Wechselt das Paradigma? Und wohin?
Rückkehr des Staates, industriepolitische Renaissance, angebotsorientierter Liberalismus - schon länger wird der Frage nachgegangen, ob die Zeit von marktliberalen Grundsätzen und Neoliberalismus abgelaufen ist. Das hat auch etwas mit der Klimakrise zu tun. Ein Blick auf neuere Veröffentlichungen.
»Heute befinden wir uns mitten in einem Übergang weg vom Neoliberalismus«, hat vor einigen Monaten der Harvard-Ökonom Dani Rodrik eine schon länger laufende Debatte zusammengefasst: »Aber was an seine Stelle treten wird, ist höchst ungewiss«. Der Neoliberalismus hinterlasse eine Vakuum, dieses könne erst dann wirklich gefüllt werden, wenn es »die Unterstützung des gesamten politischen Spektrums« habe, aber das sei bei aller Polarisierung keineswegs ausgeschlossen. Rodrik sieh »bereits Anzeichen für eine Annäherung. Insbesondere könnte sich ein neuer parteiübergreifender Konsens über den ›Produktivismus‹ abzeichnen, der die Verbreitung produktiver wirtschaftlicher Möglichkeiten in allen Regionen und allen Segmenten der Erwerbsbevölkerung betont. Im Gegensatz zum Neoliberalismus räumt der Produktivismus den Regierungen und der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle bei der Erreichung dieses Ziels ein. Er setzt weniger Vertrauen in die Märkte, misstraut großen Unternehmen und stellt Produktion und Investitionen über das Finanzwesen und die Wiederbelebung lokaler Gemeinschaften über die Globalisierung. Der Produktivismus weicht auch vom keynesianischen Wohlfahrtsstaat ab, indem er sich weniger auf Umverteilung, Sozialtransfers und makroökonomisches Management konzentriert und mehr auf angebotsseitige Maßnahmen zur Schaffung guter Arbeitsplätze für alle. Und der Produktivismus weicht von seinen beiden Vorläufern ab, indem er Technokraten gegenüber skeptischer ist und dem Wirtschaftspopulismus weniger feindselig gegenübersteht.« Es gebe hinreichend »Anzeichen für eine grundlegende Neuorientierung hin zu einem wirtschaftspolitischen Rahmen, der auf Produktion, Arbeit und Lokalismus statt auf Finanzen, Konsum und Globalismus ausgerichtet ist. Der Produktivismus könnte sich zu einem neuen politischen Modell entwickeln, das selbst die Vorstellungen der am stärksten polarisierten politischen Gegner anspricht.«
Amy Kapczynski vom Projekt Law and Political Economy hat den Gedanken unlängst in skeptischer Absicht aufgegriffen. Sie geht davon aus, dass das, was »in progressiven politischen Mainstream-Kreisen an Aufmerksamkeit gewinnt« - »Produktivismus«, »angebotsorientierter Liberalismus«, »neue Industriepolitik« - eher »zu einer mutierten Form des Neoliberalismus als zu einer echten Alternative dazu führen« werde. »Die wichtigsten legislativen Errungenschaften der Biden-Administration - das Infrastrukturgesetz, das Halbleitergesetz, der Inflation Reduction Act - fallen alle unter diese Überschrift. Auch auf der rechten Seite werden Stimmen laut, die neue Investitionen in die Industriepolitik fordern.« Doch viele der Probleme der politischen Ökonomie könnten auch bei neuer Betonung der Produktionsseite »unangetastet bleiben oder sogar noch verschärft werden. Ein offensichtliches Beispiel ist die extraktive politische Ökonomie der Reproduktion. Bidens Infrastrukturgesetz habe ursprünglich einen Schwerpunkt auf der Pflege gehabt, dies wurde jedoch wieder fallen gelassen, »obwohl die Pflege einer der wichtigsten und am schnellsten wachsenden Sektoren der formellen Arbeit ist und, wie ich argumentiert habe, eine zentrale Rolle