Klimanotizen 32

Noch nie dagewesene Temperaturanomalien - und es steht noch viel mehr Hitze in den Startlöchern. Jetzt appelliert auch der Papst, die potenziellen Krisenfolgenkosten werden regelmäßig unterschätzt. Aber Wandel ist nicht nur eine Frage der Preise, sondern auch von Schuld.

#1 Wo stehen wir? An dem Punkt, an dem zu hoffen ist, dass die Berichte über »noch nie dagewesene Temperaturanomalien« und »das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen« noch irgendetwas auslösen. Laut Copernicus Climate Change Service (C3S), der im Auftrag der Europäischen Kommission arbeitet, war der September 2023 ein Monat der Negativrekorde: etwa 1,75 °C wärmer als der September-Durchschnitt für 1850 bis 1900, dem vorindustriellen Referenzzeitraum. Ein Faktor: El Niño. Der werde »seinen Höhepunkt erst später in diesem Jahr erreichen, und es steht noch viel mehr Hitze in den Startlöchern«, so Michael McPhaden von der National Oceanic and Atmospheric Administration; es seien »in den kommenden Monaten weitere Rekorde zu erwarten«. C3S-Direktorin Samantha Burgess sagt: »Zwei Monate vor der COP28 war die Dringlichkeit ehrgeiziger Klimaschutzmaßnahmen noch nie so groß wie heute.« Oder in den Worten des britischen Klimaforschers Ed Hawkins, der einer der Leitautoren des Sechsten Sachstandsbericht des IPCC ist: »Surprising. Astounding. Staggering. Unnerving. Bewildering. Flabbergasting. Disquieting. Gobsmacking. Shocking. Mind boggling.«

#2 »Wie sehr man auch versuchen mag, sie zu leugnen, zu verstecken, zu verhehlen oder zu relativieren, die Anzeichen des Klimawandels sind da und treten immer deutlicher hervor«, findet auch der Papst, der in seinem diese Woche veröffentlichten apostolischen »Laudate Deum« auch jene kritisiert, »welche diese Beobachtung kleinreden wollten«. Das päpstliche Schreiben ist mit Blick auf die am 30. November beginnende Weltklimakonferenz in Dubai terminiert, zitiert wird darin unter anderem eine Stellungnahme afrikanischer Bischöfe, laut der Klimawandel »ein schockierendes Beispiel für eine strukturelle Sünde« sei. Für Aufmerksamkeit sorgte außerdem »eine interessante Fußnote. Franziskus zitiert die feministisch-posthumanistische Philosophin Donna Haraway.« Noch eine, vielleicht wichtigere Fußnote: Die Soziologin Dana R. Fisher, Direktorin des Center for Environment, Community, & Equity an der American University, hat Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Demonstration für wirksamen Klimawandel in Manhattan im September befragt - unter anderem dazu, was sie zur Teilnahme motivierte und wie sie die wachsende Klimabewegung einschätzen oder ob sie persönlich Auswirkungen des Klimawandels erlebt haben. Gefragt wurde dabei auch nach Emotionen als Reaktion auf die planetare Krise - jeweils etwa drei Viertel berichteten Wut, Traurigkeit, Angst. Aber nur gut ein Drittel gab auch »Schuld« an. »Immer die Anderen« (Dota Kehr)? Vor geraumer Zeit hatten wir hier auf einen Gedanken von Harald Welzer verwiesen: »Worauf es mehr denn je ankommt, ist eine Versöhnung mit den Bedingungen, die unsere Existenz ermöglichen und die die Zukunft von gestern unterminiert. Die Zukunft von heute hätte ein Bild vom Wiederaufbau zerstörter Landschaften, von der Entsiegelung von Boden, von der Vernässung von Mooren, von der Verlangsamung der Geschwindigkeit, von einer Ökonomie der Endlichkeit und von einem besseren Zusammenleben zu zeichnen.« Der Abschied von einer zerstörerischen Lebensweise wird nicht zuletzt auf der Ebene von Gefühlen erst möglich. Man wird dann auch mehr über Trauer über das schon Verlorene und Anerkenntnis eigener Schuld reden müssen.

