Die Malaise der Linken (1987)
In nationaler Formation verrät die Linke heute gezwungenermaßen ihr Programm, schrieb Peter Glotz vor fast 40 Jahren und riet ihr unter anderem, die ökologische Erneuerung der Produktionsstrukturen zu ihrem Projekt zu machen. Aus dem Archiv linker Debatte.
// (…) Die Arbeitslosigkeit kann man im Schnittmuster des Nationalstaats vielleicht mindern; wirksam bekämpfen kann man sie in den alten Strukturen nicht. Alle wissen das; nur die Politiker geben es nicht zu, was wiederum niemanden wundert und niemanden berührt. (…)
Die Linke ist philosophisch desorientiert, seit man ihr den Fortschrittsbegriff zerstört und den Humanismus der Aufklärung zu einem Allerweltsbegriff verallgemeinert hat. Sie ist ökonomisch angeschlagen, weil die Krise des Marxismus ihr zwar nicht den Gegner, wohl aber die eigene ökonomische Vision genommen zu haben scheint; und sie droht ihren alten Vorteil - die straffe Organisation der Facharbeitergewerkschaften und Facharbeiterparteien - zu verlieren. (…)
Heute ist die Geschäftswelt internationalistisch, die Linke national verkapselt. Die Wirtschaft hat längst begriffen, dass das gute alte Prinzip »local for local« obsolet geworden ist. Die Politik aber kann sich von ihrem »local for local«, von der abgelebten Nationalstaatsideologie, immer noch nicht trennen. (…) Die Malaise der Linken in Europa liegt zuallererst in ihrer Unfähigkeit zur Europäisierung der Politik. (…) Für die Linke ist solche Ignoranz tödlich. Wer mit dem Anspruch auf geschichtlich verantwortliche Aktivität angetreten ist, aber nur Rhetorik abliefert, macht sich lächerlich - auf immer. Die Linke wird entweder als europäische Kraft revitalisiert - oder unter würdigen Belobigungen für historische Verdienste von der Bühne geschoben. (…) Die neue Situation ist von einem radikalen Machtverlust der Einzelstaaten bei der Steuerung wirtschaftlicher Prozesse gekennzeichnet. (…) Die Staaten haben ihre Zinssouveränität und damit die Möglichkeit einer wirksamen nationalen Anti-Krisenpolitik verloren. (…)
Der Kern der Verunsicherung der Linken ist, so komisch das klingen mag, eine »philosophische« Desorientierung. Die demokratisch-sozialistischen Parteien und Gewerkschaften haben sich in einer großen Kraftanstrengung von allen dogmatischen Formen des Marxismus befreit; aber die (dringend notwendige) ideologische Öffnung geriet ihnen zur blinden Pragmatisierung. (…) Die Behauptung, dass die Linke nichts sei als das Produkt der Industrialisierung der letzten einhundertfünzig Jahre, stimmt nicht einmal für die Sozialdemokratie. Aber natürlich ist die Linke ein Kind der Aufklärung, die mit Descartes begann und sich das Ziel setzte die Welt zu entzaubern, den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Der Humanismus der Aufklärung ist konstruiert um ein Subjekt, das man sich als autonom vorstellte. Wer diese Vorstellung preisgibt, zieht der Linken den Boden weg, auf dem sie steht. Gegen dieses Subjekt aber wird seit Jahrzehnten ein großangelegter Prozess geführt. Die Zeugen der Anklage sind Legion: Ob strenge Marxisten den Humanismus es jungen Marx verwerfen und die Eigendynamik ökonomischer, objektiver Strukturen beweisen; [ es folgen Nietzscheaner, Freudianer/Lacan, Naturphilosophen - HK] - der Anspruch des Subjektes, Herr seines Denkens und Handelns zu sein, ist auf der ganzen Linie bestritten. (…) Es gibt eine Verstrickung der Aufklärung in blinde Herrschaft. Deswegen kann nur eine aufgeklärte Aufklärung überleben. Deswegen muss Europa den quantitativen Fortschrittsbegriff überwinden und einen qualitativen an seine Stelle setzen. (…) Wenn der Linken jetzt, nach vierhundert Jahren Arbeit auf der großen Baustelle der Aufklärung, oben auf dem Gerüst schwindlig wird, dann wird ihr die Arbeitserlaubnis entzogen. (…)