bei den Problemen unserer politischen Ökonomie im Allgemeinen spielt«. Auch sei nicht klar, »ob der Produktivismus Änderungen an unserem räuberischen Sozialstaat mit sich bringen würde oder ob wir uns zu einem allgemeinen Zugang zur Gesundheitsversorgung oder anderen Formen der Dekommodifizierung verpflichten würden. Er wird zu einem großen Teil von der Sorge um das Klima angetrieben, scheint aber weder eine gerechte Energiewende noch eine Art von Wiedergutmachungspolitik zu fordern, die sich darauf konzentriert, was die Gerechtigkeit von uns in einer Demokratie der Gleichen verlangt.« Ein weiteres Problem sei »das Schicksal einer progressiven industriepolitischen Agenda, sobald sie auf die politische Realität unserer Institutionen trifft«. So sei zu befürchten, dass Bidens Inflation Reduction Act, der »viel Erfreuliches« enthalte, »am Ende die privaten Gewinne in die Höhe treiben und neue Wellen der Unternehmenskonzentration auslösen« werde. Kapczynski fragt zudem, »wie sehr sich diese Version der Industriepolitik« von neoliberalen Varianten unterscheidet. »Schließlich hat sich die neoliberale Marktsteuerung, auch wenn sie oft untergetaucht war, zentral auf staatliche Ausgaben als Grundlage gestützt, auf der die Privatwirtschaft in ihrem normalen, gewinnorientierten Modus arbeiten sollte. Die Geschichte lehrt uns, dass eine Abkehr von der Industriepolitik und eine Hinwendung zu öffentlichen Investitionen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen nicht zwangsläufig etwas wirklich Egalitäres und Demokratisches hervorbringen muss.« Es könnte unterm Strich auf Geld und Investitionen hinauslaufen, aber »Gesetzesreformen zur Stärkung der Arbeit, zur Förderung der allgemeinen Gesundheitsversorgung und des Wohnungsbaus, zur Reform der Gerichte oder zur Infragestellung der Macht der Unternehmen« bleiben aus.
Auch der in Mannheim lehrende Makroökonom Tom Krebs nimmt den Inflation Reduction Act in den Fokus - als »Beispiel für moderne Klimapolitik in dem Sinne, dass er mehrere Elemente einer arbeitnehmerfreundlichen, grünen Industriepolitik enthält«. Der Unterschied zur »traditionellen Klimapolitik«: Diese habe auf dem marktliberalen Paradigma basiert, »das auf Kohlenstoffpreise, den Glauben an sich selbst regulierende Märkte und Transferzahlungen für die so genannten ›Verlierer‹ des Transformationsprozesses setzt. »Der marktliberale Ansatz in der Klimapolitik ist zum Scheitern verurteilt, weil er auf einer realitätsfernen Gesellschaftstheorie beruht – er vernachlässigt die Anpassungskosten im Transformationsprozess und die ökonomischen Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Eine moderne Klimapolitik hingegen berücksichtigt diese Merkmale realer Gesellschaften und kann ein grünes und integratives Wirtschaftswachstum ermöglichen. Sie basiert auf der Idee einer vorausschauenden Regierung, die arbeitnehmerfreundliche, grüne Institutionen schafft und eine arbeitnehmerfreundliche, grüne Industriepolitik einsetzt, um Menschen und Unternehmen im Transformationsprozess zu unterstützen.« Allerdings, so auch Krebs in seinem Working Paper für das Forum New Economy, fehle »es den USA derzeit an der institutionellen Struktur, um eine arbeitnehmerfreundliche Klimaagenda erfolgreich umzusetzen. Die europäischen Länder sollten sich den allgemeinen Ansatz der USA in der Klimapolitik zu eigen machen und auf der Grundlage ihrer institutionellen Stärken ihre eigene, verbesserte Version entwickeln.« (Hier noch eine Kurzfassung von Krebs Argumentation.)
