Klimanotizen 11

Wie lassen sich Diskurse über die Verzögerung wirksamer Klimapolitik typologisieren? Hilft dagegen Aufklärung allein, oder muss in der »Verdrängungsgesellschaft« zuerst getrauert werden? Und haben wir die für das Netto-Null-Ziel mitentscheidenden Restemissionen schon ausreichend auf dem Schirm?

#1 Methanlecks allein aus den beiden wichtigsten fossilen Brennstofffeldern Turkmenistans haben 2022 mehr Erderwärmung verursacht als die gesamten Kohlenstoffemissionen des Vereinigten Königreichs, meldet der »Guardian«. Die Methan-Emissionen entsprechen einer Menge von insgesamt 366 Millionen Tonnen CO2. Was die Bedrohung der Klimaziele durch solche Lecks angeht, hatten wir hier bereits notiert: Methan-Emissionen machen zwar nur einen Anteil von etwa drei Prozent des anthropogenen Treibhausgasausstoßes aus; ihr Beitrag zur globalen Erhitzung wird aber auf 0,5 Grad der bisherigen etwa 1,1 Grad Celsius taxiert - Methan ist 82 Mal so klimaschädlich wie Kohlendioxid. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind der Meinung, dass die Zunahme der Methan-Emissionen seit 2007 »die größte Bedrohung für die Begrenzung der globalen Erwärmung auf unter 1,5 Grad Celsius darstellen. In dieser Woche nun hat das Europäische Parlament mit großer Mehrheit dafür votiert, einen fast eineinhalb Jahre alten Gesetzesvorschlag der Kommission deutlich zu verschärfen, wie die »Süddeutsche« berichtet. Über die neue EU-Verordnung sollen erstmals europaweit Methan-Emissionen im Energiesektor kontrolliert und reguliert sowie entsprechende globale Standards gesetzt werden; nach dem Willen des EU-Parlaments sollen die Regeln auch auf Importe ausgedehnt. Die EU würde damit eine Zusage zum Global Methane Pledge umsetzen, die Vereinbarung wurde auf der Weltklimakonferenz 2021 in Glasgow geschlossen.

#2 Eine bereits im Juli 2020 veröffentlichte Studie zu Diskursen über die Verzögerung wirksamer Klimapolitik von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um den MCC-Forscher William F. Lamb hat Christian Stöcker noch einmal in seiner »Spiegel«Kolumne aufgegriffen. »Es gibt vier Kategorien von Scheinargumenten, die echte Klimapolitik weiter verzögern sollen«, heißt es da - vorgestellt werden diese in vier Grobkategorien: Kapitulation, Abwälzen von Verantwortung, Forcieren nicht transformativer Lösungen, Hervorheben der Kehrseiten. Dass die damit einhergehenden Argumentationsfiguren bisweilen »in gutem Glauben« vorgetragen oder nicht gänzlich faktenfalsch sind, ändert nichts am Ergebnis: »Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die negativen sozialen Auswirkungen der Klimapolitik und lassen Zweifel daran aufkommen, dass eine Abschwächung möglich ist«, wie es in besagter Studie heißt. In dem Papier werden »die gemeinsamen Merkmale von Diskursen über die Verzögerung« beschrieben und ein »Leitfaden zu deren Identifizierung« vorgestellt. Die »Typologie ermöglicht es Wissenschaftlern, Klimabefürwortern und politischen Entscheidungsträgern, diese Argumente zu erkennen und zu entkräften, wenn sie verwendet werden«. Die Autorinnen und Autoren »fordern alle Befürworter von Klimamaßnahmen auf, sich mit diesen weit verbreiteten falschen Darstellungen der Klimakrise auseinanderzusetzen und das dramatische Tempo der globalen Erwärmung, die Schwere ihrer Auswirkungen und die Möglichkeit einer wirksamen und gerechten Minderungspolitik besser zu vermitteln

#3 Aber ist wirksame Klimapolitik nur eine Frage der Vermittlung, etwas, das durch Aufklärung über wissenschaftliche Fakten, komplexe Zusammenhänge, notwendige Pfade und einzuhaltende Zeitfaktoren schon hinreichend vorangebracht werden kann? Mögliche Antworten müssten den Gründen für den bisherigen Erfolg der beschriebenen Diskurse der Verzögerung auf die Spur kommen. Tadzio Müller sieht hier auch eine »stabile Verdrängungsmehrheit« am Werk, wie er unlängst im Streitgespräch mit Ex-Wirtschaftsminister Peter Altmaier noch einmal angemerkt hat: Viele hätten »irgendwann in den letzten 2,5 Jahren verstanden, dass Klimaschutz für Deutschland eben keine Win-win-win-Angelegenheit ist, sondern, dass es uns etwas kosten würde, das Klima zu schützen«. Dabei handele es sich nicht allein um ökonomische Kosten, »sondern und vor allem auch psychologische Kosten«. Das vermehrte Wissen über die biophysikalische Existenzkrise und ihre Ursachen gehen mit Schuld und Scham einher, mit dem oft unausgesprochenen Eingeständnis, »dass wir ganz oben auf einer Pyramide von Ausbeutung, Umweltzerstörung und Gewalt leben«; dass das bekannte Bezugssystem aus Wohlstand, subjektiver Entfaltung usw. nicht länger trägt. Darauf reagierten, so Müller, viele mit Verdrängung und mit dieser ließen sich nicht nur die teils heftigen Reaktionen auf Klimaaktivismus erklären, diese stelle auch (und nicht nur) die Klimabewegung vor neue Herausforderungen: Zunächst müssten »grundlegende gesellschaftliche Wertigkeiten und Erwartungen verschoben werden«, wozu eine Strategie der gesellschaftlichen Trauer über die in die Notwendigkeit des Umbau eingeschriebenen, zu erwartenden Verluste nötig sei: »Erst wenn wir getrauert haben, können wir vernünftig handeln.«

