Ist die Zukunft von gestern?
Ja, fürchtet man bei »FuturZwei«: Allerorten würden anachronistische Ideen als mögliche Lösungen bestehender Probleme an der Oberfläche fixiert. Annette Kehnel, Harald Welzer und Hartmut Rosa suchen nach Auswegen und neuen Gewinngeschichte statt Schwundutopien.
Von links bis rechts, von Konzern bis Medien, von Kunst bis Gesellschaft werde »Konzepten und Vorstellungen von Zukunft« gehuldigt, »die aus der Vergangenheit stammen«. Damit werden nicht nur an anachronistische Ideen als mögliche Lösungen bestehender Probleme an der Oberfläche fixiert. Es geht um die Vorstellungen von Zukunft überhaupt, so sieht man es jedenfalls bei »FuturZwei«: »Wenn das Grundgefühl einer Gegenwart ist: morgen wird es schlechter sein als heute, wird Zukunft zu etwas, was man besser vermeidet und man klebt desto fester im Gegebenen«.
Also macht sich Harald Welzer auf die Suche nach einer »Zukunft für das 21. Jahrhundert«, weil seiner Meinung nach weder Wissenschaft, Philosophie noch Ökonomie etwas entsprechendes »auf Tasche« haben. Ohne einen solchen Horizont, »wohin eine moderne Gesellschaft und ihr zivilisatorisches Projekt steuern sollen, wird man sich mit der Fortschreibung des Mythos begnügen, dass wir noch vor der Katastrophe sind«, schreibt er im Aufmacher zum Themenschwerpunkt »Die Zukunft von gestern« in der jüngsten »FuturZwei«-Ausgabe.
Sind wir noch vor der Katastrophe? »Nein, die zunehmende Aggression der Menschen gegen die Natur, gegen die anderen Menschen und gegen sich selbst, (…) zeigt den Zerfall jenes Fortschritts an, der ein, zwei Generationen – je nach Weltregion – gut funktioniert hat«, so Welzer. »Man sollte seinen Abschied jetzt vorziehen – vor die finale Selbstzerstörung. Worauf es mehr denn je ankommt, ist eine Versöhnung mit den Bedingungen, die unsere Existenz ermöglichen und die die Zukunft von gestern unterminiert.«
Versöhnung steht hier bei Welzer als möglicher Zukunftsbegriff im Zentrum, eine übergreifende Idee von »Wiederaufbau zerstörter Landschaften, von der Entsiegelung von Boden, von der Vernässung von Mooren, von der Verlangsamung der Geschwindigkeit, von einer Ökonomie der Endlichkeit und von einem besseren Zusammenleben«. Welzer meint, das sei »viel attraktiver als Schwundutopien vom Typ ›Dekarbonisierung‹ oder ›1,5-Grad-Ziel‹.«
Auch Hartmut Rosa hat sich Gedanken über eine neue »Gewinngeschichte« gemacht, ein Weltverständnis, in dem »Resonanz« im Vordergrund steht. Seine Theorie ist 2016 erschienen, in besagter »FuturZwei«-Ausgabe versucht er das Modell zu veranschaulichen. »Selbst Leute, die weg wollen von einer Wohlstandsidee, die am ökonomischen Wachstum hängt, wollen trotzdem immer noch mehr Optionen und Fähigkeiten. Aber die Explosion an Möglichkeiten macht das Leben nicht besser«.
Die Alternative? Er habe deshalb »mit der Resonanz einen Begriff erfinden« wollen, »der nicht auf Steigerung beruht, so Rosa. »Wir brauchen eine Zukunftsgeschichte, die nicht quantifizierbare Steigerungen oder Intensivierungen meint, also eine andere Geschichte des gelingenden Lebens. Leben gelingt eben nicht über die Steigerung an einer Ressourcen-Basis, ob die ökonomisch oder sozial oder sonst was ist, sondern über die Fähigkeit der Weltanverwandlung«.
