Klimanotizen 23

Zehntausende Hitzetote in Europa 2022. Wie viele davon hätten verhindert werden können? Forscherinnen mahnen längst eine Neubewertung und Stärkung der Schutzkonzepte an. Aber Klimaanpassung kostet viel Geld vor Ort; die Kommunen fürchten Überforderung.

#1 Die genaue Zahl der Hitzetoten lässt sich nur schwer feststellen; in den offiziellen Daten tauchen nur durchschnittlich 19 Fälle pro Jahr auf, bei denen Hitze als direkte Todesursache angegeben wird, so das Statistische Bundesamt. Um die schwerwiegenden Folgen von immer mehr Hitzeereignissen zu messen, werden deshalb in der Regel Zahlen über Todesfälle zwischen heißen und weniger heißen Sommern verglichen und so eine hitzebezogene Übersterblichkeit angenommen, bei der vor allem Menschen mit Vorerkrankung betroffen sind. Nun macht eine Studie des Barcelona Institute for Global Health Schlagzeilen, laut der es 2022 über 60.000 hitzebezogene Todesfälle gegeben hat; knapp 8.200 in der Bundesrepublik; die Zahl für Europa lag dabei unter der des Sommers 2003, für den mehr als 70.000 hitzebedingte Todesfälle angegeben werden. »Unsere Ergebnisse erfordern eine Neubewertung und Stärkung der bestehenden Hitzeüberwachungsplattformen, Präventionspläne und langfristigen Anpassungsstrategien«, so die Forscherinnen um Joan Ballester. Unter anderem hier wird auch darauf verwiesen, dass die Studie noch einmal zeige, »wer vom Hitzetod besonders betroffen ist: Arme in schlecht isolierten bzw. gekühlten Wohnungen und Arbeiter:innen, die draußen arbeiten müssen«. Übrigens: Laut dem Monitoring zur hitzebedingten Mortalität des Robert-Koch-Instituts sind hierzulande bis zum 2. Juli 2023 bereits geschätzt 810 Menschen an Hitze gestorben.

#2 Daten der National Oceanic and Atmospheric Administration zeigen derweil, dass aufgrund der Erwärmung des Planeten die Hitzeperioden intensiver geworden sind. Sie würden nun im Durchschnitt 24 Stunden länger andauern als noch vor 60 Jahren, und: NOAA-Daten aus den 50 bevölkerungsreichsten Städten der USA zeigen, dass die Hitzewellen-Saison heute auch 49 Tage länger währt als in den 1960er Jahren. Dies ist in diesen Wochen kein regionales Phänomen, sondern ein planetares: Hitzerekorde überall und in schnellem Rhythmus; Extremtemperaturen in vielen Regionen. Im »Guardian« wird Brenda Ekwurzel von der Union of Concerned Scientists mit den Worten zitiert: »Extreme Hitze ist tödliche Hitze, und mehrtägige Hitzewellen - und solche, die früh in der Saison auftreten - sind die größte Bedrohung, weil die Menschen sich nicht erholen können und der Körper das nur eine bestimmte Zeit lang aushält.« Es gehe längst nicht mehr um »isolierte Hitzeereignisse; so sieht die Welt des turbogeladenen Klimawandels aus«.

#3 »Wir stirbt man denn an Hitze«, fragt die Taz die Hitzeexpertin Henny Annette Grewe - ihre Antwort: »der Organismus wird dadurch derart überhitzt, dass Zellen zerstört werden, Bakterien in die Blutbahn eindringen, es kommt zu einem multiplen Organversagen. Die meisten Menschen sterben aber schon bei Körpertemperaturen unter 40 Grad.« Wie viele ein solches Schicksal erleiden hängt von vielem ab, unter anderem von der Stellung, die Hitzeschutzpolitiken eingeräumt wird. »Verglichen mit Deutschland gab es 2022 in Frankreich sehr viel weniger Hitzetote pro Hunderttausend Einwohner. Frankreich hat den Hitzeschutz nach 2003 von höchster Stelle verordnet, über lokale Hitzepläne installiert und sogar einen Feiertag abgeschafft, um die Maßnahmen auch gegen zu finanzieren.« Das mit der Finanzierung wird man vielleicht auch anders lösen können, Grewe macht am Beispiel des Gebäudeenergiegesetzes aber deutlich, wie weit die Aufmerksamkeit für das Problem hierzulande noch hinter den Erfordernissen zurückbleibt: Die umstrittene Reform sei eine »augenscheinlich verpasste Chance. Sind Gebäude gut gedämmt und mit Außenverschattung versehen, könnten sie auch Schutz gegen Hitze bieten. Leider gibt es im GEG nur für Neubauten Anforderungen an den sommerlichen Wärmeschutz, diese basieren allerdings auf historischen Daten und berücksichtigen die Klimaprognosen nicht. Für Bestandsgebäude gibt es bislang überhaupt keine Verpflichtung zur Anpassung

