»… zu einer ethisch fundierten Debatte zurückfinden«
Was sind die entscheidenden Fragen? Zum Beispiel, ob ein Gesetz, eine Vorschrift, zu einer besseren Gesellschaft beitragen wird. Linke bleiben meist in der Empörung über das Grundfalsche stecken. Welche Begriffe haben wir vom Grundrichtigen? Erkundungen bei Tony Judt und Thomas Piketty.
Kurz vor seinem Tod 2010 publizierte der britisch-amerikanische Historiker Tony Judt, als eine Art Vermächtnis, ein »Traktat über unsere Unzufriedenheit« mit dem Titel »Dem Land geht es schlecht«. Wer nun eine Liste von Mängeln, Lücken und Unterlassungen erwartete, also eine der üblichen Aneinanderreihungen von zu lösenden Problemen, von zu bewältigenden Herausforderungen und zu erledigenden Aufgaben, der wurde enttäuscht. Stattdessen sahen sich die linken, sozialdemokratische Kräfte in Europa und den USA, die Judt vor allem adressierte, mit Grundsätzlichem konfrontiert: »Irgendetwas ist grundfalsch an der Art und Weise, wie wir heutzutage leben.« Die Gesellschaft habe in den zurückliegenden Dekaden verlernt, »die entscheidenden politischen Fragen« zu stellen, nämlich ob ein Gesetz, eine Vorschrift, ein Gerichtsurteil »zu einer besseren Gesellschaft, zu einer besseren Welt beitragen wird«. Die »bessere Gesellschaft« als Ziel steht unmittelbar im Konflikt mit der Verherrlichung des »eigennützigen Gewinnstrebens«, der »materialistischen und eigennützigen Lebensart«. »Privater Wohlstand« und »öffentliche Verwahrlosung« gehen Hand in Hand. Die politische Repräsentation der Sorge um das »Gemeinwohl« sei vakant. Unter den linken und sozialdemokratischen Parteien »bleibt die Abneigung, im Interesse des Gemeinwohls oder aus Prinzip für den öffentlichen Sektor einzutreten«.
Diese Abneigung hat seit 2010 erkennbar abgenommen. Gegenwärtig versucht die EU in einem Kraftakt mit dem jüngsten industriepolitischen Subventionspaket, dem Inflation Reduction Act (IRA), gleichzuziehen durch das sogenannte Netto-Null-Industrie-Gesetz. Es soll die Wettbewerbsfähigkeit der EU sichern, die Importabhängigkeit mildern und die Klimaziele doch noch erreichbar machen. Wirtschaftsredakteure sehen in dem Gesetz einen Paradigmenwechsel, zum Beispiel Jan Diesteldorf: »Die EU probt damit eine Abkehr von jahrzehntelang unverrückbaren Grundsätzen in der Wirtschaftspolitik der Staatengemeinschaft: Wettbewerb sicherstellen, Subventionen begrenzen, Freihandel fördern. Es ist ein Paradigmenwechsel. Willkommen in der neuen Welt der Planwirtschaft. Einen so umfassenden Plan zum Umbau der Wirtschaft und zur Stärkung der heimischen Industrie hat sich die EU noch nie vorgenommen.«
Vom Ziel einer »besseren Gesellschaft« und vom «Gemeinwohl« hört man indes wenig, auch nicht von einem »umfassenden Plan zum Umbau der Wirtschaft« unter demokratischer Regulation.
