässt eine Reihe von Expertinnen die Frage beantworten, »wie die EU bis 2050 klimaneutral werden kann« - anhand einer Studie beantworten, die sieben ökonomische Modelle verglichen hat, die verschiedene CO2-Reduktionspfade für die EU bewerten. 

#3 Apropos Verhandlungen. In der FAZ stellt Boris Holzer eine Studie über »das Geschick der ärmeren Länder beim Ringen um den Klimaschutz« vor - vor allem, wenn es um die Verantwortlichkeit und Kompensation für Verluste und Schäden geht, die ärmeren Ländern durch den Klimawandel entstanden sind, sowie bei der Festlegung des 1,5-Grad-Ziels. Die Institutionalisierung dieser Themen gehe demnach »vor allem auf die Initiative machtpolitisch marginaler, aber politisch geschickt agierender Staaten aus den Reihen der ›least developed countries‹ (LDC) zurück«, ihr Agieren wird in der Studie  »anhand detaillierter Protokolle der COP-Verhandlungsrunden von 1995 bis 2016« rekonstruiert. Ihr zunehmendes Engagement habe »eine Gruppe, die als Stimme des ›Globalen Südens‹ vernehmbar wurde« entstehen lassen, die »in den Verhandlungen erfolgreich einen ›deliberativen Stil‹« verfolgt hätten: »Sie artikulierte die eigenen Anliegen koordiniert, aber in wechselnden Koalitionen, und konnte so die Agenda bestimmen. Zudem vermied sie es, polarisierende Vorschläge zu machen, und war zu pragmatischen Anpassungen der eigenen Position bereit. Vor allem veränderte sie aber ihre rhetorische Strategie, indem sie sich nicht mehr als Opfer des Klimawandels, sondern als in ihren Rechten betroffene und dafür zu entschädigende Partei darstellte.« 

#4 Auch die »Washington Post« wertet vor der COP28 den neuesten UN-Emissionsbericht (Emissions Gap Report) aus, und fokussiert dabei auf »drei überraschende Ergebnisse«. Dass das Schließen der Emissionslücke »wie die Wende eines Supertankers« sei, mag man dabei freilich als ebensowenig überraschend ansehen wie den Befund, dass sich die G-20-Länder nicht auf dem Weg zu ihren Netto-Null-Zielen befinden. Insgesamt werden diese Staaten bis 2030 »ihre neuen und aktualisierten Zusagen im Rahmen des Pariser Abkommens jährlich um 1,2 Gigatonnen Kohlendioxid-Äquivalent verfehlen«. Was vor diesem Hintergrund eher wie eine »Überraschung« klingt, ist: »Das Pariser Abkommen funktioniert tatsächlich«. So wird auf »einige bemerkenswerte Fortschritte« hingewiesen, die seit 2015 gemacht wurden - etwa was das Abbremsen der Emissionen angeht: Wurde vor acht Jahren noch »prognostiziert, dass die weltweiten Emissionen bis 2030 um 16 Prozent steigen würden«, beträgt der prognostizierte Anstieg nun 3 Prozent; auch wird heute nicht mehr mit einer Erderhitzung um 4 Grad gerechnet, sondern »nur noch« um 2,5 Grad. 

#5 Die bundesdeutsche Debatte ist derweil vom Streit um die Folgen und Konsequenzen aus dem Haushalts-Urteil des Bundesverfassungsgerichts geprägt. In einem lesenswerten »Geld-Brief« des Dezernats Zukunft wird nicht nur ein Blick auf die Folgen des Urteils geworfen, sondern erklärt, »warum das Urteil in Richtung wiederholter Notlagen deutet« und warum »gleichzeitig der Weg aus der Notlage zurück in die Normallage heute so schwierig ist«. Die so genannte Schuldenbremse ist ein weites Feld - warum das von den Karlsruher Richterinnen so sehr betonte Prinzip der Jährigkeit makrooekonomischer Analphabetismus ist, hat der Ökonom Rudi Bachmann in einer einfachen Grafik erklärt. Im Verfassungsblog diskutieren Lukas Märtin und Carl Mühlbach, inwiefern das Staatsschuldenrecht und seine verfassungsgerichtliche Überprüfung als Hindernis politischer Gestaltungskraft anzusehen ist. Die Schuldenbremse führe in der Praxis zu erheblichen Einschränkungen der Effektivität der Politik, da sie reaktives Handeln fördere und präventiv.aktives Agieren erschwere. Klaus Seipp wirft auf dem Kanal X noch einmal einen erhellenden Blick zurück auf die Geschichte der Schuldenbreme und verbindet dies mit dem Plädoyer für eine Reform der Regel, die ihre »wirkliche Bewährungsprobe« erst »jetzt und in den kommenden Jahren« erlebe. Das führt zu einer Frage, ob Lösungen, die sich lediglich in neuerlichen Feststellungen jener Notlage erschöpfen, die eine höhere Kreditaufnahme zulassen, überhaupt als Lösungen bezeichnet werden können. Luisa Neubauer hat vorgeschlagen, die Klimakrise selbst zur Begründung der Notlage herzunehmen, und ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen für Klima und Sicherheit gefordert. Das sieht der Ökonom Marcel Fratzscher sowohl als richtig an, bleibt aber skeptisch: »Ein Sondervermögen für Klimaschutz ist gerechtfertigt, aber auch unzureichend. Denn die Klimakrise ist nicht temporär und nicht unvorhersehbar, sondern eine Krise mit Ansage.« Mit anderen Worten: Der bei der Konstruktion der Schuldenbremse vorherrschende Krisenbegriff entspricht nicht der Charakteristik der Klimakrise. Mariam Lau von der »Zeit« hat diesen Anachronismus auf eine eingängige Formel gebracht, die den planetaren Ausbeutungs- und Wirkungszusammenhang mit in den Fokus rückt: »Ich glaube, dass die Schuldenbremse aus einer Zeit kommt, als wir viele Kosten ausgelagert haben. Wir haben unsere Verteidigung den Amerikanern überlassen, das billige Gas von den Russen bezogen und so weiter. Die Kosten dafür kommen jetzt nach Hause.« Lassen sie sich beziffern und wenn ja, wie würde das in Konzepte wie das der Schuldenbremse »hineinpassen«? Dieser Frage geht Benjamin Held bei »Makronom« anhand des Indikators Klimaschulden nach. Er stellt Ansätze zur Berechnung von Klimaschulden vor, die teils stark voneinander abweichen und mit methodologischen Problemen einhergehen. Die Idee aber mache »deutlich, dass ein Blick allein auf die Verschuldung der öffentlichen Haushalte zu kurz greift, da entscheidende Zusammenhänge außer Acht gelassen werden«. Außerdem werde durch die unzureichende Fokussierung auf den öffentlichen Schuldenstand und die Schuldenbremse unbeachtet gelassen, »dass durch die (zusätzliche) Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen die zukünftigen Klimaschulden reduziert werden könnten. Zum einen, weil weniger CO2 emittiert würde. Zum anderen, weil das bereits emittierte CO2 weniger schwerwiegende Auswirkungen hätte.« Und ja: »Dabei sind Klimaschulden nur ein Beispiel für Kosten, die im BIP bislang nicht berücksichtigt werden

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