Klimanotizen 19

Eine Aktualisierung des globalen CO2-Budgets zeigt: Vielleicht schafft die Welt noch die Begrenzung auf 1,8 Grad Erwärmung. Auch dafür müssten schnellere, radikalere Fortschritte erzielt werden, etwa durch Schließung fossiler Produktion, wodurch Investitionen verloren gehen. Mit welchen Folgen?

#1 Eine neue Aktualisierung des globalen CO2-Budgets haben Forscherinnen um Piers M. Forster vorgestellt; damit liegen nun »aktualisierte Schätzungen für wichtige Klimaindikatoren einschließlich Emissionen, Treibhausgaskonzentrationen, Strahlungsantrieb und Oberflächentemperaturänderungen, Energieungleichgewicht der Erde, auf menschliche Aktivitäten zurückzuführende Erwärmung, verbleibender Kohlenstoffhaushalt und Schätzungen globaler Temperaturextreme« vor. Zeke Hausfather hat die wichtigsten Erkenntnisse herausgefiltert. »Erstens steht uns mit ziemlicher Sicherheit eine Welt bevor, in der die Temperatur über 1,5 Grad liegt.«  Das verbleibende CO2-Budget ist so gering, dass zur Erreichung des 1,5-Grad-Zieles Emissionen in einer Weise gemindert werden müssten, »die angesichts der technologischen und geopolitischen Herausforderungen der Dekarbonisierung kaum zu erreichen sein werden«. Auch werden wir »sehr wahrscheinlich die 1,5°C-Marke überschreiten, es gibt aber einigermaßen plausible Szenarien, die die Erwärmung auf etwa 1,8°C begrenzen«, so Hausfather. Auf der Basis der aktualisierten Daten könne mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 66 Prozent davon ausgegangen werden, dass es gelingt, eine Erwärmung um 2 Grad bis 2100 zu vermeiden, wobei die globalen Emissionen bis etwa 2070 auf Null gebracht werden  müssten. Hausfather sieht »keine Hinweise darauf, dass es zu einer unkontrollierten Erwärmung oder zu global bedeutsamen Wendepunkten für das Klima kommen würde«, mit denen nicht auch bei einer Erwärmung von 1,5 Grad zu rechnen wäre. Er will das aber nicht als Beruhigungsformel verstanden wissen: »Jedes Zehntel Grad zählt, und je schneller wir die Emissionen auf Null bringen können, desto mehr können wir die langfristigen Schäden des Klimawandels reduzieren.«

#2 Um aus einer 66-Prozent-Wahrscheinlichkeit Realität werden zu lassen, müssten, auch das steht weiterhin außer Frage, praktisch an allen klimapolitischen Fronten schnellere, radikalere, also vernünftigere Fortschritte erzielt werden. Forscherinnen um Lucas Chancel haben sich jetzt genauer angesehen, welche sozialen Folgen es hätte, wenn Produktionsstandorte für fossile Brennstoffe geschlossen würden, bevor die jeweils verfügbaren Reserven erschöpft sind bzw. bevor die Nutzungsdauer der Investitionsgüter abgelaufen ist. Dies sei »notwendige Konsequenz einer ehrgeizigen Klimapolitik«, wurde aber von den Investoren nicht so vorgesehen - würde also zum Verlust der Investitionen führen, zu so genannten Stranded Assets. Mit dem in »Joule« veröffentlichten Kommentar wird versucht Befürchtungen zu zerstreuen, im Falle von Produktionsschließungen könnten zum Beispiel auch Rentenansprüche in Gefahr geraten, da über Pensionsfonds Gelder in Öl- und Gasunternehmen angelegt sind. »Wir argumentieren, dass sich Regierungen nicht vom Risiko gestrandeter Vermögenswerte im Bereich der fossilen Brennstoffe abschrecken lassen sollten, da ein daraus resultierender Vermögensverlust, der wirtschaftliche Härten verursacht, zu geringen Kosten ausgeglichen werden kann«, heißt es da. Im »Guardian« wird Chancel mit den Worten zitiert, »dass der Großteil der finanziellen Verluste, die mit verfallenen, umweltschädlichen Vermögenswerten einhergehen, von den Hochvermögenden getragen werden. Nur ein kleiner Teil der finanziellen Verluste wird von der Arbeiter- und Mittelschicht getragen, da sie über kein oder relativ geringes finanzielles Vermögen verfügt.« Und Co-Autor Gregor Semieniuk meint, ein Teil des in fossile Produktionsstrukturen gebundenen Reichtums »sei zwar gefährdet, aber in wohlhabenden Ländern ist das kein Grund für die Untätigkeit der Regierung, weil es für die Regierungen so billig wäre, dies zu kompensieren«.

