»Worauf gründet sich Wohlstand?« (2002)
Wie sind soziale Sicherheit und ein gutes Leben ohne eine ständig wachsende Wirtschaft möglich?, fragte Wolfgang Sachs 2002 und sah eine Antwort im Ausstieg aus der »Arbeiten und Konsumieren«-Spirale und in mehr Wahlfreiheit bei der Gestaltung der Arbeitszeit. Aus dem Archiv linker Debatte.
// …Worauf gründet sich Wohlstand? Immer schon seit Adam Smith die menschliche Arbeitskraft (für die Herstellung marktfähiger Güter) zur Quelle nationalen Wohlstands erklärt hatte, haben die Wirtschaftswissenschaftler die Sphäre der dem Markt vor- und nachgelagerten nicht-kommerziellen Aktivitäten vernachlässigt. Die Augen fest auf das BSP gerichtet, haben sie Schwierigkeiten, Wertschöpfung anzuerkennen, die außerhalb der formalen Wirtschaft erbracht wird. Dazu zählen Haushaltsarbeit, Kindererziehung, persönliche Aktivitäten, Freundschaft, Vereinsleben und Bürgergruppen. Benutzt man eine wirtschaftliche Ausdrucks-weise, haben sie nicht nur den Blick auf das natürliche, sondern auch auf das soziale Kapital verloren. Sie übersehen das soziale Kapital, weil sie sich von den sich auftürmenden Outputs der formalen Wirtschaft beeindrucken lassen, die, angefeuert von fossilen Treibstoffen, einen langen Schatten auf andere Quellen des Wohlstands werfen. Der Glaube, dass alle Wertschöpfung von absatzfähigen Gütern produziert wird, hat seine Ergänzung in dem Glauben gefunden, dass Erfüllung von eben diesen auf dem Markt erhältlichen Gütern und Dienstleistungen kommt, also der Kaufkraft. Wiederum sind persönliche Projekte, wechselseitige Netzwerke und öffentliche Vereinigungen aus der Wahrnehmung des Wohlstands verschwunden und lassen lediglich die Konsumaktivitäten im Rampenlicht.
Wie auch immer: Dass dem Markt solch ein Ausmaß gegeben wurde, führte zu wohlhabenden Gesellschaften in einem ökologischen - aber bei weitem nicht nur ökologischen - Teufelskreis. Nachdem die Maximierung des Konsums als Weg zur Erfüllung gesehen wird, erscheint die Maximierung des Verdienstes als die einzig rationale Verhaltensweise.
Einkommen wurde generell wichtiger als Freizeit angesehen und Konsum allemal besser als Muße. Folglich wurde ein überwiegender Teil des wirtschaftlichen Produktivitätsgewinns in höhere Löhne und erweiterte Produktion umgesetzt und damit auch in einen erhöhten Ressourcenverbrauch. Dies ließ freilich nur einen kleinen Teil dafür übrig, in reduzierte Arbeitszeit umgewandelt zu werden. In den meisten Gesellschaften hat die Starrheit der Arbeitszeitordnungen und die daran angeschlossenen Einkommenshöhen dieses Muster verstärkt. Normale Arbeit bedeutete lange Zeit einen Acht-Stunden-Tag, fünf Tage die Woche und einen lebenslangen Arbeitsplatz. Trotz aller Konsumfreiheit waren die Bürger selten berechtigt, eine wichtige Wahl zu treffen, nämlich jene, wie lange sie arbeiten möchten und wie viel sie dementsprechend verdienen wollen. Bis zum heutigen Tag geht es bestenfalls um die Wahl zwischen Vollanstellung oder gar keiner. Übergangsformen wie kürzere Arbeitswochen oder längerer Jahresurlaub sind selten. Ist aber die Einkommenshöhe festgelegt, dann bestimmt die Kaufkraft den Konsum. Es setzt eine »Arbeiten und Konsumieren«-Spirale ein, mit der gleichbleibende Einkommen keine andere Wahl lassen als neben Sparen, den Konsum zu erhöhen. Einfach gesagt, hören die Leute auf zu fragen, wie viel Geld sie für ihre Bedürfnisse verdienen müssten und gewöhnen sich stattdessen daran zu überlegen, welche Bedürfnisse sie sich mit dem verdienten Einkommen leisten können. Aus diesem Blickwinkel sieht man, wie der Mangel an Wahlfreiheit bei der Gestaltung der Arbeitszeit einen machtvollen Anreiz für die Expansion des Konsums darstellt.
Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, dass eine ganze Reihe von Leuten, hätten sie die Wahl, es vorziehen würden, für weniger Lohn weniger zu arbeiten. In der Tat ist für viele - speziell Wohlhabende - nicht Geld, sondern Zeit ein knappes Gut. Geld und Zeit werden inzwischen als zwei in Wettbewerb stehende Quellen für Wohlstand gesehen. Jenseits einer bestimmten Einkommenshöhe ist der Grenznutzen von mehr verfügbarer Zeit höher als der von mehr verfügbarem Einkommen. Auf der Suche nach mehr Freiheit für die eigenen Interessen sind einige Leute bereit, auf einen Teil ihres Einkommens zu verzichten und willentlich das Abenteuer zu wagen, ihr Leben so zu arrangieren, dass sie mit weniger auskommen. Mit Blick auf den persönlichen Wohlstand kann ein Gewinn an Freizeit den Verlust von Einkommen kompensieren und so Raum schaffen, Bedürfnisse außerhalb des Marktes zu befriedigen. Solch ein Lebensstil könnte durch das Prinzip der Zeitsouveränität angeregt werden - dem viel umfassenderen Recht, die Länge der eigenen Arbeitszeit zu wählen. Solch ein Grundsatz wäre nicht nur auf sozialer Ebene zur Bekämpfung der Beschäftigungskrise willkommen, sondern auch auf ökologischer, um Kaufkraft abzubauen.
Ein solcher Ansatz würde auch einen Einstieg eröffnen, um einen Ausgleich zwischen der monetären und der nicht-monetären Sphäre der Gesellschaft herzustellen. In der Perspektive eines zukunftsfähigen Gemeinwesens jedenfalls haben die economic underachievers (die sich bewusst weniger leisten), also jene, die wohlüberlegt unter ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten leben, ihre Zeit vor sich. Underachievers können einen Sektor von Wechselseitigkeit und zivilem Engagement hervorbringen, ohne den das Ende des wirtschaftlichen Wachstum ein dramatischer Schlag für die Lebensqualität sein würde. Denn die Grundfrage für eine nachhaltige Wirtschaft lautet doch so: Wie sind soziale Sicherheit und ein gutes Leben ohne eine ständig wachsende Wirtschaft möglich? Eine denkbare Antwort liegt darin, Wege zu finden und zu prüfen, wie die Ressourcen an Recht, Land, Infrastruktur und Geld so eingesetzt werden können, dass Menschen in die Lage versetzt werden, nützliche Dinge aus eigener Kraft zu tun. Solch ein Wandel wird unterstützt, wenn Ortsteile und Nachbarschaften Netzwerke und Institutionen entwickeln, in denen nicht-kommerzielle Aktivitäten aufblühen können, die den Beteiligten sowie anderen nutzen… //
Wolfgang Sachs: Nach uns die Zukunft. Der globale Konflikt um Gerechtigkeit und Ökologie, Frankfurt am Main, 2002.