»Katastrophen lassen sich nicht mit Zitaten bekämpfen« (1973)

Er frage sich, so Hans Magnus Enzensberger vor 50 Jahren im »Kursbuch« zur politischen Ökologie, »wie weit eine Analyse marxistisch genannt zu werden verdient, die jedes erkennbare Problem pauschal ›dem‹ Kapitalismus anlastet, und was sie politisch bewirkt«. Aus dem Archiv linker Debatte.

// (...) Auch das marxistische Denken ist gegen ideologische Deformationen nicht gefeit, auch die marxistische Theorie kann zum falschen Bewusstsein werden, wenn sie, statt zur methodischen Untersuchung der Wirklichkeit durch Theorie und Praxis zur Abschirmung gegen eben diese Wirklichkeit missbraucht wird. Der Marxismus als Abwehrmechanismus, als Talisman gegen die Ansprüche der Realität, als Korpus von Beschwörungsformeln - wir haben allen Anlass, das Vordringen von Tendenzen zu registrieren und zu bekämpfen, die darauf hinauslaufen; die ökologische Frage gibt hierfür nur ein Beispiel ab.

Wer dem Marxismus seine kritische, subversive Kraft abkaufen und ihn in eine affirmative Lehre verwandeln will, der verschanzt sich gewöhnlich hinter einer Reihe von stereotypen Sätzen, die in ihrer Abstraktheit ebenso unbestreitbar wie folgenlos sind. Ein Beispiel dafür ist die Auskunft, die einem heute schon aus jeder zweiten Illustrierten entgegenschallt, ganz gleichgültig, ob von der Syphilis, dem Erdbeben oder der Maikäferplage die Rede ist: »Daran ist der Kapitalismus schuld!«

Natürlich ist es hervorragend, dass sich antikapitalistische Stimmungen hierzulande soweit verbreitet haben, dass sich auch die Illustrierten ihnen nicht mehr ganz entziehen können. Eine andere Frage ist es allerdings, wie weit eine Analyse marxistisch genannt zu werden verdient, die jedes erkennbare Problem pauschal »dem« Kapitalismus anlastet, und was sie politisch bewirkt. Gerade ihre Allgemeinheit macht sie harmlos; der so beschrieene Kapitalismus wird zu einer Art gesellschaftlichem Äther, allgegenwärtig und ungreifbar, ein quasi natürliches Medium des Verderbens, dessen Beschwörung geradezu entwaffnend wirken kann. Da nämlich das jeweilige konkrete Problem (die Psychose, der fehlende Kindergarten, das Absterben des Flusses, der Flugzeugabsturz) ohne genaue Analyse der wirklichen Vermittlungen sofort auf die Verfassung des Ganzen zurückgeführt wird, entsteht der Eindruck, als sei jeder spezifische und augenblickliche Eingriff zwecklos. So kann noch der Hinweis auf die Notwendigkeit der Revolution zur bloßen Leerformel, zur ideologischen Hülle der Passivität werden.

Ähnlich verhält es sich mit der These, die ökologische Katastrophe sei innerhalb des kapitalistischen Systems unabwendbar; Voraussetzung für jede Lösung der Umweltkrise sei die Einführung des Sozialismus. Es ist kein Kunststück, diese Antwort aus den Prämissen der marxistischen Theorie abzuleiten. Die Frage ist nur, ob damit mehr gewonnen wäre als ein abstrakter Satz, der mit politischer Praxis nichts zu tun hat, und der es seinem Besitzer ermöglicht, auf die Untersuchung seiner konkreten Lage zu verzichten.

Der ideologische Schein derartiger Sätze zerreißt allerdings sofort, wenn man fragt, was sie genau besagen. Schon die Rückfrage, was mit Kapitalismus gemeint sei, fördert die gröbsten Widersprüche zutage; das komfortable Gehäuse des Gemeinplatzes zerspringt; zurückbleibe ein Haufen ungelöster Probleme. Versteht man unter »Kapitalismus« ein System, der durch das private Eigentum an Produktionsmitteln charakterisiert wird, so ergibt sich daraus die folgende Konsequenz: Das ökologische Problem wird (wie alle andern Übelstände, an denen »der Kapitalismus schuld« ist) dadurch gelöst, dass die Produktionsmittel verstaatlicht werden. Infolgedessen existieren beispielsweise in der Sowjetunion keinerlei Umweltprobleme. (...)