#4 Optimismus und Hoffnung bleiben freilich auch in diesen Zeiten eine - weitere - notwendige Quelle für die Bereitschaft, sich auf jene radikale Maßnahmen einzulassen, sie aktiv mitzugestalten und zu fördern, die im Lichte des Wissens über die biophysikalische Existenzkrise das Notwendige also Pragmatische beschreiben. Deshalb hier eine gute Nachricht: Der australische Bundesstaat Tasmanien hat erreicht, wovon die überwiegende Welt noch viel zu weit entfernt ist: eine negative Klimabilanz. Die südlich Australiens am östlichen Rand des Indischen Ozeans gelegene Insel, die gut eine halbe Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählt, speichert mehr Kohlendioxid als ausgestoßen wird. Wesentlicher Grund dafür ist, wie die »Süddeutsche« berichtet, Naturschutz im Großformat. 40 Prozent der Insel und damit eine Fläche fast so groß wie Belgien sind geschützt. Seitdem die Abholzung der Wälder stark reduziert wurde, sind die Potenziale der Senken zur Kohlenstoffentnahme und -Speicherung gewachsen. Zur Energiegewinnung wird fast zu 100 Prozent Wasserkraft genutzt. Aus den 2005 noch gemessenen zwölf Millionen Tonnen CO2-Emissionen wurden minus zehn Megatonnen im Jahr 2018. Damit werden Restemissionen etwa aus dem Verkehr ausgeglichen. Bemerkenswert ist, was ein Klimaforscher von der Griffith University in Queensland zu dieser positiven Entwicklung sagt: »Was in Tasmanien geschah, ist nicht das Ergebnis bewusster, sorgfältiger und langfristiger Planung. Es ist einfach passiert.« Lernen kann man dennoch daraus, etwa aus dem Hinweis auf die wichtige Rolle der natürlichen Senken und der Wiederaufforstung.

#5 Apropos Restemissionen. In der klimapolitischen Debatte spielt ein wesentlicher Faktor für die Erreichung der Klimaziele bisher nur eine kleine Nebenrolle: Netto-Null heißt, den selbst bei vollständiger Dekarbonisierung noch anfallenden Ausstoß von Treibhausgasen durch Entnahme und Speicherung aus der Atmosphäre holen. »Die Definitionen solcher Ausgleichsmaßnahmen seien schwammig, die von den einzelnen Ländern im Pariser Abkommen festgelegten Ziele nicht immer direkt zu vergleichen«, zitiert die »Süddeutsche« den Klimaexperten Jürgen Giegrich vom Institut für Energie- und Umweltforschung in Heidelberg. Auch die internationale Verteilung der Verantwortung für diese Reduzierung von Kohlendioxid in der Atmosphäre ist nicht abschließend geregelt. Mehr noch: Eine Studie über langfristige Klimastrategien der Staaten, die Forscherinnen und Forscher um Holly Jean Buck von der University of Buffalo unlängst vorgelegt haben, zeige, »dass viele Regierungen keine klaren Prognosen für die verbleibenden Emissionen bei Netto-Nullstellung haben«. Untersucht wurden 50 langfristige Strategien für eine emissionsarme Entwicklung, die bis Mitte 2022 bei der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen eingereicht worden waren. Die meisten Länder würden zwar mit quantifizierten Projektionen bis 2050 große Mengen an Restemissionen erwarten; die Mehrheit der langfristigen Strategien für eine emissionsarme Entwicklung hätten das Konzept der Restemissionen aber überhaupt nicht erwähnt, obwohl sie ein Netto-Null-Ziel hatten. Die Studie macht klar, um welche Größenordnungen es hierbei geht: Jene nationalen Strategien, »in denen die Restemissionen bei einem Netto-Null-Ziel quantifiziert wurden, gingen von erheblichen Mengen aus, im Durchschnitt von 18 Prozent der derzeitigen Emissionen auf der Grundlage der niedrigsten Prognosen.«

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