Den Blick über neuere Entwicklungen in den USA hinaus wendet das Forum New Economy in einem ebenfalls neuen Bericht über die »Rückkehr des Staates: Modephänomen oder neues Paradigma?« Nach dem Scheitern von marktliberalen Grundsätzen als Leitmotiv sei seit der Finanzkrise 2008 »ein gefährliches paradigmatisches Vakuum« entstanden, »das Populisten zu füllen versuchen«. Gleichzeitig ließen sich die »scheinbar ad hoc erfolgenden staatlichen Interventionen zur Lösung aktueller Krisen« beobachten: von Corona-Hilfen, über Gaspreisbremse, Klimapakete, Energiepauschalen, Inflation Reduction Act in den USA und dem EU Next Generation Fund. »Ist dieses Comeback des Staates eine Art gesellschaftliche Modeerscheinung ohne systematische wirtschaftliche Grundlage? Oder spiegelt es die Entstehung eines neuen Paradigmas wider, das entscheidend dazu beiträgt, ausgefeiltere Antworten auf die neuen großen Herausforderungen zu finden, die die marktliberale Ära hinterlassen hat«, so lautet die Ausgangsfrage der Studie »Mapping the State of a Shifting Paradigm«. Der von Thomas Fricke, Xhulia Likaj, Maren Buchholtz, Sonja Hennen, Tom Krebs und David Kläffling verfasste Bericht identifiziert »mindestens ein Dutzend wichtiger neuer Denkrichtungen, die jeweils von prominenten internationalen Denkern vertreten werden – von Dani Rodrik über die Neudefinition der Globalisierung und Thomas Piketty über den Abbau von Ungleichheiten bis hin zu Mariana Mazzucatos Arbeit über einen innovativen Staat. Für Deutschland werden solche neuen Denkströmungen von innovativen Forschern wie Moritz Schularick, Jens Südekum oder Isabella Weber vertreten. Diese weitgehend unkoordinierte Arbeit hat das Potenzial, im Nachhinein als intellektueller Kern eines neuen Paradigmas gesehen zu werden«. Auch in den Positionen der führenden internationalen Institutionen zeigten sich Anzeichen eines deutlichen Paradigmenwechsel - für diesen aber fehlten auch noch wichtige Elemente. So müssen »Antworten auf große Herausforderungen gefunden werden, zum Beispiel wie man sozial kritische Vermögensungleichheiten, die sich durch Vererbung zu verfestigen scheinen, abbauen kann… Ein breiterer gesellschaftlicher Paradigmenwechsel erfordert auch einen breiten Konsens jenseits von Parteigrenzen über die Notwendigkeit einer Erneuerung – mit sozialdemokratischen sowie liberalen und konservativen Interpretationen eines solchen neuen gemeinsamen Verständnisses.« Ein »Drama« sei es in diesem Zusammenhang, dass es »Zeit braucht, um die Rollen von Märkten und Staaten neu zu formulieren«, dass aber angesichts großer Herausforderungen wie Klimakrise und Schwächung liberaler Demokratien nicht viel Zeit ist.
Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Rouven Reinke steuert zur Debatte über einen möglichen Paradigmenwechsel einen Beitrag bei, in dem einerseits der »Distinktionsbegriff« Neoliberalismus verteidigt wird, weil durch seine Verwendung »die antagonistische Konfliktstellung in der kapitalistischen Gesellschaftsformation deutlich gemacht werden« könne. »Angesichts eines sich wirtschaftspolitisch teilweise abzeichnenden Post- Neoliberalismus erfordert der Rückgriff auf den Terminus Neoliberalismus zukünftig gleichwohl ein hohes Maß an analytischer Klarheit«. Es zeichneten sich auf der policy-Ebene des Globalen Nordens »in einigen Aspekten (Investitions- und Fiskalpolitik, Geldpolitik, Mindestlohn)« ein »Aufbrechen wirtschaftsliberaler Dogmen« ab. »Zu den wirtschaftspolitischen Veränderungen zählen aber eben keine substanzielleren Maßnahmen mit dezidiert anti-neoliberaler Ausrichtung wie eine Rekommunalisierung öffentlicher Daseinsvorsorge, eine sozial-ökologische Systemtransformation oder eine progressive Steuerpolitik mit Umverteilungseffekten.« Daher sei offen, ob es sich lediglich um »eine Metamorphose des (neoliberalen) Kapitalismus oder aber um eine Veränderung grundlegender Strukturmerkmale der bestehenden Wirtschaftsordnung handelt«. Dies zu beobachten und zu analysieren bleibe weiterhin Aufgabe kritischer Forschung. Um »die mit dem post-neoliberalen Interregnum verbundenen wirtschaftspolitischen Veränderungen inhaltlich greifbar zu machen und gleichzeitig die existierende antagonistische Konfliktstellung des Politischen durch den Terminus Neoliberalismus weiterhin zu adressieren. Dabei gilt es aber, den Begriff eben nur für jene Kontexte zu verwenden, in denen unter Bezug auf seine theoretischen Prämissen weiterhin Formen des real existierenden Neoliberalismus beobachtet werden können«, so Reinke in seinem Beitrag für die aktuelle Ausgabe von »Momentum Quarterly - Zeitschrift für sozialen Fortschritt«.