Ideologiekritik als Ideologie: Der Satz, demzufolge der »Kapitalismus« schuld sei, wird hier um den Preis seiner Glaubwürdigkeit verteidigt; dabei wird die Tatsache, dass auch in den sozialistischen Ländern die Umweltzerstörung bedrohliche Ausmaße angenommen hat, nicht einmal bestritten, sondern einfach ignoriert; wer mit dieser Art, Wissenschaft zu treiben, nicht einverstanden ist, macht sich des Systemvergleichs schuldig und wird als Antikommunist, als eine Art ökologischer Springer, denunziert. Die Gefahr, dass ein derart denaturierter Marxismus die Massen ergreift, ist freilich gering. So gebrochen ist das Verhältnis der deutschen Arbeiterklasse zu ihrer eigenen Realität noch lange nicht, dass sie sich den vergleichenden Blick darauf verbieten ließe.

Solchen Verengungen gegenüber ist festzuhalten, »dass der Kapitalismus als historische Formation und als System der Produktion sich keineswegs mit der Existenz einer Klasse von Eigentümern identifizieren läßt. Er ist eine alles umfassende gesellschaftliche Produktionsweise, hervorgegangen aus einer ganz bestimmten Art der Akkumulation und Reproduktion, und hervorgebracht hat er einen Nexus von Beziehungen zwischen den Menschen, wie ihn verwickelter die menschliche Geschichte nicht kennt. Dieses System der Produktion läßt sich nicht einfach dadurch aus den Angeln heben, dass die privaten Kapitalisten enteignet werden, auch wenn diese Enteignung es praktisch möglich macht, den Mehrwert, sofern er nicht in die Akkumulationsfonds zurückfließt, anderen Zwecken nutzbar zu machen. Als bloße Eigentumsübertragung, aus der eine gerechtere Verteilung der Gewinne folgt, während alle anderen Verhältnisse entfremdet und verdinglicht bleiben, lässt die sozialistische Revolution sich nicht fassen. Sie muss vielmehr zu einer vollkommenen Umwälzung der Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen den Menschen und den Dingen führen, das heißt, sie muss die gesamte gesellschaftliche Produktion ihres Lebens revolutionieren. Sie ist die tendenzielle Aufhebung der proletarischen Situation, der Entfremdung, der Trennung zwischen der Arbeit und ihrem Produkt, das Ende des Warenfetischismus, oder sie ist nicht die sozialistische Revolution.« (Fn. 16 Rossana Rossanda, Die sozialistischen Länder: Ein Dilemma der westeuropäischen Linken, in: Kursbuch 30, 1973, S. 26.)

Erst eine solche Auffassung des Kapitalismus als Produktionsweise, und nicht als einer bloßen Eigentumsbeziehung, erlaubt es, das ökologische Problem mit marxistischen Begriffen zu fassen. Dabei sind die Kategorien des Gebrauchs- und des Tauschwertes von ausschlaggebender Bedeutung. Die Störung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur erscheint dann stringent als eine Folge der kapitalistischen Warenproduktion. Das ist eine Ableitung, die das ideologische Denkverbot überflüssig macht, und die erklärt, weshalb die Umweltprobleme auch in den sozialistischen Ländern fortbestehen. Schließlich ist der Widerspruch zwischen Gebrauchs- und Tauschwert auch dort ebensowenig aufgehoben wie Lohnarbeit und Warenproduktion: »Die sozialistische Gesellschaft ist eine Übergangsgesellschaft geblieben, aber in einem ganz präzisen Sinn des Wortes: eine Gesellschaftsform, in der die kapitalistische Produktionsweise, vermischt mit neuen Elementen, fortbesteht, und einen entscheidenden Druck auf die politische Sphäre, die Beziehungen zwischen den Menschen und das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten ausübt.« (Fn. 18 Rossana Rossanda, a.a.O., S. 30)

Nicht weniger entscheidend ist der Druck, den das Fortbestehen der kapitalistischen Produktionsweise auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur ausübt: ein Druck, der in weitgehender Analogie zur industriellen Produktion im Westen auch in jenen Ländern, wo die Kapitalistenklasse enteignet worden ist, zur Zerstörung der Umwelt führt.

