Zu zeigen, dass Dinge möglich sind
»Sind die Linken selber Schuld?«, Haltungsnoten für Habeck, »Wir schaffen das«-Debatte: Noch einmal über aktuelle Spielmarken öffentlicher Auseinandersetzung – und die Fragen, die hinter medialem Getöse zu verschwinden drohen.
Zu den wackeligen Konstruktionen, an denen die »Zeit« ihren »Sind die Linken selber Schuld?«-Schwerpunkt aufgehängt hat, waren hier bereits einige Anmerkungen formuliert worden. Christian Bangel hat inzwischen eine Gegenrede zu Jens Jessens Lastenrad-Klischees beigesteuert, die zwei Kernpunkte berührt. Dass nämlich, erstens, hinter dem kulturkämpferischen Krawall der »Anti-Woken« letzten Endes nur der magere Gedanke steht, »die Lösung für das globale Problem des Rechtsextremismus wäre das Verschwinden linker Standpunkte. Nach dem Motto: Wenn es niemanden mehr gibt, der für eine humanere Flüchtlingspolitik ist, der sich für Minderheiten einsetzt, wenn die ganze Wokeness-Blase weg ist, dann werden die Rechtsextremen vergehen wie ein Feuer ohne Sauerstoff.«
Und zweitens variiert Bangel ein Motiv, das sich in vielen Texten des »progressiven Lagers« findet, die einen politischen Ausgang aus dem Polarisierungstheater suchen: »Vielleicht liegt der Weg, mehr Menschen zu erreichen, darin, sie zu überraschen. Ihnen zu zeigen, dass Dinge möglich sind, an die sie selbst nicht geglaubt hätten.« Es sei geradezu »die Aufgabe der Linken«, Dinge zu erfinden, auch solche, »die auf die Mitte zuweilen radikal wirken«.
Damit sind wir schon bei Robert Habeck und »Wir schaffen das« – neben »Sind die Linken selber Schuld?« zwei andere Spielmarken öffentlicher Auseinandersetzung. Oder sagt man besser: politische Entzündungsherde? Person wie Formulierung funktionieren als Bedeutungsbehälter, in den jede und jeder etwas hineinwerfen kann, weshalb dann dort die gegensätzlichsten Wahrnehmungen, Interpretationen, Zuschreibungen kollidieren – und es beginnt zu brennen, zu jucken, reißt auf, schmerzt dauerhaft, vernarbt. Aber warum? Der Grund muss über den Grünen-Politiker und den Merkel-Satz hinausreichen, darüber, was der Klimaminister in der Ampel erreicht hat oder wie groß der Anteil der neuen Nachbarn in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung inzwischen ist.
Dass ein Name oder eine Formulierung derart zu einer gesellschaftlich wunden Stelle werden, ist also abseits von Haltungsnoten und Migrationsbilanzen erklärungsbedürftig. Peter Unfried fragt mit Blick auf Habeck, »was aus seinem Scheitern folgt, wenn seine Analyse der gesellschaftspolitischen Lage richtig ist, wovon ich ausgehe. Sie lautet verkürzt: Ich habe das versucht, aber es gibt in der Spätmoderne keine gesamtgesellschaftlichen Ziele oder Aufgaben mehr, hinter die sich eine Mehrheit stellen würde… There is no such thing as common goals. Nicht mal oder schon gar nicht die Bewahrung der planetarischen Lebensgrundlagen für Menschen.«
In der »Zeit« kommt Johannes Schneider mit Blick auf »Wir schaffen das« zu einem ganz ähnlichen Gedanken. Der Satz habe damals etwas sozusagen Gesellschaftliches auf den Punkt gebracht, »was heute bei den demokratischen Parteien so sehr vermisst wird: ein emphatisches, gemeinsames Ziel. Statt wie heute nur noch das Schlimmste verhindern zu wollen, galt es, etwas Gutes zu schaffen«. Und auch Martin Machowecz, der das Contra zur preisverdächtig bescheuerten Diskussionsfrage »Hat der Satz Deutschland besser gemacht?« schreibt, gelangt im Grunde an denselben Punkt, wenn er das Problem an »Wir schaffen das« so beschreibt: »Dass es ein Vorsatz war, dem zu wenig folgte. Ein Appell, mehr nicht. Ein leeres Versprechen, eines, das nicht zu halten war. Merkels Regierung jedenfalls hatte keinen Plan dazu. Sie schaffte selbst wenig, das Schaffenmüssen lagerte sie an die Bürger aus. Die halfen, bis sie nicht mehr konnten«.