Von linker Seite sind in den vergangenen Jahren wenig Anstrengungen unternommen worden, geschweige denn Bemühungen im kollektiven Gedächtnis haften geblieben, dem »Grundfalschen« wirkmächtige Begriffe zu geben und das Grundrichtige zu bewerben. Wenig scheint an der Judt’schen Einschätzung zurückzunehmen sein, wonach Linke allzu oft noch in der Empörung über das Grundfalsche stecken bleiben. »Aber es reicht nicht mehr, die Mängel des ›Systems‹ anzuprangern und dann die Hände in den Schoß zu legen. Die verantwortungsvolle Effekthascherei vergangener Jahrzehnte ist der Linken nicht gut bekommen. Wir sind in ein Zeitalter der Unsicherheit eingetreten – wirtschaftliche Unsicherheit, physische Unsicherheit, politische Unsicherheit. (…) Unsicherheit erzeugt Angst. Und Angst – Angst vor Veränderung, Angst vor sozialem Abstieg, Angst vor Fremden und einer fremden Welt – zerfrisst das wechselseitige Vertrauen, auf dem die Bürgergesellschaft beruht. Jede Veränderung bringt Unruhe. Wie wir gesehen haben, kann schon das Gespenst des Terrorismus stabile Demokratien aus dem Gleichgewicht bringen. Der Klimawandel wird noch dramatischere Auswirkungen haben. Die Menschen werden auf die Ressourcen des Staates zurückgeworfen sein. Schutzsuchend werden sie sich an die Politik wenden. Offene Gesellschaften werden sich wieder abschotten, ihre Freiheit der ›Sicherheit‹ opfern. Die Alternative lautet dann nicht mehr Staat oder Marktwirtschaft, sondern dieser oder jener Staat. Wir müssen daher die Rolle des Staates neu definieren. Wenn wir es nicht tun, werden andere es tun.«
Spätestens die Corona-Pandemie hat auch Deutschland dieses Konflikt-Stadium erreichen lassen: Die dominierenden Debatten drehen sich nicht mehr um die Achse »Markt vs. Staat«, sondern um demokratischer Staat vs. autoritärer Staat, verbietender und erziehender Staat vs. fördernder und partnerschaftlich-stützender Staat, Fürsorgestaat vs. Versicherungsstaat usw.
Die Anpassung an die Folgen der Krise der biophysikalischen Existenz erfordert systemische Veränderungen in der Produktionsweise – strukturelle Weichenstellungen des Staates zur Mehrung des Gemeinwohls - wie auch Bereitschaft und Fähigkeit der Individuen zu Verhaltensänderungen, damit eine neue Konsum- und Lebensweise heranwächst. Wie tritt der demokratische Staat dabei seinem Souverän, den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber? Wie viel individuelle Umstellungsbereitschaft, materiell und sozialpsychologisch, kann erwartet werden, wie viele private Ressourcen können vorausgesetzt werden?
Und mitnichten wollen alle dasselbe. »Begüterte wollen nicht dasselbe wie Arme, Lohnabhängige nicht dasselbe wie Wohlhabende, die von Zinserträgen und Dividenden leben können. Wer auf öffentliche Angebote nicht angewiesen ist (weil er sich private Verkehrsmittel, Schulen und Sicherheitsdienste leisten kann), will nicht dasselbe wie jene, die auf den Staat angewiesen sind. (…) Gesellschaft sind komplex, ihre Mitglieder haben unterschiedliche Interessen. Wer etwas anderes behauptet, wer Klassen- und Einkommensunterschiede leugnet, stellt nur bestimmte Interessen über andere.« Deshalb wird jeder Staat, der sich den Schutz des »freien Marktes« um obersten Ziel setzt, notwendig zum Klassenstaat. Denn der freie Markt schützt die Ungleichheit; dort zählen allein kommerzielle Kriterien, Kaufkraft, ökonomische Indikatoren. Keine Rolle spielen, so Judt, »Wohlergehen«, »Fairness«, »Gleichberechtigung», »Ausgeschlossensein», »Chancenlosigkeit«, »enttäuschte Hoffnung«, »Erniedrigung«, »Wertschätzung«, als diejenigen Güter, »die dem Menschen schon immer wichtig waren, aber nicht quantifizierbar sind«.
