»Welche Austerität?« (1977)

Kein Armutsideal, sondern eine neue Art und Weise, auf die Bedürfnisse des Einzelnen und der Gemeinschaft einzugehen, »ohne die Natur, den Raum und die Ressourcen des Landes zu plündern und zu zerstören«, schlug die Partito comunista italiano vor fast 50 Jahren vor. Aus dem Archiv linker Debatte.

Die Kommunistische Partei Italiens verfolgte seit den 1960er Jahren ihren politischen Kurs in Abgrenzung zum sowjetischen Modell, vor allem was sozialistische Demokratie und die Freiheit der Kultur anging. Unter Generalsekretär Enrico Berlinguer steuerte die PCI in den 1970er Jahren auf die Überwindung des beschränkten sozialen und politischen Einflusses kommunistischer Parteien durch eine Öffnung für parlamentarische Gestaltungspolitik und Regierungsübernahme. Dieser »Eurokommunismus« nahm in Italien aufgrund nationaler Besonderheiten eine besondere Form an: Im Rahmen des »historischen Kompromisses« duldete die Partei ab 1978 eine Minderheitsregierung der Democrazia Cristiana unter Giulio Andreotti. In jener Zeit diskutierte die PCI über einen neuen Programmentwurf, um die Politik der Partei in Zeiten der tiefgreifenden Wirtschaftskrise neu auszurichten, die viele westliche Industriestaaten in den 1970er Jahren erschütterte, und zugleich »mit der Perspektive zu verknüpfen, bestimmte neue Werte, Richtungen und Beziehungen bei der Führung des Landes zu verwirklichen«. Es gehe um die »Lancierung der großen Ziele und Leitgedanken sowie die Herstellung eines neues gesellschaftlichen Klimas«, wie es Giorgio Napolitano aus der Führungsriege der PCI zur Vorlage des »Vorschlags« 1977 formulierte. Der erste Teil des Entwurfs ist mit »Weshalb ein Programm der Umgestaltung und Erneuerung der italienischen Gesellschaft notwendig ist und woran es sich orientiert« überschrieben, und widmet sich unter anderem der Frage: Welche Austerität?

// (…) Zielstrebigkeit und Kampf gegen Ungerechtigkeiten und Verschwendung müssen zum System des Regierens erhoben werden, um zu erreichen, dass die Krise nicht nur ein schweres Gewicht ist, das das italienische Volk ertragen muss als Auswirkung der Widersprüche des kapitalistischen Systems und der Distorsionen, für die die Kräfte verantwortlich sind, die das Land in den letzten dreißig Jahren regiert haben, sondern zur historischen Gelegenheit wird, um den Weg in Richtung auf eine gerechtere, freie und menschliche Gesellschaft zu öffnen.

Die Austerität ist eine unleugbare Notwendigkeit, um den gegenwärtigen Schwierigkeiten der Wirtschaft zu begegnen. Zu ihr gibt es mithin keine Alternative. Aber nach unserer Auffassung besteht die Austerität nicht aus einer zeitweiligen Einsicht, aus einer kurzen Periode schmerzhafter Opfer, um dann zu den vorangegangenen Richtungen zurückzukehren; sie besteht nicht in einer momentanen Einschränkung eines als unveränderbar verstandenen Konsumverhaltens; sie stellt vielmehr ein Vorgehen dar, im Rahmen eines genau umrissenen Programms die Funktionsweise und die gesellschaftlichen Zielsetzungen der Wirtschaft, die Ausrichtung der Investitionen, der Produktion und der öffentlichen Ausgaben, die Qualität des Konsums zu verändern, und somit die damit verbundene Lebensweise zu beeinflussen, auf die Kulturmodelle und Verhaltensmuster ganzer Bereiche der italienischen Gesellschaft einzuwirken.