Die Konsequenzen hieraus sind äußerst gravierend. Zwar gelingt es auf diese Weise, die katastrophale ökologische Situation aus der kapitalistischen Produktionsweise abzuleiten; doch je grundlegender die Kategorien, desto allgemeiner wird das Resultat. Die Argumentation ist in einem abstrakten Sinn unanfechtbar, bleibt jedoch politisch ohnmächtig. Der Satz, nach dem »der Kapitalismus schuld« ist, behält prinzipiell recht, doch droht er zur abstrakten Negation des Bestehenden zu verkümmern. Der Marxismus ist aber keine Theorie, die dazu da ist, ewige Wahrheiten zu produzieren, und es ist den Marxisten nicht damit gedient, »prinzipiell« recht zu behalten, möge darüber auch alles Vergängliche zugrundegehen.

Vielleicht ist es nötig, daran zu erinnern, dass Marx einen historischen Materialismus vertritt. Daraus folgt, dass sich aus seinen Theoremen der Zeitfaktor nicht eliminieren läßt. Die Verspätung der Revolution in der überentwickelten kapitalistischen Ländern ist deshalb keine theoretisch indifferente Tatsache. Dass sie versäumt worden ist, falsifiziert zwar keineswegs die Theorie: denn Marx hat die proletarische Revolution zwar als notwendige, nicht jedoch als automatische und unvermeidliche Folge der kapitalistischen Entwicklung betrachtet. Er hat immer daran festgehalten, dass es historische Alternativen gibt, und es ist schon lange her, dass die Alternative, vor der hoch industrialisierte Gesellschaften stehen, auf die Formel gebracht worden ist: Sozialismus oder Barbarei. Angesichts der sich abzeichnenden ökologischen Katastrophe nimmt dieser Satz einen neuen Sinn an. Der Kampf gegen die kapitalistische Produktionsweise wird zum Wettlauf mit der Zeit, den die Menschheit zu verlieren droht. Die Zähigkeit, mit der jene Produktionsweise sich noch fünfzig Jahre nach der Enteignung der Kapitalistenklasse in der Sowjetunion behauptet, zeigt an, mit welchen Zeiträumen hier zu rechnen ist. Es ist eine offene Frage, wie weit die Zerstörungen, die sie auf der Erde angerichtet hat und weiter anrichtet, überhaupt noch reversibel sind.

In dieser Situation ist es notwendig, gewisse Momente der marxistischen Tradition rücksichtslos zu problematisieren. Dabei kommt es zuallerletzt darauf an, zu untersuchen, ob und wie weit es sich um originäre Bestandteile des Marschen Denkens oder um spätere Deformationen der Theorie handelt. Verglichen mit der Tragweite dieser Fragen nämlich erscheint die »Pflege der Klassiker« als bloße Bagatelle. Katastrophen lassen sich nicht mit Zitaten bekämpfen.

Zu problematisieren ist zunächst die Idee des materiellen Fortschritts, die in der marxistischen Tradition eine entscheidende Rolle spielt. Sie erscheint jedenfalls insofern als überständig, als sie an den technologischen Optimismus des neunzehnten Jahrhunderts anknüpft. Die Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts haben durchweg in industriell unterentwickelten Gesellschaften zum Sieg geführt und damit die Vorstellung falsifiziert, dass die sozialistische Umwälzung an einen bestimmten Grad der »Reife« und der »Entfaltung der Produktivkräfte« gebunden sei, oder gar mit einer Art von Naturnotwendigkeit am Ende eines solchen »Reife-Prozesses« stehe. Es hat sich umgekehrt gezeigt, dass die Entfaltung der Produktivkräften kein linearer Vorgang ist, an den sich ohne weiteres politische Hoffnungen knüpfen ließen.