#3 Apropos Pensionsfonds. Erst vor wenigen Wochen hatte »Correctiv« recherchiert, »dass zehn von 16 Bundesländern ihre Pensionsfonds in klimaschädliche Industrien und Großbanken investieren. Spitzenreiter bei den klimaschädlichen Investments sind Sachsen-Anhalt und Bayern.« Die Veröffentlichung ergänzte eine frühere Recherche, die sich ebenfalls um öffentliche Investitionen von Bundesländern drehte, es ging seinerzeit um rund 400 Millionen Euro, die in Anlagen investiert waren, die den Klimazielen der Bundesregierung entgegenstehen. Nun hat »Correctic« in Kooperation mit internationalen und lokalen Partnern darüber recherchiert, wie Rentenfonds aus den USA, Kanada oder Großbritannien Geld in deutschen Chemiekonzernen, Ölbohrfeldern oder fossilen Unternehmen anlegen.

#4 Im »Wirtschaftsdienst« kommentiert Claudia Kemfert die Einigung innerhalb der Koalition auf das immer weiter veränderte Gebäudeenergiegesetz. Es ist schon der zweite Kompromiss nach dem Koalitionsausschuss Ende März, und wer heute Zeitung gelesen hat, könnte mit der Ahnung schwanger gehen, dass es noch nicht der letzte ist. »Diverse Äußerungen aus den Koalitionsfraktionen« zeigte, so etwa table.media, »dass zentrale Fragen doch noch offen sind«. Kemfert geht es aber nicht um - wenn auch wichtige - Details, sondern ums Grundsätzliche: »Der GEG-Kompromiss ist weder Fisch noch Fleisch, weder Markt noch Ordnungspolitik. Dabei wissen wir aus vielen Forschungen, dass sich die Menschen mit eindeutigen Vorgaben wohler fühlen, selbst wenn sie sich kurzzeitig vielleicht aufregen. Ein klares Einbauverbot von Öl- und Gasheizungen ab einem bestimmten Zeitpunkt wäre unterm Strich einfacher. Das mag zwar kurzzeitig Zucker für den Populismus sein, aber mutloses Taktieren befeuert den Populismus erst recht; spätestens wenn die Menschen irgendwann durchschauen, dass ihnen kein reiner Wein eingeschenkt wurde.« Das Schlimmste sei, dass die Klimaziele 2030 »nicht mehr erreichbar« sind, da bis dahin über 40 Millionen Tonnen CO2-Emissionen im Gebäudesektor eingespart werden müssten - das Gebäudeenergiegesetz aber Regeln hinauszögert und Ausnahmen ausweitet. »Offenbar fruchten die Kampagnen der fossilen Industrie, vor allem der Gasindustrie, die ein aktives Interesse daran hat, die teuren Gasnetze möglichst lange zu erhalten und ergo um jeden einzelnen Gaskessel kämpft. Es geht um die Vermeidung von Stranded Assests, also in den Sand gesetzte Investitionen. Das Gebäudeenergiegesetz ist vor allem ein großes Zugeständnis an die Gaslobby.«

#5 Insgesamt sind Investitionen in fossile Energieträgerproduktion immer noch gewaltig - etwa in die Erschließung neuer Ölquellen und Gasfelder oder Anlagen in fossilen Energiekonzernen. 2020 und 2021 beliefen sich allein die Neuanlagen der 30 größten börsennotierten Finanzkonzerne in Öl, Gas und Kohle auf 740 Milliarden US-Dollar, wie die britische Initiative InfluenceMap vor einigen Monaten vorrechnete. Erst vor wenigen Wochen hat die Internationale Energieagentur prognostiziert, dass sich die weltweiten Gesamtinvestitionen in fossile Energieträger 2023 auf 1,050 Billionen US-Dollar belaufen dürften; ein Wachstum von 5 Prozent. Das liegt zwar recht deutlich unter den Steigerungsraten der vergangenen Jahre, aber es wächst eben weiter. Jede dieser fossilen Investitionen untergräbt die 66-Prozent-Wahrscheinlichkeit, von der Piers M. Forster und Kolleginnen im eingangs erwähnten Paper sprechen.

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