Rosas Idee ist seinerzeit als »Gründungsdokument einer Soziologie des guten Lebens« gewürdigt worden, viel populärer hat das den Gedanken allerdings nicht gemacht. Zu kompliziert? Vielleicht. Aber wohl weniger im Sinne von Verstehen-können als im Sinne von An-sich-heranlassen: »Anstatt Lebensqualität in der Währung von Ressourcen, Optionen und Glücksmomenten zu messen, müssen wir unseren Blick auf die Beziehung zur Welt richten, die dieses Leben prägt. Dass diese Beziehung immer häufiger gestört ist, hat viel mit der Steigerungslogik der Moderne zu tun, und zwar auf individueller wie kollektiver Ebene.«
Rosa ist oft als Theoretiker der Entschleunigung bezeichnet worden, was auf einem Missverständnis beruht. Denn sein Beschleunigungs-Begriff geht über Fragen der gesellschaftlichen Geschwindigkeit hinaus: Mengenwachstum pro Zeiteinheit. Das dehnt den Horizont des Begriffs aus, es geht darum, »dass die moderne, kapitalistische Gesellschaft sich immerzu ausdehnen, dass sie wachsen und innovieren, Produktion und Konsumtion steigern, Optionen und Anschlusschancen vermehren, kurz: dass sie sich beschleunigen und dynamisieren muss, um sich selbst kulturell und strukturell zu reproduzieren, um ihren formativen Status quo zu erhalten«. Darin sieht Rosa eine »systematische Eskalationstendenz«, der Steigerungszwang ist Ursache und Folge zugleich, ein systematischer Fehler, der »das menschliche Weltverhältnis in grundlegender Form« verändert: Beziehungen zu Raum und Zeit, zu den Menschen und Dingen, zu uns selbst. »Ein zielloser und unabschließbarer Steigerungszwang führt am Ende zu einer problematischen, ja gestörten oder pathologischen Weltbeziehung der Subjekte und der Gesellschaft als ganzer.«
Dem also wird Resonanz entgegengesetzt, horizontal zwischen Menschen, diagonal als Beziehungen zu Dingen und Tätigkeiten, vertikal als Beziehungen zu »Kollektivsingularen«, also Natur, Kunst, Geschichte usw. In diesen Beziehungen seien intensive Erfahrungen möglich, die das Leben um seiner selbst willen erfahrbar machen - jenseits des Steigerungszwangs. »Es geht um das Weltanverwandeln und darum, wirklich zu leben mit den Wänden um mich herum und den drei Büchern, die ich vielleicht habe. Die Welt da draußen und ich können dann vielleicht in eine mediumpassive Resonanzbeziehung geraten. Das macht Menschen glücklich. Und nicht, die Welt um sie herum zu erobern oder Ressourcen zu verwandeln«, sagt Rosa. »Diese Geschichte, die ich erzählen will, ist eine Gewinngeschichte…«
Auf Beziehungen lenkt auch die Mittelalter-Historikerin Annette Kehnel die Aufmerksamkeit. Die Mannheimer Professorin bewegt sich sozusagen durch den Rückspiegel blickend vorwärts: Als »letzte Generation« hätten sich »schon vielen Generationen in der Geschichte« gefühlt. Das soll nicht der Verharmlosung der biophysikalischen Existenzkrise das Wort reden, es geht Kehnel um etwas anderes: Es habe in »manchen vergangenen Gesellschaften mehr Anreize und auch eine größere Notwendigkeit zum generativen Verhalten« gegeben; man habe »in größeren Zeiträumen« gedacht. »Nachhaltigkeit war in der Vergangenheit ein Must have. Wir haben es im 20. Jahrhundert zu einem Nice to have gemacht. Die Frage ist, wie trainieren wir die Fähigkeit zum langfristigen und zum generationenübergreifenden Denken?«
Kehnel meint, »das Bedürfnis nach generationenübergreifenden Beziehungen ist sehr groß«. Erinnert zu werden »als Menschen, die in Beziehungen gelebt haben, von Kindern und Enkeln, die uns liebevoll und fürsorglich erlebt haben«. Um in Rosas Begriffen zu sprechen: Es geht um horizontale Resonanz. Der Blick in die Geschichte könnte dabei den Möglichkeitssinn schulen und beim Zukunftsdenken helfen. Wie? »Ich glaube, die Zauberformel vom Fortschritt, Wohlstand und Wachstum ist ein Traum von gestern. Die Zeiten des Wirtschaftswunders und die Nachkriegszeit haben tiefe Prägungen hinterlassen.« Eingeprägt habe sich eine »paradiesische Fülle«, die »Sehnsucht nach dieser Phase, wo es immer bergauf ging, die wohnt nicht nur in unseren Köpfen, sondern ist essenziell für das Funktionieren der Wirtschaft«.
Die Alternative sieht Kehnel nicht in Rückbesinnung, sondern »Richtung Lebensqualität statt noch mehr Wohlstand und Wachstum«. Dabei könne auch ein Verständnis von Verzicht eine Rolle spielen, das historisch als »Mäßigung eines der Erfolgsrezepte für ein gutes Leben« wirkte. Und, so Kehnel, man müsse mehr »Wasser in die Suppe der Grenzenlosigkeit« gießen: »Was bedeutete denn Grenzenlosigkeit in Zeiten des Wirtschaftswunders?« Mief, Verklemmtheit, Rückschritt in Bezug auf Emanzipation, Grenzenlosigkeit der Unternehmen, die Produkte einführten, welche »ganz schön viel Enge produzieren«: »Staubsauger, Trockenhauben, Putzmittel, Tupperware« und so weiter.
Kehnel nennt es »unverantwortlich, wenn statt Wertschätzung für wichtige Schritte in eine neue Zukunft plötzlich ein Menschenrecht auf ›So haben wir das immer gemacht!‹ gepredigt wird.« Hinzu komme - auch von links - »die Aufdrängung von Opfernarrativen, die natürlich auch Angst schüren, welche wiederum nicht zu besseren Entscheidungen führt, sondern zu schlechteren.« Man müsse »weg von kurzsichtigen Imitationen alter Ideen«, ein Prinzip, dass die Historikerin am Beispiel des Verbrennungsmotors kritisiert - der nun durch Elektromotoren ersetzt wird. »Das ist im Grunde total rückwärts gerichtet. Wie wäre es mit Zukunft? Wie wäre es mit Mobilität neu denken, unsere Städte neu erfinden, Landwirtschaft revolutionieren, unsere Welt neu denken?« (tos)