»Die Langsamkeit muss wiederentdeckt werden« (1993)

What’s left, fragten sich kluge Köpfe nach dem Kollaps des staatsautoritären Nominalsozialismus. Elmar Altvater riet seinerzeit zu einem »Modellwechsel an der ökologischen Grenze«, weg von einer fossilistischen Gesellschaft der Beschleunigung und Expansion. Aus dem Archiv linker Debatte.

// (…) Märkte sind sehr alte Einrichtungen der gesellschaftlichen Kommunikation, des Austausches von Informationen und Waren zwischen Gemeinwesen und Individuen. Die dynamische Kraft, die an Märkten so apologetisch-apotheotisch bewundert wird, ist ihnen aber erst eigen, seitdem Beschleunigung und Expansion nicht nur vom Prinzip, sondern von den materiellen Möglichkeiten her vom menschlichen Maß entkoppelt worden sind. Die Aristotelische »chrestomathische Spirale« konnte erst so recht wirbeln, als kapitalistisches Wirtschaften die Produktionsweise in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also vor noch gar nicht so langer historischer Zeit, umgewälzt hatte. Fossile Energien, die mit Hilfe intelligenter technischer Systeme (industrielle Revolution) und einer entsprechenden sozialen und politischen Organisation (kapitalistische Marktwirtschaft und Trennung von Ökonomie und Politik) genutzt werden konnten, waren dafür die Voraussetzung.

Der Kapitalismus ist eine durch und durch fossilistische Gesellschaft. Nur mit Dampfkraft, Benzinmotor, Elektrizität ist es ihm möglich, die Arbeitskraft durch Steigerung der Arbeitsproduktivität auszubeuten und die Glitzerwelt einer Gesellschaft des Massenkonsums zu schaffen. Die Expansion in alle geographischen und lebensweltlichen Räume, Beschleunigung in der Zeit (vom Ochsenkarren zur Concorde), Innovationen des gesellschaftlichen Lebens (von den wechselnden Moden bis zum Modellwechsel der Automobile) wurden aus den engen Schranken der menschlichen und anderen biotischen Kräfte entgrenzt. Auf dieser Grundlage konnten sich die Prinzipien des Marktes, die bewunderte und anderen Steuerungsmethoden des ökonomischen Austausches so überlegene Dynamik entfalten; ohne fossile Brennstoffe wäre der Markt ein örtlich begrenzter und sehr langsamer Mechanismus der sozialen und ökonomischen Abstimmung von Entscheidungen. (…) 

Beschleunigung und Expansion in einer begrenzten Welt, das kann auf die Dauer nicht gutgehen. Auch nicht für die politischen und ökonomischen Theorien. Man vergleiche nur den Optimismus eines Bernard de Mandeville zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters um 1700 mit dem ökologischen Pessimismus eines Garrett Hardin in den späten 60er Jahren: Der Liberale Mandeville konnte in der »Bienenfabel« selbstbewußt mit der beglückenden Formel auftreten, daß selbst private Laster sich in öffentliche Wohltaten verwandeln, wenn man nur der »unsichtbaren Hand des Marktes« vertraue; Hardin hingegen konstatiert die tragische Konstellation, daß selbst privat tugendhaftes Tun die »globale Allmende« übernutze und der Gemeinschaft aller Menschen schade. Das Vertrauen auf individuelle Rationalität, auf die Abstimmung der vielen Entscheidungen durch den Markt und auf die »Entdeckungsfahrt« zu den optimalen Lösungen ist nur zu rechtfertigen, wenn die Grenzen der »global commons« aus dem theoretischen Diskurs verdrängt werden. (…) 

Es geht nicht anders: auch in den selbstbewußten und von ihren Vorzügen so überzeugten demokratischen Marktwirtschaften steht ein Modellwechsel an. Die Langsamkeit muß wiederentdeckt werden. (…)//

aus Elmar Altvater: Modellwechsel an der ökologischen Grenze, in: What’s left. Prognosen zur Linken. Mit Beiträgen von Norberto Bobbio, Antje Vollmer, Tony Judt, Henning Ritter, Konrad Adams, Boris Groys, Jürgen Busche, Ernst Nolte und anderen. Rotbuch, Berlin 1993, S. 132-140.

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