Wer über den Staat reden will, muss darüber reden, was eine »gute Gesellschaft« auszeichnen soll und was sie uns wert ist. Die Transformation der fossilistischen in eine planetarische Gesellschaft wird in technokratischen Autoritarismus münden, wenn überzeugende Antworten auf diese Fragen fehlen. Die soziale Frage, schreibt Judt, müsse im 21. Jahrhundert gegenüber dem 19. Jahrhundert neu gestellt werden, doch »heute wie damals (gehe es) um etwas Umfassenderes, um die Frage nämlich, unter welchen Bedingungen der Mensch ein lohnendes Leben führen kann«.
Die soziale Frage so formuliert, macht auf ein Versäumnis der politischen Linken aufmerksam: »Nur behaupten, dass etwas in unserem Interesse sei, wird niemanden zufriedenstellen. Um andere davon zu überzeugen, müssen wir von Zielen sprechen.« Denn ohne Idealismus verkommt Politik »zu sozialer Buchhaltung, die Menschen und Dinge verwaltet«. Konservative würden auch das überleben - »für die Linke ist es eine Katastrophe«. Die SPD führte 2021 einen Wahlkampf, der das begriffen zu haben schien; Linke hielten eher buchhalterisch dagegen. Also: Wie organisieren wir unser Gemeinwesen unter den Bedingungen der biophysikalischen Existenzkrise zum Wohle aller, ohne wieder bei einem übermächtigen Staat zu enden?
Die Antwort wird kein einfache und widerspruchsfreie sein. Denn: »Für die meisten Leute gründen Legitimation und Glaubwürdigkeit eines politischen Systems aber nicht in demokratischen Strukturen, sondern in Ordnung und Zuverlässigkeit. Ein stabiles autoritäres Regime erscheint viel akzeptabler als eine schwache Demokratie. Selbst Recht und Gerechtigkeit zählen wahrscheinlich weniger als eine kompetente Verwaltung und öffentliche Ordnung. Demokratie ist fein, aber vor allem wollen wir in Sicherheit leben. Je größer die globalen Bedrohungen, desto größer wird die Sehnsucht nach Ordnung.«
Funktionierende öffentliche Dienstleistungen und starke, vertrauenswürdige demokratische Institutionen sind die Rückversicherung gegen politische oder religiöse Schwarzmarktphantasien. Finanzkrisen, anhaltende Migration in den globalen Norden, Klimakrise, Pandemie, nun der kriegerische russische Imperialismus in Europa – das wären die zentralen Stichworte für das prozesshafte Anwachsen des Autoritarismus in – eigentlich, zuvor? - demokratisch verfassten Gesellschaften. Das informelle Bündnis zwischen Schutzsuchenden und autoritären Antworten auf die Krise, Lösungen »von oben«, könnte sich unter dem anhaltenden Krisendruck schnell als übermächtig erweisen.
Dagegen helfen nicht allein die besseren Konzepte, etwa zur Bewältigung existentieller biophysikalischer Bedrohungen, so Tony Judt’s Annahme bereits 2010, sondern nur die Wiederaufnahme des Kampfes gegen das »Grundfalsche«. Der linke Idealismus, der die »gute Gesellschaft« lebendig hält, gründet in Auslegungen dessen, was eine gerechte Gesellschaft auf der Basis der Gleichheit und gleichen Freiheit aller ausmacht.
