Warum werden die Leute verrückt?
Richtig wild ist die »Sind die Linken selber Schuld«-Debatte bisher nicht geworden. Zu viele alte Hüte? Oder die »eigentliche Frage« nicht gestellt? Vielleicht hat Jan Philipp Reemtsma schon vor über einem Jahr die entscheidende Anregung gegeben: Es geht um soziales Vertrauen.
Nähme man die bisherige »Sind die Linken selber Schuld«-Debatte als Maßstab (siehe hier und hier), was würde man ablesen können? Erstens vielleicht, dass der Aufschlag der »Zeit« anderswo nur geringe Lust zum Eingreifen ausgelöst hat. Von ein paar Texten abgesehen… Aber das hat womöglich mit zweitens zu tun: Für das Zurückweisen alter Hüte à la »Mit dem Genderstern wurde die Arbeiterklasse vergrault und nach rechts getrieben« besteht im Grunde kein Bedarf, sieht man von der medienökonomischen Erwägung ab, dass sich damit eventuell doch noch ein bisschen Aufmerksamkeit erzielen lassen könnte. Insofern solche Wiederaufwärmerei aber nicht in einem luftleeren Raum stattfindet, sondern »rechte Narrative« aufgreift, eventuell verstärkt und also politisch doch Wirkung entfalten könnte, wird an Jens Jessens Text sorgenvoll kritisiert, das eigentlich Nötige zu schwächen oder jedenfalls zu verfehlen: dem »Rechtsruck« beizukommen.
Dirk Knipphals sieht Jessens – nun ja: Argumentation als Teil dessen, »was die Nach-Merkel-Mitte aufbietet«, und bei dem derzeit offen bleibe, »auf welcher Seite sie im Zweifel steht«. Es fehlten, »die redlichen Konservativen, die geschnallt haben, dass die AfD auch sie angreift«. Gerrit Bartels beklagt ein »doch recht diffuses Bild« vom eigentlichen Gegenstand des angeblichen Interesses: Welche Linke ist da überhaupt gemeint? Georg Seeßlen kritisiert »die Linke-sind-Schuld-Theorie« von Jessen als »Totalausfall« in der gegenwärtigen Lage: »Dem Kulturkampf wie den Putschmethoden von rechts könnte wohl nur ein breites Bündnis von linken, liberalen und im ehrbaren Sinne konservativen Kräften standhalten.« Was einst »historischer Kompromiss« genannt wurde, werde von Jessens neuester Variante des »Hufeisen-Modells« torpediert: »Offensichtlich spaltet sich gerade noch der letzte gemeinsame Raum von links und liberal; die liberale Seite wirft der linken absurderweise vor, im entscheidenden Moment nicht links genug zu sein, und die linke Seite wirft, auch nicht ohne Ironie, der liberalen Seite vor, Grundzüge der Liberalität zu verraten.«
Ines Schwerdtner hat den Anlass genutzt, der These von den schuldigen Linken ein bisschen, aber nur retrospektiv zuzustimmen (»versagte sie darin, die materiellen Interessen und Sorgen der vielen zu adressieren«), die eigentliche Verantwortung ins »mittige bis liberal-konservative« Spektrum weiterzureichen und sich selbst oder die eigene Formation als richtig belehrt darzustellen (»zur Aufgabe gemacht, den klassenpolitischen Kern der Linken so herauszustreichen«). Es seien »die ökonomischen Verhältnisse, die den Erfolg der Rechten überhaupt erst ermöglichen«, der Erfolg der Linkspartei bei der jüngsten Wahl beruhe darauf, »weil wir als einzige Partei glaubwürdig für die materiellen Sorgen der Mehrheit eintraten«. Ist das so?
»So einfach ist es nicht«, antwortet Robert Pausch auf Jessen, aber man kann seinen Text auch Schwerdtner als Fragenkatalog vorlegen. Wie zuvor schon von Christian Bangel werden zunächst einmal die sachlichen Schwachstellen Jessens abgehandelt (eine uralte, schlecht belegte These, bei der zudem unklar bleibt, auf wen sie überhaupt gemünzt ist). Zudem stelle er sich die »eigentliche Frage« nicht: »Warum sind die linken Parteien in vielen westlichen Demokratien so fokussiert auf die Arbeiterklasse wie noch nie – und zugleich so bestechend erfolglos darin, sie für sich zu gewinnen?« Das müsse doch nicht nur die Linke interessieren, sondern sich »ebenso der bürgerlichen Mitte« als aktuelle Hausaufgabe stellen. Siehe AfD, Gefährdung der Demokratie und so weiter.
