»Wir müssen den Kurs ändern« (1977)

Wir werden weniger arbeiten, besser konsumieren und die Kultur in das tägliche Leben aller integrieren. Auf diesen drei Grundsätzen beruht das Programm jener Regierung, die André Gorz vor fast 50 Jahren in einer freiheitlich-ökologischen Vision beschrieb.

// Als die Franzosen an jenem Morgen erwachten, fragten sie sich, welche neue Umwälzungen sie noch erwarteten… Auf dem Wege zur Arbeit, einen Tag nach dem Regierungswechsel, erlebten die Leute die erste Überraschung. Während der Nacht waren in allen wichtigen Straßen der Großstädte weiße Linien gezogen worden. Diese Fahrbahn durften von nun an nur noch Autobusse benutzen, in den Nebenstraßen waren Fahrbahnen für Rad- und Mofafahrer eingerichtet worden. An den Stadträndern standen Hunderte Fahrräder dem Publikum zur Verfügung, Gendarmerie- und Polizeiwagen ergänzten die Busse. Es gab weder Fahrscheinverkauf noch Kontrollen.

Mittags gab die Regierung bekannt, daß die Verkehrsmittel kostenlos seien und daß innerhalb eines Jahres der Privatwagen-Verkehr in den Städten untersagt werde. 700 Straßenbahnlinien sollten in den größten Städten geschaffen oder wieder eröffnet, 26.000 Busse innerhalb eines Jahres gebaut werden. Die Mehrwertsteuer auf Fahrräder und Mofas wurde aufgehoben, eine zwanzigprozentige Senkung der Preise für diese Geräte stand bevor.

Am Abend entwickelten der Präsident der Republik und der Premierminister den Gesamtplan, der diesen Maßnahmen zugrunde lag… »Wir konstatieren wachsende Kosten für geringere Befriedigungen. Die ökonomische Expansion hat uns weder mehr Gerechtigkeit noch mehr Entspannung und Lebensfreude gebracht. Ich glaube, wir haben einen falschen Weg gewählt und wir müssen den Kurs ändern.« Die Regierung habe also ein Programm ausgearbeitet für »ein anderes Wachstum und eine andere Wirtschaft mit anderen Strukturen. « Die Philosophie dieses Programms, bemerkte der Präsident, beruhe auf drei Grundsätzen:

Erstens: »Wir werden weniger arbeiten.« Bisher bestand das Ziel der ökonomischen Aktivität darin, das Kapital zu vermehren, um Produktion und Verkauf zu vermehren, damit sich die Profite vermehrten, die nach ihrer erneuten Investition wiederum erlaubten, das Kapital zu vermehren, und so weiter. Dieser Prozess geht jetzt zu Ende. Hat er einmal einen bestimmten Punkt erreicht, kann er sich nur dann noch fortsetzen, wenn er seine wachsenden Überschüsse vernichtet. »Dieser Punkt ist erreicht«, sagte der Präsident. »Nur durch Vergeudung unserer Anstrengungen und Ressourcen konnten wir in der Vergangenheit eine scheinbare Vollbeschäftigung der produktiven Kapazitäten und Menschen aufrecht erhalten.« Künftig müsse man weniger, besser und anders arbeiten. Der Premierminister werde dazu Vorschläge unterbreiten. Doch sei schon jetzt, vorweg folgendes Prinzip festzuhalten: »Jeder Erwachsene, ob er eine Stelle hat oder nicht, hat Anspruch auf alles zum Lebensunterhalt Notwendige.« Sobald der Produktionsapparat technisch derart wirksam sei, daß ein Teil der verfügbaren Arbeitskraft ausreiche, um den Gesamtbedarf der Bevölkerung zu decken, »ist es nicht mehr möglich, das Recht auf ein volles Einkommen von der Ausübung einer Vollzeitbeschäftigung abhängig zu machen«. Der Präsident schloss: »Wir haben das Recht gewonnen auf freie Arbeit und freie Zeit.«

Zweitens: »Wir werden besser konsumieren.« Bisher wurden die Produkte entworfen, um den Unternehmen maximalen Profit einzubringen. »Nunmehr«, sagte der Präsident, »werden sie so entworfen, daß sie die größtmögliche Befriedigung jenen bringen, die sie benutzen und die sie erzeugen.« Zu diesem Zweck würden die beherrschenden Unternehmen jedes Wirtschaftszweigs in gesellschaftliches Eigentum verwandelt werden. Aufgabe der Unternehmen sei es, in jedem Bereich eine kleine Anzahl von Standardmodellen gleicher Qualität und in genügender Quantität zur allgemeinen Bedarfsdeckung herzustellen. Der Entwurf dieser Modelle müsse vier grundsätzlichen Kriterien genügen: Haltbarkeit, leichte Reparatur, angenehmer Herstellungsprozess, nicht schädlich. (…)