Es geht hier wie da um Zukunft als Ergebnis des Handelns von Bürgerinnen und als gemeinsam verabredete Entscheidung darüber, wer man unter welchen Umständen sein will: bei Unfried schon negiert, bei Schneider noch als Hoffnung, bei Machowecz ins kritische Verhältnis zu einem Staat gesetzt, der nicht lieferte – womit man wieder bei Unfried wäre, bei dem Habeck der gescheiterte Ermöglicher im Staatsamt ist und »die Mehrheit« so zukunftsunwillig, zukunftsmüde, zukunftsängstlich, dass sie sich nicht einmal der Bewahrung ihrer eigenen (und der vieler anderer) Lebensgrundlagen zusammenraufen kann.
Man kann da viele Fragen haben: Was eigentlich »das Gemeinsame« in einer von antagonistischen Interessen strukturierten Wirklichkeit sein soll. An wem es liegt, dass sich niemand mehr hinter Ziele stellen möchte. Ob es Aufgabe »der Politik« ist, irgend etwas zu liefern – oder noch gerade das »Schaffenmüssen« beim Souverän ganz richtig ist. Simon Strauss hat diese Frage in seiner Auseinandersetzung mit dem »Schlüsselsatz« aufgegriffen: »In der einen Deutung steht das Wir für die Deutschen, in der anderen für den deutschen Staat.« Einmal also geht es um die Kapazitäten der Ermöglichung dessen, worin die Bürgerschaft über sich selbst als Einzelne zur Res publica, zur öffentlichen Sache wird: selbst handelnd. Das andere mal wird jene »Zivilgesellschaft« aufgerufen, die schon vom Namen her irgendwie außerhalb des Staates zu stehen scheint, ihn mal ersetzt, mal von ihm blockiert wird.
Strauss liest Merkels Satz in dieser Doppeldeutigkeit, kommt dann aber noch auf die DDR zu sprechen: »Könnte der Satz also auch einen mentalitätsgeschichtlichen Umhang haben?«, eine ostdeutschen Bias sozusagen? Hier wird dann der Gegensatz zwischen Gemeinschaft (Nachbarschaft, Nische, Vertrauen) und Staat (Mangelwirtschaft, Überwachung, Gängelei) in der DDR aufgerufen, ein Topos, so Strauss, »der unabhängig von seiner empirischen Belegbarkeit bis heute seine Wirkung erzielt. Mit ihm einher ging ein eher handfester Zukunftsbegriff«, einer der sich in expliziter Opposition zum Zukunftsversprechen der SED herausbildete.
»Die entscheidende Frage aber lautet«, so Strauss: »Passte der Satz zu seinen Zuhörern?« In Unfrieds Pessimismus hat Habeck (als Staat) etwas angeboten (ein gesamtgesellschaftliches Ziel zu erreichen), eine Mehrheit wollte sich dahinter aber nicht mehr versammeln, obwohl es ums - zugespitzt formuliert - eigene Überleben geht. In Machowecz’ Kritik hat der Staat nicht geliefert, die Bürgerinnen mussten selbst etwas tun. So oder so: Die wunde Stelle, zu denen »Wir schaffen das« oder Robert Habeck geworden sind, die Fragen, die erklären könnten, warum es immer schlimmer juckt und eitert und vernarbt, weist auf trotzdem oder jedenfalls zu einem Teil auf »uns« zurück.
Darunter lässt sich einmal das »Wir« einer Bürgerschaft verstehen (jaja, die antagonistischen Interessen), genauso aber das »Wir der Linken« (jaja, die Rufe der Türsteher zum Diskurs sind nicht zu überhören). Die einen können sich mit Strauss fragen, ob sie wirklich die nachbarschaftlichen Anpacker sind - oder nicht doch eben jene »selbstbewussten Eigeninteressenvertreter« und Wohlstandsindividualisten. Die andere wird - in ihrer Unterschiedlichkeit - noch beweisen müssen, ob sie noch in der Lage ist, wie Bangel es schreibt, die Leute »zu überraschen. Ihnen zu zeigen, dass Dinge möglich sind, an die sie selbst nicht geglaubt hätten.« (tos)