#4 »Kurzfristige Maßnahmen können helfen, Menschen vor den Gesundheitsfolgen von akuter Hitze zu schützen. Langfristig müssen Städte umgebaut und an heißere Sommer angepasst werden«, bringt das Science Media Center die Lage auf den Punkt. »Einige Kommunen und Bundesländer haben bereits einen Hitzeaktionsplan entwickelt und sind dabei, diesen zu implementieren.« Einen nationalen Plan gebe es bisher nicht und vielerorts dauere die Umsetzung auch zu langsam. Welche Strategien bei akuter Hitze helfen und wie Städte langfristig umgebaut werden müssen, erklären Expertinnen aus den Fachgebieten Städteplanung, Meteorologie und Public Health. Wie dringend fachlicher Rat ist, verdeutlicht eine Recherche von  Correctiv und ÖRR-Sendern: Viele Landkreise und kreisfreie Städte in Deutschland haben »keine konkreten Schutzkonzepte, wie künftige Krisen aufgrund des Klimawandels verhindert werden können. Dabei wissen sie um die Gefahren.« Es sei »erschreckend, wie viele Kreise und Städte sich noch gar nicht mit dem Thema beschäftigt haben«, wird dort Anja Bierwirth zitiert, Expertin für Stadtwandel am Wuppertal Institut. Und das, obwohl in den allermeisten Landkreisen damit gerechnet wird, »dass in ihrem Gebiet künftig mehr extreme Wetterereignisse eintreten werden«. Am meisten befürchtet unter anderem: Hitzewellen. Vor denen sorgen sich immer größere Anteile der Bevölkerung, wie Daten des Umweltbundesamtes zeigen: Schon 2016 sah sich die Hälfte der Befragten in ihrem körperlichen Wohlbefinden in der Zukunft stark oder sehr stark von Hitzewellen in ihrer Gesundheit beeinträchtigt; vier Jahre zuvor war es erst ein knappes Drittel. Und die Zahl der Hitzetage hat seither noch weiter zugenommen.

#5 »Hitzebedingte Erkrankungen und Todesfälle sind zu einem großen Teil vermeidbar«, heißt es in einem dieser Tage dem Bundestag als Unterrichtung zugeleiteten Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen »Umwelt und Gesundheit konsequent zusammendenken«. Nach Modellrechnungen hätten von den für den Zeitraum 1991 bis 2018 geschätzten Hitzetoten, deren Sterbefälle auf die menschengemachte Klimakrise zurückzuführen sind, fast jeder Dritte verhindert werden können. »Erst, wenn die zuständigen Behörden die gesund­heitliche Tragweite von Hitze und die Aufgaben des Hitzeschutzes als ihre Pflicht anerkennen, kann wirksamer Hitzeschutz gelingen«, heißt es in dem Gutachten weiter - aber das ist keineswegs nur eine Frage des Wollens, sondern vor allem des Könnens: Da Hitzeschutz vor allem eine kommunale Aufgabe ist, müssten die Städte und Gemeinden auch entsprechend mit Personal, Finanzmitteln und anderen Unterstützungen ausgestattet werden. »Wenn Kommunen Hitzeschutz priorisieren und finanziell ausreichend ausstatten wollen, bedarf es einer gesetzlichen Grundlage, auf die sie sich stützen können.« Erst vor wenigen Tagen hat die Ampel den vom Bundesumweltministerium vorgelegten Regierungsentwurf für ein Klimaanpassungsgesetz beschlossen. Mit diesem sollen »die Länder beauftragt werden, für systematische und flächendeckende Klimaanpassungsstrategien in den Ländern und für Klimaanpassungskonzepte für die Gebiete der Gemeinden und Kreise zu sorgen«. Es gibt Kritik daran unter anderem wegen mangelnder Verbindlichkeit und unkonkreter Ziele, vor allem aber bleibt eine wichtige Frage offen: Wer bezahlt die kommunalen Ressourcen, die für Hitzeschutz und andere Maßnahmen der Klimaanpassung nötig sind? Vor einigen Monaten hatten die Länderumweltministerien »den Finanzbedarf der Länder und Kommunen für Klimaanpassung, Naturschutz und natürlichen Klimaschutz auf insgesamt 55 Milliarden Euro bis zum Jahr 2030« veranschlagt.

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