#3 Neuen Schätzungen von Rebecca Newman und Ilan Noy zufolge liegen die globalen Kosten extremer Wetterereignisse, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind, derzeit bei 143 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Der größte Anteil ist auf den Verlust von Menschenleben zurückzuführen. »Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die häufig zitierten Schätzungen der wirtschaftlichen Kosten des Klimawandels, die mit Hilfe integrierter Bewertungsmodelle ermittelt wurden, möglicherweise erheblich unterschätzt werden.« Wie hoch werden die Kosten der globalen Erderhitzung insgesamt liegen? Mancher hat noch die beschwichtigenden Äußerungen von Ökonomen im Kopf hat, die bei einem Anstieg der globalen durchschnittlichen Oberflächentemperatur um 3 Grad Celsius lediglich ein Absinken der globalen Wirtschaftsproduktion um 2 Prozent erwartet haben. Nun hat sich eine aktuelle Veröffentlichung des Institute and Faculty of Actuaries (IFoA) - also aus der Versicherungsmathematik - noch einmal die vorliegenden Schätzungen angesehen. Mit dem Ergebnis: Viele Klimaszenariomodelle im Finanzdienstleistungsbereich würden die Risiken erheblich unterschätzen. Verwiesen wird auf Modelle, die »einen Verlust von 65 Prozent des BIP oder einen Verlust von 50 bis 60 Prozent des bestehenden Finanzvermögens schätzen, wenn der Klimawandel nicht eingedämmt wird, wobei es sich hierbei wahrscheinlich um konservative Schätzungen handelt.« Hinzu komme, dass die Kohlenstoffbudgets im Lichte künftiger Entwicklungen kleiner sein können als lange erwartet und sich aufgrund von Kipppunkt-Effekten die Risiken schneller entwickeln könnten.

#4 Derweil wird hierzulande über Stromimporte diskutiert - interessierte Kreise bemühen sich, ob des Anstiegs der Einfuhren eine Abhängigkeit vom Ausland an die Wand zu malen oder die Veränderung allein auf den Atomausstieg zurückzuführen, um auf diese Weise für ein Wiederanfahren der Meiler zu werben. Malte Kreutzfeldt hat sich die Daten für Table Berlin angesehen: Die Bundesrepublik ist weder zur Sicherung der Stromversorgung von Importen abhängig, noch wirkt sich der Atomausstieg wesentlich aus. »Dass dennoch Strom importiert wird, hat einen einfachen Grund: Der importierte Strom ist günstiger als die Produktion im Inland.« Einen erhellenden Vergleich steuert außerdem Stefan Holzheu zur Diskussion bei - die Relation zu anderen Energieimporten. Auf der Basis unter anderem von Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme über den grenzüberschreitenden Stromhandel zwischen Deutschland und seinen Nachbarländern in 2023 zeigt sich: In dem ausgewählten Zeitraum wurden 13 TWh netto importiert - bei Erdgas waren es 877 TWh, bei Öl 1.078 TWh und bei Steinkohle immerhin noch 290 TWh.

#5 Wer hat es gesagt? »Grüne Motoren schaffen neue Arbeitsplätze«, die deutsche Autoindustrie lege beim Thema Umweltschutz nicht genügend Erfindergeist an den Tag, durch »ein klares Ultimatum« müsse daher der »notwendige Innovationsdruck« erzeugt werden. Genau, Markus Söder, und zwar 2007 als er noch CSU-Generalsekretär war und mit der Forderung nach einem »Verbot von Autos mit Verbrennungsmotoren ab 2020« versuchte, »den Christsozialen ein Öko-Image zu verpassen nicht zuletzt, weil die Grünen in den wohlhabenden Regionen Bayerns zu ernstzunehmender Konkurrenz werden«, wie damals der »Spiegel« meldete. Nun stehen im Freistaat Landtagswahlen bevor und Söder wird mit Sätzen zitiert wie: »Das generelle Verbrenner-Verbot der EU ab 2035 schadet dem Industriestandort Bayern und den Beschäftigten der Autobranche.« Unterdessen verläuft die Disruption im Automobilsektor »entlang einer steigenden und einer fallenden S-Kurve« und damit exakt so, wie »über Jahre von Tony Seba und Anderen vorausgesagt«, woran Martin Jendrischik von Cleanthinking erinnert. »Das Tempo der Zerstörung des bisherigen Verbrenner-Marktes und des Erwachens der Elektroautos« lässt sich am Beispiel Norwegen ganz gut beobachten - denn dort ist die Transformation schon sehr weit vorangeschritten: Im September dieses Jahres hatten 87 Prozent der Neuzulassungen von Autos reine elektrische Antriebe, wie man bei Robbie Andrew vom Center for International Climate Research übersichtlich dargestellt bekommt. Reine Benziner und Diesel machten im bisherigen Jahr gerade noch 4 Prozent der Autoverkäufe aus.

Subscribe to linksdings

Don’t miss out on the latest issues. Sign up now to get access to the library of members-only issues.
jamie@example.com
Subscribe