Pausch formuliert dann eine ganze Reihe solcher Fragen: »War es vielleicht doch ein Fehler, sich strategisch derart auf materielle Fragen zu konzentrieren, um den rechten Kulturkämpfern möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten? … Wurde das politische Gift der Inflation unterschätzt? Soziologische Untersuchungen weisen darauf hin, dass höhere Löhne (das Ergebnis von Bidens Wirtschaftspolitik) als individuelle Errungenschaft verbucht werden, während die Inflation (eine in Kauf genommene Folge staatlicher Konjunkturpolitik) der Regierung zugerechnet wird. Ist womöglich der ganze Ansatz des deliverism ein Fehlschluss?« Schließlich sei die radikale Rechte gerade aus dem gegenteiligen Motiv heraus erfolgreich: nicht als Problemlöserin, sondern mit dem Angebot, »Teil einer Bewegung zu sein, die Sinn und Zugehörigkeit verspricht«.
Worin besteht nun dieser Sinn? Das könnte die alles entscheidende Frage sein. Der Ansatz von Schwerdtner (»antifaschistische Wirtschaftspolitik«) erklärt den Erfolg der AfD nicht, denn dass diese gewählt würde, weil sie »die materiellen Sorgen der Mehrheit« vertritt, kann man nicht behaupten. Vollere Teller, um es polemisch zu sagen, werden die Anhängerschaft der radikalen Rechten also nicht zur Umkehr bewegen. Was dann?
Eine Anregung zur Auflösung hat Jan Philipp Reemtsma gegeben, vor über einem Jahr in einem Vortrag, der jetzt veröffentlicht wurde: »Was ist soziales Vertrauen – und wann gerät es in eine Krise? Oder: warum und wann werden eigentlich die Leute verrückt?« Neben personalem und institutionellen Vertrauen beschreibt Reemtsma hier eine dritte Dimension, »eine Stufe höher angesiedelt, es schließt personales und institutionelles Vertrauen mit ein, ist aber nicht einfach eine Kombination dieser Faktoren«. Dieses soziale Vertrauen habe nichts »mit Sich-Wohlfühlen, einem Gefühl gemeinsamer Nähe oder etwas Ähnlichem zu tun«, es sei vielmehr die »uns allen eigene Unterstellung, dass ›es so weitergeht‹«, die dem eigenen Gesellschaftlichsein vorausgesetzte, es erst ermöglichende Annahme »einer gewissen Regelmäßigkeit des sozialen Lebens«, die unseren Routinen eine Grundlage gibt: »Routinen zu folgen, bedeutet, immer ungefähr zu wissen, was man als Nächstes tun soll beziehungsweise tun wird – genauer gesagt: es nicht bewusst zu wissen, sondern es einfach zu tun.« Reemtsma schlägt vor, Gesellschaft als »ein großes Signalsystem« zu verstehen, »in dem dauernd jeder und jede einander versichert: Es geht weiter! Du darfst deinen Routinen folgen! Es wird dauernd, mit jeder Handlung, mit jedem kommunikativen Akt signalisiert, dass Normalität herrscht, das heißt dass man ein ungeheures Maß an Möglichem nicht in Betracht ziehen muss.« Selbst wenn wir vor Gefahren weglaufen, setze das »die nicht bewusste, reflexhafte Unterstellung voraus, dass es hier einen Ort extremer Gefahr, dort aber einen Ort oder Orte wenigstens relativer Sicherheit gibt«.