Hierauf weist nicht zuletzt Thomas Piketty immer wieder hin. In einem für seine Verhältnisse schmalen Band einer kurzen »Geschichte der Gleichheit« (2022) resümiert Piketty ebenfalls ein Konglomerat von Krisenmomenten, Spannungen und Konfrontationen, aus dem »historische Veränderungen von großer Tragweite« hervorgehen können. »Da der Klimawandel nicht das einzige Zerstörungsgeschehen in diesen Zeiten ist, kann es auch sein, dass uns die ersten kataklystischen Ereignisse an anderen Fronten erwarten, etwa an der des rasanten Verschwindens der Biodiversität, der Übersäuerung der Meere oder des Fruchtbarkeitsverlusts der Böden. Das finsterste Szenario ist, dass die Signale zu spät kommen, um zu verhindern, dass es zu Verteilungskämpfen um Ressourcen kommt.«
Eine anderes Szenario unterstellt, dass »die nächste Welle deutlicher Signale« eine »heilsame Bewusstseinsänderung« hervorrufen und »wie in der Krise der 1930er Jahre eine grundlegende Transformation des Wirtschaftssystems mit neuen Formen des Eingriffs der öffentlichen Hand« legitimieren könne. Ein weiteres Szenario sieht wachsenden Druck aus dem postkolonialen globalen Süden als entscheidendes Movens: »Auch feindselige Reaktionen gegenüber Ländern und sozialen Gruppierungen, deren Lebensstil den größten Beitrag zum Desaster geleistet hat, angefangen mit den reichen Klassen der Vereinigten Staaten, aber auch Europas und der Welt, sind durchaus absehbar. Unter diesem Aspekt sollte man sich vor Augen führen, dass die Staaten das Nordens ihrer geringeren Bevölkerungszahl zum Trotz (ungefähr 15 Prozent der Weltbevölkerung für die Vereinigten Staaten, Kanada, Europa, Russland und Japan gemeinsam) für fast 80 Prozent der seit Beginn des Industriezeitalters akkumulierten CO2-Emissionen verantwortlich sind. Grund dafür ist das extrem hohe Niveau der Jahresemission pro Kopf in den westlichen Ländern zwischen 1950 und 2000: zwischen 25 und 30 Tonnen pro Einwohner in den Vereinigten Staaten, um die 15 Tonnen in Europa.«
Linke Auslegungen des »Grundrichtigen«, von Gleichheit und gleicher Freiheit, haben sich dann wohl in diesem Szenario zu bewähren. Gerade wenn die nationalstaatliche Bühne eine entscheidende bleibt. »Jeder Staat, und das war in der Geschichte nie anders, muss sich von Verpflichtungen seiner Vorgänger lösen können, wenn er dies für geboten hält und vor allem dann, wenn sie den sozialen Frieden und das Überleben des Planeten gefährden. Entscheidend ist allerdings, dass sich dieser Souveränismus von Zielsetzungen universalistischen und internationalistischen Typs her versteht, das heißt an den Kriterien einer Sozial-, Fiskal- und Umweltgerechtigkeit orientiert, die für alle Länder in der gleichen Weise gelten können.«
Ein universalistischer Souveränismus müsse und könne sich deutlich vom nationalistischen Typus unterscheiden, so Piketty weiter: »Bevor man mögliche unilaterale Maßnahmen ergreift, ist es entscheidend, den anderen Ländern ein Modell kooperativer Entwicklung vorzuschlagen, das sich auf universale Werte und auf objektive, überprüfbare Sozial- und Umweltindikatoren stützt, durch die sich insbesondere öffentlich feststellen lässt, in welchem Umfang die unterschiedlichen Einkommens- und Vermögensklassen die öffentlichen und ökologischen Lasten mittragen. Außerdem müssen die transnationalen Versammlungen, denen idealiter die globalen öffentlichen Güter wie eine gemeinsame Politik der Steuer- und Umweltgerechtigkeit anvertraut wären, exakt beschrieben werden.« (haka)
Der Titel ist einem Leserbrief an Tony Judt entnommen, den er seinem Traktat als Motto mitgab: »Bemerkenswert an dem, was Sie sagen, ist nicht so sehr der Inhalt, sondern die Form. Sie sprechen von Ihrem Zorn auf unsere politische Untätigkeit. Sie schreiben, dass wir von unserer ökonomistischen Denkweise wegkommen und zu einer ethisch fundierten politischen Debatte zurückfinden müssen. So spricht niemand mehr.« Daher dieses Buch.
Tony Judt: Dem Land geht es schlecht. Ein Traktat über unsere Unzufriedenheit, Deutsche Ausgabe München 2011.
Thomas Piketty: Eine kurze Geschichte der Gleichheit, Deutsche Ausgabe München 2022.