Erfolg oder Misserfolg der Europäischen Linken hängen davon ab, ob sie sich ein realistisches Verhältnis zu Wissenschaft und Technik erhält - oder neu erarbeitet. (…) Die Europäische Linke verfügt - wenn sie es denn begreift - über eine konkrete Utopie, die Millionen bewegen könnte: Arbeitszeitverkürzung. Arbeitszeitverkürzung aber nicht nur als technokratisches Instrument zur gerechteren Verteilung von Arbeit, sondern als das gesellschaftsverändernde Ziel, den Menschen mehr disponible Zeit zu verschaffen. Hier liegt eine historische Chance, die in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben war: zu erreichen, dass die Orientierungs-Zeit eines Menschen größer ist als die Arbeitszeit und die Zerstreuungs- und Ausruhzeit, die einer braucht. (…) Eine neue Zeitpolitik - das ist kein isoliertes Kampfgebiet für Facharbeiter, sondern eine schichtenübergreifende, verbindende humanistische Idee: Arbeit und Muße in eine prinzipiell neue Balance zu bringen. Es wäre der größte neuere Programmpunkt einer politischen Bewegung, der der Begriff »Emanzipation« nicht peinlich geworden ist. (…)
Die Linke muss die Erneuerung der Produktionsstrukturen der europäischen Industriegesellschaft zu ihrem Projekt machen. (…) Diese Wendung zum produktivistischen Sektor der modernen Gesellschaft verlangt zuerst eine erneute Justierung des Verhältnisses zum Kapitalismus (…) sie muss die lebensentscheidende Bedeutung unternehmender Unternehmer für jede Ökonomie auch innerlich akzeptieren. (…) Die Strategie des Frontalangriffs gegen den Kapitalismus ist passé; die zentralistischen Hoffnungen der Linken sind spätestens mit dem Scheitern des Projekts der Vereinigten Linken in Frankreich 1981/82 zerstoben. Es bleibt die Aufgabe, die Raubbau-Logik ungesteuerter kapitalistischer Modernisierung zu zähmen; es bleibt aber auch die unumstößliche Erkenntnis, dass sich eine produktive Wirtschaft nicht gegen eine geschlossene Front der Eliten des produktivistischen Sektors organisieren lässt. (…)
Eine der großen Aufgaben der nächsten zwei Jahrzehnte ist die ökologische Modernisierung der Industriegesellschaft. Das ist weder ein Wahnprodukt christlicher Innerlichkeit noch eine deutsche Marotte, sondern die Vorbedingung dafür, dass die Produktion nicht die Produktionsgrundlagen vernichtet. (…) Es geht um nicht weniger als um den tendenziellen Wechsel der Rohstoffbasis: um eine drastische Senkung des Verbrauchs von nicht regenerierbaren Rohstoffen durch Verfahrensinnovationen, Mess- und Regeltechnik, um den Übergang zu regenerierbaren Naturrohstoffen und Energien, um Ressourcenschonung und Energieeinsparung durch neue Verfahren und neue Werkstoffe, um den Übergang zum Rohstoff Information. (…) Die Linke muss die ökologische Modernisierung zu ihrem Projekt machen; aber sie darf weder dem Biologismus noch der falschen Moralisierung ökologischer Kommunikation verfallen. Ökologie ist kein Heilsbegriff und keine Leitwissenschaft; sie setzt keine Werte, sondern erklärt Zusammenhänge. (…)
Aber eine Emanzipation Europas gegen die Vormächte zerstörte selbst dann, wenn die Vormächte sie sich gefallen ließen, die kipplige Balance der Sicherheit. Und die Vorbedingung für eine neue Struktur des Friedens ist militärische Sicherheit - oder jedenfalls das, was die jeweiligen Eliten für Sicherheit halten und was die Völker als Sicherheit akzeptieren. (…) Denn wer die Selbstbehauptung Europas will, muss auch die Lasten tragen, die größere Eigenständigkeit auferlegt. Es hat wenig Zweck zu warten, bis irgendwann in den Vereinigten Staaten der Topf überkocht und der Kongress einen Präsidenten zwingt, die militärische Präsenz der Amerikaner in Europa einseitig zu verringern. (…)
Zwei Imperative aber gelten für alle: In nationaler Formation verrät die Linke heute gezwungenermaßen ihr Programm; sie entwickelt entweder einen neuen Internationalismus, also eine europäische Orientierung - oder sie zerfällt. Und sie darf die Entideologisierung nicht bis zur Gesichtslosigkeit treiben. Wenn die beginnt, die immer gefährdete, immer um ihre Leben kämpfende, aber eben doch »existierende Vernunft« (Hegel) in der Geschichte zu leugnen, hat sie sich selbst überflüssig gemacht. Ihre Organisationen können dann noch ein paar Jahre oder auch Jahrzehnte überleben, sozusagen als postmoderne Freibeuter. Ihre Utopie aber wäre widerlegt, ihre geschichtliche Arbeit umsonst. //
aus Peter Glotz: Die Malaise der Linken, in: Der Spiegel 51/1987.
Diesen Essay zur Zukunft linker Politik schrieb Glotz nach der für die SPD verlorenen Bundestagswahl 1987 und seinem Ausscheiden als Bundesgeschäftsführer der SPD. Viele seiner Überlegungen finden sich im »Berliner Programm« der SPD vom 20. Dezember 1989 wieder, welches von der deutschen Einigung überholt und aufs Abstellgleis geschoben wurde.