In diesem Prozess müssen wir uns von der Überzeugung leiten lassen, dass es nicht möglich ist, Massen von Jugendlichen eine produktive Beschäftigung zu garantieren, der Frauenarbeit Rechtsgleichheit zu verschaffen und den Mezzogiorno organisch in eine neue Entwicklung der italienischen Wirtschaft einzubeziehen, ohne tiefgreifend die Verwendung der Ressourcen zu verändern, ohne ungeheure Mittel vom Konsum auf die Investitionen zu verlagern, ohne denjenigen die Rechnung zahlen zu lassen, der sie zu zahlen hat, ohne die öffentliche Verwaltung zu sanieren und ohne einen neuen Lebensstil im öffentlichen und privaten Bereich durchzusetzen, wodurch bestimmte Lebensgewohnheiten kritisch überdacht werden. Gerade in diesem Sinne muss Austerität als einziger Weg verstanden werden, um die Probleme des ärmsten Teils der Gesellschaft zu lösen, um die großen Probleme der Beschäftigung und einer wachsenden Gleichheit in den Griff zu bekommen. Gleichzeitig stellt sie die einzige Möglichkeit dar, neuen individuellen und gesellschaftlichen Werten Geltung zu verschaffen, wobei man auf die unter den Massen und unter den Jugendlichen immer lebendigere Notwendigkeit reagiert, den Produktionsprozess sowie die Entfaltung der Wissenschaft und der Technologie auf die Befriedigung von höher entwickelten Bedürfnissen auszurichten.

Wir wollen weder ein Armutsideal noch eine Rückkehr zu archaischen Lebensformen vorschlagen, sondern eine neue Art und Weise, auf die Bedürfnisse des Einzelnen und der Gemeinschaft einzugehen, wobei wir jede Form der Verzerrung des Konsums und der Vergeudung von Ressourcen bekämpfen. Wir schlagen eine Entwicklung der Produktivkräfte vor, die imstande ist, nicht nur das Elend, das aus der Ungerechtigkeit und aus der Arbeitslosigkeit entsteht, zu bewältigen, sondern auch die neuen Formen von menschlicher Verelendung und die Armut, die ideelle und moralische Armseligkeit der bislang vorherrschenden Lebensstile.

Wir wollen die Perspektive einer Gesellschaft umreißen, die sich auf einer größeren Rationalität gründet, auf der höchstmöglichen Entfaltung der Produktivkräfte und auf der Notwendigkeit einer Gerechtigkeit, wie sie im Bewusstsein von breiten Volksmassen herangereift ist.

Wir wollen eine Rationalität, die inspirierendes Kriterium des Wachstums der Wirtschaft und der Gesellschaft ist und sich gegen alle Tendenzen richtet, die Ressourcen und selbst die Fähigkeiten des Menschen zu zerstören; eine moderne Entwicklung der Produktivkräfte, die es erlaubt, einen größeren gesellschaftlichen Reichtum zu produzieren; eine bewusste Leitung des wirtschaftlichen Wachstums, mit der sich die Beziehungen zwischen Stadt und Land ausgeglichen lösen lassen, ohne die Natur, den Raum und die Ressourcen des Landes zu plündern und zu zerstören. Die neue Entwicklung soll sich an der Gerechtigkeit orientieren, so dass die wesentlichen Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung befriedigt werden können, wobei die freie Entfaltung der Persönlichkeit und des Lebens der Einzelnen garantiert wird und unerträgliche Ungleichmäßigkeiten und Ungleichheiten auch durch einen wirksamen Einsatz des Steuersystems und der öffentlichen Ausgaben überwunden werden. Auf dieser Grundlage - wenn also die Privilegien bekämpft werden und dem korporativen Egoismus Einhalt geboten wird - können wir die großen Fragen der Nation einer Lösung näherbringen und in einem Geist von Einheit, Verständnis und Toleranz die immer umfassenderen und komplexen Probleme der Marginalisierung und der Absonderung der Schwachen begegnen.

Schließlich bedeutet die Verwirklichung einer Austeritätspolitik, die die wesentlichen Bedürfnisse des Menschen erfüllt, zugleich einen weiteren Sprung nach vorn im demokratischen Leben der Gesellschaft, der undenkbar und nicht verwirklichbar ist ohne die größtmögliche Zustimmung, Beteiligung und Kontrolle von unten. (…) //

aus Partito comunista italiano: Der kommunistische Vorschlag. Entwurf eines Programms zur Umgestaltung Italiens, Mai 1977, deutsche Übersetzung VSA Hamburg 1978.

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