Von einem etwas anderen Punkt aus beurteilt der Soziologe Andreas Reckwitz das gegenwärtige post-neoliberale Interregnum: »Die Politik hat zwei entgegengesetzte Möglichkeiten, um mit gesellschaftlichen Veränderungen umzugehen: Sie kann versuchen, regulierend in den gesellschaftlichen Prozess einzugreifen und damit selbst stärker Ordnungen zu stiften, weil ihr die gesellschaftliche Dynamik zu stark wird, weil Anomie und Ungleichheit drohen. Das ist die Ausrichtung eines Regulierungsparadigmas. Umgekehrt kann die Politik aber auch die gesellschaftliche Dynamik mobilisieren, das Spiel der Kräfte auf den Märkten, die Interessen und Wünsche der Individuen, die Dynamik der Technik ermutigen, da ihr diese Prozesse zu sehr gehemmt erscheinen. Das ist die Politik eines Dynamisierungsparadigmas«, schreibt er in der jüngsten Ausgabe von »ZeoZwei«. Die Paradigmen würden dabei nicht beliebig entstehen, »sondern antworten jeweils auf historische Krisen«: auf Überregulierungskrisen ein Dynamisierungsparadigma, auf Überdynamisierungskrisen antwortet häufig ein Regulierungsparadigma. An einem solchen Punkt sind wir: Reckwitz nennt es »offensichtlich, dass nach 2010 das Dynamisierungsparadigma« an seine Grenzen stoße, die Folgen entfesselter Märkte, Vernachlässigung öffentlicher Infrastruktur und die Verschärfung der sozialen Ungleichheiten seien überall sichtbar; auch auf soziokultureller und ökologischer Ebene. Auch wenn diese unterschiedlichen Ebenen durch »Linke, Kommunitaristen und Ökologen« jeweils besonders angesprochen würden, sei die Mehrdimensionalität der Überdynamisierungskrise entscheidend - da alle drei Ebenen »strukturell zusammengehören«. Es gehe nun also wieder darum, »das Verhältnis zwischen Ordnungsbildung und Dynamik neu auszutarieren. Ein »regulativer Liberalismus« müsse die »Sicherung der öffentlichen Infrastruktur und die Verringerung der sozialen Ungleichheit, die Sicherung kultureller Grundwerte und kultureller Reziprozität, die ökologische Regulierung von Energie und Verkehrswesen« gleichermaßen angehen und die neue Realität »einer globalisierten Ökonomie, einer postindustriellen Gesellschaft und einer kulturell pluralisierten, multiethnischen Kultur« aufgreifen, um nicht »in Fantasien einer illiberalen Schließung der Gesellschaft« zu enden. Obwohl Reckwitz die Links-rechts-Unterscheidung zuvor als zweitrangig anführt, kommt sie hier doch wieder ins Spiel: »Wie dieses liberale Regulierungsparadigma genau auszugestalten ist – dies ist dann tatsächlich eine Frage, in der die Differenz zwischen links/progressiv und rechts/konservativ sehr wohl eine Rolle spielt. Ein progressiver, einbettender Liberalismus wird stärker auf öffentliche Infrastruktur (Wohnen, Bildung etc.) für alle, auf universalistische kulturelle Werte und auf größere Vehemenz im Umgang mit dem Klimawandel setzen, als es ein ›compassionate conservatism‹ sich erlauben kann.« (tos)