Drittens: »Wir werden die Kultur in das tägliche Leben aller integrieren.« Bisher ging die Entwicklung der Schulen einher mit der verallgemeinerten Unzuständigkeit. So haben wir verlernt, den Kindern beizubringen, wie sie unsere Gerichte zubereiten und unsere Lieder singen können. Lohnabhängige liefern Speisen und Lieder in Konserven. Der Präsident erklärte: »Wir sind an einem Punkt angelangt, wo die Eltern glauben, staatlich diplomierte Fachleute seien allein geeignet, ihre Kinder richtig zu erziehen.« »Wir beauftragten professionelle Unterhalter, unsere Zeit auszufüllen, während wir gleichzeitig über die schlechte Qualität der von uns konsumierten Güter und Dienstleistungen schimpfen.« Es sei unabdingbar, erklärte der Präsident, daß Individuen und Gruppen die Kontrolle ausübten über die Organisierung ihrer Existenz, ihres Lebensmilieus und ihrer Kommunikationen. »Wiedereroberung und Erweiterung der individuellen und gemeinschaftlichen Autonomien ist unsere einzige Chance, die Diktatur der staatlichen Apparate zu vermeiden.«

Dann ergriff der Premierminister das Wort, um sein Programm darzulegen. Er begann mit der Verlesung einer Liste von neunundzwanzig Unternehmen, deren Sozialisierung er verlangte; mehr als die Hälfte davon operierte im Konsumgüter-Bereich. Es handelte sich um die erste Anwendung des Prinzips: »Weniger arbeiten und besser konsumieren.« (…) Während des kommenden Monats, fuhr der Premier fort, finde die Produktion nur am Nachmittag statt, während der Vormittag der gemeinschaftlichen Beratung diene. Das Ziel, das sich die Arbeiter setzen müßten, sei die Deckung des Bedarfs an lebenswichtigen Gütern mittels ihrer Produktion, wobei zugleich ihre wöchentliche Arbeitszeit auf vierundzwanzig Stunden herabgesetzt würde. Natürlich müsse man die Belegschaften vergrößern, an Frauen und Männern dazu werde es jedoch nicht fehlen. Im übrigen seien die Arbeiter frei, sich so zu organisieren, daß jeder manchmal mehr und manchmal weniger im selben Betrieb arbeiten könne. Sie seien auch frei, in gewissen Zeitabschnitten gleichzeitig zwei oder drei Teilzeitbeschäftigungen nachzugehen, in der Landwirtschaft am Ende des Sommers zu arbeiten, auf dem Bau im Frühjahr, kurz, zugleich mehrere Berufe zu erlernen und auszuüben. (…)

Das Ziel sei, Handelsproduktion und -tausch allmählich zu überwinden, indem man die Produktionseinheiten dezentralisiere und reduziere, so daß jede Basisgemeinschaft wenigstens die Hälfte ihres Verbrauchs selber herstelle. Denn die Quelle der Verwirrung und der Enttäuschungen, meinte der Premier, sei, daß »niemand konsumiert, was er produziert, und niemand produziert, was er konsumiert«.

Als ersten Schritt in die neue Richtung hatte die Regierung von der Fahrradindustrie eine Produktionssteigerung 30 Prozent erwirkt, doch sollte die Hälfte der Räder und Mofas in Einzelteilen geliefert werden, damit die Benutzer sie selber montierten. Ausführliche Gebrauchsanweisungen seien bereits gedruckt worden. Montagebänke mit den erforderlichen Werkzeugen würden unverzüglich in Bürgermeisterämtern, Schulen, Polizeikommissariaten, Kasernen, Parks und Parkplätzen aufgestellt. Der Premier drückte den Wunsch aus, daß Basisgemeinschaften künftig solche Initiativen entwickelten. Jedes Stadtviertel, jede Stadt, sogar jedes große Wohnhaus sollte freie Werkstätten einrichten, in denen die Leute in ihrer Freizeit nach ihren Wünschen etwas herstellen könnten mit hochkomplizierten Geräten, einschließlich Video und Kabelfernsehen. (…)

»Hört auf, ständig zu fragen: ›Was macht die Regierung?‹«, rief der Premierminister aus. »Die einzige Mission der Regierung ist es, zugunsten des Volkes abzudanken.« (…) Der Premierminister schloss mit der Ankündigung, dass fortan, um Imagination und Gedankenaustausch der Leute zu fördern, das Fernsehen am Freitag und Samstag nicht mehr senden werde. //

aus André Gorz: Ecologie et Liberté, Paris 1977, in: Abschied vom Proletariat, Frankfurt am Main 1980.



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