»Bis vor einigen Jahren wurde von den meisten Marxisten traditionsgemäß angenommen, die Entwicklung der Produktivkräfte sei an sich etwas Positives. Sie waren überzeugt, dass der Kapitalismus in seiner Entwicklung eine materielle Grundlage hervorbringen würde, die von einer sozialistischen Gesellschaft übernommen und auf welcher der Sozialismus aufgebaut werden könnte. Die Ansicht war weit verbreitet, dass der Sozialismus um so leichter aufgebaut werden könnte, je höher die Entwicklung der Produktivkräfte sei. Produktivkräfte wie Technologie, Wissenschaft, menschliche Fähigkeiten und Wissen und ein Überfluss an vergegenständlichter Arbeit könnten den Übergang zum Sozialismus beträchtlich erleichtern. Diese Vorstellungen gründeten ziemlich mechanisch auf der Marschen These von der Verschärfung des Widerspruchs zwischen Produktivkräften einerseits und den Produktionsverhältnissen andererseits. [...] Man kann [jedoch] nicht mehr davon ausgehen, dass die Produktivkräfte von den Produktionsverhältnissen weitgehend unabhängig sind und zu diesen spontan in Widerspruch geraten. Im Gegenteil, die Entwicklung während der letzten zwei Jahrzehnte lässt darauf schließen, dass die Produktivkräfte von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen geformt und so tiefgehend geprägt werden, dass jeder Versuch, die Produktionsverhältnisse zu ändern, scheitern muss, wenn nicht auch die Natur der Produktivkräfte (und nicht bloß ihre Nutzung) verändert wird.« (Fn. 18a André Gorz, Technische Intelligenz und kapitalistische Arbeitsteilung. In: Richard Yahrenkamp (Hg.), Technologie und Kapital. Frankfurt am Main 1973. S.94f.)

Von einem gewissen Punkt an enthüllen also diese Produktivkräfte die Kehrseite, die in ihnen schon immer verborgen war, und sie erweisen sich als Destruktivkräfte, nicht nur im speziellen Sinn der Rüstungsproduktion und des künstlichen Verschleißes, sondern in einer viel allgemeineren Bedeutung: der industrielle Prozess, soweit er von diesen deformierten Produktivkräften abhängt, bedroht seine eignen und damit die Lebensgrundlagen der menschlichen Gesellschaft. Diese Entwicklung beschädigt aber nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft, und damit, wenigstens was unsere »westlichen« Gesellschaften betrifft, auch den utopischen Aspekt des Kommunismus. Wenn ein gewisses (allerdings kaum exakt zu bestimmendes) Maß an Zerstörung der Natur erreicht und irreversibel geworden ist, dann droht die Vorstellung vom »Reich der Freiheit« ihren Sinn zu verlieren. Vollends absurd scheint es, in einer kurzfristigen Perspektive von der Möglichkeit einer »Überflussgesellschaft« oder von der Abschaffung des Mangels zu sprechen, so wie Marcuse das getan hat. Der »Reichtum« der überentwickelten Konsumgesellschaften des Westens verdankt sich, soweit er nicht, wie für einen Großteil der Bevölkerung, bloße Chimäre ist, einem Rausch der Plünderung und des Raubes, der in der Geschichte ohne Beispiel ist, und dessen Opfer einerseits die Völker der Dritten Welt und andererseits die Menschen der Zukunft sind. Es handelt sich also um einen Reichtum, der unvorstellbaren Mangel erzeugt.

Das gesellschaftliche und politische Denken der Ökologen ist mit Blindheit und Naivität geschlagen: wenn diese Feststellung noch eines Beweises bedarf, die folgende Übersicht wird ihn erbringen. Doch haben sie dem utopischen Denken der westlichen Linken eines voraus, nämlich die Einsicht, dass jede absehbare Zukunft dem Reich der Notwendigkeit, nicht dem der Freiheit angehört, und dass jede künftige politische Theorie und Praxis, auch die der Sozialisten, sich nicht mit dem Problem des Überflusses, sondern mit dem des Überlebens konfrontiert sieht. //

aus Hans Magnus Enzensberger: Zur Kritik der politischen Ökologie, Kursbuch 33, 1973, S.1 - 42.


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