Könnte es sein, dass »die Leute verrückt« werden, weil ihr soziales Vertrauen im Sinne Reemtsma erodiert? Weil sie nicht mehr darauf setzen können, »dass alles irgendwie so weitergeht wie bisher, dass man so weitermachen kann wie bisher, dass jede und jeder in etwa weiß, was sie oder er als Nächstes tun kann oder muss«? Weil sie nicht einmal darauf vertrauen können, dass sich ein neuer Modus sozialen Vertrauens einstellt – Reemtsma geht davon aus, dass Veränderungen »veränderte Routinen, andere Agierens- und Kommunikationsformen nötig machen«. Aber gilt das auch für den Wandel, den die biophysikalische Existenzkrise dem je eigenen Gesellschaftlichsein auferlegt? Ganz egal, ob man dabei nun zuallererst die potenziellen Folgen der schon nicht mehr umkehrbaren Veränderungen in den Überlebensbedingungen in den Blick nimmt oder die gravierenden Veränderungen, die nötig wären, um diese Überlebensbedingungen noch einigermaßen zu erhalten.
»Sehr selten gelingen solche Veränderungen nicht oder nur durch Katastrophisches hindurch, aber auch dieses ›Hindurch‹ ist eine Kontinuität, ein Es-geht-weiter, in dem genug Menschen überlebt haben, um umzulernen, die dann erneut wussten, was sie als Nächstes machen sollten«, schreibt Reemtsma. Das mag aus der Flughöhe des »Worum geht es, wenn wir über ›Gesellschaft‹ reden?« richtig sein, aus der Perspektive des Einzelnen auf dem Boden der Tatsachen sieht es anders aus. Dann dürften die unter dem zu kurz greifenden Rubrum »Klimakrise« verhandelten Veränderungen »durch Katastrophisches hindurch« kaum als ein »Es geht schon irgendwie weiter« das soziale Vertrauen stabilisieren oder in einen neuen Modus überführen. Die Leute werden eher verrückt.
Georg Seeßlen hat in seiner Replik auf Jessen dieses Verrückt-sein kurz beschrieben, es handelt sich hier ja um keine psychiatrische Kategorie, es geht um erratische oder begründete, unfreiwillige oder gewollte Verschiebungen, Sprünge des eigenen Ichs in einer Umgebung, von der man wenn nicht weiß so doch ahnt, dass sie bereits der Vergangenheit angehört. Die Physik des Planeten ist träge, die der von Menschen verursachten Krise auch. Die Bewohnbarkeitsfragen aufwerfenden Temperaturanstiege von Morgen sind vor Jahren schon verursacht worden – eben zur Herstellung jener Welt, die es nun nur noch als reaktionäre Vorstellung, als merkwürdige Rückprojektion gibt, als etwas allerdings, das unsere Routinen, unser soziales Vertrauen erzeugt hat: Wohlstand durch Wachstum, Steigerungslogiken und so fort. Seeßlen also: »Das Problem besteht darin, dass sich die Verhältnisse, sowohl im globalen wie im mikrosozialen Bereich, in der Welt, im Büro, in der Familie und in der individuellen Psyche, derzeit so gehörig verändern, dass kein Lebensbereich, keine Wahrnehmung, kein Sprechen, keine Beziehung davon unberührt bleibt. Wir erleben eine große Transformation und die verschiedenen Reaktionen darauf: Mitmachen, Verleugnen, Anpassen, Rebellieren, Aussteigen, nach Alternativen suchen, Rette sich, wer kann.«
Apropos Linke. Mathias Greffrath hat der »Sehnsucht nach einer besseren Welt« an einem Nebenfluss der Saône nachgespürt. Man könne eben doch »etwas verändern, wenn man erst einmal anfängt, zumindest im Kleinen«. Die Zeit sei »reif für einen richtig großen Umbau, ein mutiges grünes und rotes Comeback, gar für eine Renaissance des anarchistischen ›Small is beautiful‹ des britischen Ökonomen Ernst F. Schumacher. Eigentlich.« Das ist das Problem mit den Alternativen. Auch sie schreien »die Leute« geradezu an: Es wird Schluss sein müssen mit »Es geht weiter! Du darfst deinen Routinen folgen!« Es wird auf eine Weise anders sein müssen, zu der Du überhaupt erst ein soziales Vertrauen entwickeln wirst müssen!
Aber auf was vertraut man in der Zeit bis dorthin? (tos)