Von Flat-earthern und Sattelzeiten

Verbote und Bevormundung, von der Lebenswirklichkeit der Bürger entfernt? Bei den Attacken gegen die Grünen geht es um mehr als parteipolitischen Geländegewinn. Im Übergang zum ökologischen Paradigma ordnet sich das politische Feld neu: Besserwissen oder Bessermachen?

Johan Schloemann hat die aktuellen Angriffe auf die Grünen - »von ungewöhnlicher Schärfe und Beharrlichkeit« - unlängst danach abgeklopft, was diese für das Parteienfeld bedeuten könnten; unter anderem eine gewisse »Renaissance der Groko«. Dafür werden Beispiele wie Berlin herangezogen, wo sich CDU und SPD fast gleichermaßen darum bemüht haben, »das schlechte Klima-Gewissen der ›normalen‹ Leute in ein Protestpotenzial gegen linke ›Bevormundung‹ umzuwandeln«. Aber geht es hier wirklich nur um parteipolitische Geländegewinne per Kulturkampf?

In einem schönen Text über Paradigmenwechsel, Thomas Kuhn, Michel Foucault und die Frage, was eigentlich mit den alten Diskursen passiert, wenn sie ausgedient haben, antwortet Daniel Strassberg: Die von der Zeit und neuer Erkenntnis überholten Denkweisen, Erklärungsmodelle erweisen sich irgendwann als »nicht mehr entwicklungsfähig; sie dienen nicht mehr dem Wissen, sondern nur noch dem Besserwissen« - und werden irgendwann zum Kern von »alternativ-esoterischen Theorien«, die den »Mainstream um der eigenen Selbstvergewisserung« attackieren: »Zwar interessierte sich nach Kopernikus kaum jemand für die ptolemäischen Planetenbahnen. Doch bei den Flat-earthern haben sie Unterschlupf gefunden.«

Den Gedanken auf die Politik in Zeiten der biophyikalischen Existenzkrise übertragen, kommen einem unmittelbar FDP und Union in den Sinn. In unterschiedlichen Rollen bekämpfen beide ohne überzeugende Argumente aber dafür mit viel Besserwissen den »Mainstream«, dessen politische Hauptvertretung die Grünen innehaben.

Wir wissen alles über planetare Grenzen und wie die herrschende Produktions- und Konsumtionsweise über diese hinauswuchern. Es gibt übergroße Mehrheiten, die ambitionierten Klimaschutz für notwendig halten. Rechtsprechung, Kultur, Alltagsphänomene - alles gruppiert sich, mehr oder weniger, um die zentrale Frage, wie in immer kürzer werdender Frist wirksame Veränderungen durchgesetzt werden können, um Zukunft zu ermöglichen.

Dieser »Mainstream« ist wie stets eine teilweise brüchige, umkämpfte kulturelle Hegemonie, aber gerade darin, dass ihr mit lautstarken, aggressiven Parolen begegnet wird, wird sie ja deutlich - an den klimapolitischen »Flat-earthern« von Union und FDP, an den Anti-Grünen Memes in den asozialen Netzwerken, daran, dass Populismus von welcher Seite auch immer genau darin sein Attackenziel sieht. Mainstream ist, wenn schon das Wort zur Kampfvokabel wird.

Auch wenn man im tagespolitischen Handgemenge stets fossilistische Interessenswahrung oder parteipolitische Motive feststellen kann, geht es bei all den Söder-Tweets und FDP-Blockaden eben auch und vor allem um jene »Selbstvergewisserung«, die Strassberg anspricht: Es wird immerzu vor dem Klimastaat gewarnt, um den offensichtlichen Beitrag der Marktfolgen für die Klimakrise übertönen zu können; es wird immerzu gegen Verbote Front gemacht, damit die Altmeinung von den angeblich ausreichenden Selbstverpflichtungen wenigstens im eigenen Kopf noch aushaltbar ist; es wird immerzu von Technologieoffenheit geredet, um immer weiter in die Zukunft zu verschieben, was schon längst hätte erreicht sein müssen.

Strassberg hat in besagtem Text den von dem Historiker Reinhart Koselleck vor einem halben Jahrhundert geprägten Begriff der »Sattelzeit« aufgegriffen; mit dem der allmähliche Übergang von Früher Neuzeit zur Moderne beschrieben wurde - und der heute für den Übergang zum ökologischen Paradigma stehen kann. In solchen »Sattelzeiten« entscheiden sich die Akteure zwischen Besserwissen und Bessermachen. Das dauert, das dauert sogar sehr lange, wenn man die eigene Lebenszeit zum Maßstab nimmt, und es dauert viel zu lange, wenn man sich den Zeitfaktor der biophysikalischen Existenzkrise vor Augen führt. Der Übergang, von dem wir hierbei reden, vollzieht sich seit den 1970er Jahren. Noch einmal 50 Jahre werden wir von heute aus betrachtet nicht haben.

Und diese Dringlichkeit ist es, dass - apropos Sattelzeit - spätestens jetzt die Entscheidung getroffen werden muss, auf welcher Seite man das Pferd besteigt, ob man klimapolitischer Flat-earther oder Teil des Teams Realpolitik sein will, die, um pragmatisch bleiben zu können, immer utopischer wird sein müssen. Die offenen Konflikte und Anfeindungen innerhalb der Regierungskoalition - ausgehend vor allem von der FDP, aber auch die hörbare Stille beim Thema seitens der SPD sagt etwas aus - sind die Geräusche, die in diesen Entscheidungsphasen entstehen.

Aber ist denn nicht das, was die Grünen klimapolitischen vorhaben, viel zu wenig weitgehend, nur auf ökologische Modernisierung des Kapitalismus beschränkt und also auch falsch? Haben nicht jene Recht, die sich zu Protestaktionen veranlasst sehen, für die sie nicht nur als »Taliban« diffamiert, sondern immer häufiger auch tatsächlich in den Knast kommen?

Bernd Ulrich rückt das ein bisschen gerade: »Die Grünen sind nicht in erster Linie unter Druck, weil sie etwas falsch machen, sondern weil sie etwas richtig machen – wegen dem also, was klimapolitisch allermindestens nötig ist, um den Koalitionsvertrag zu erfüllen, wegen all dem, was geschehen muss, damit Deutschland seinen selbst gesetzten Zielen beim Klimaschutz und beim Erhalt der Arten zumindest nahekommt.«

Das heißt ja nicht, dass man das schon für ausreichend ansehen muss, aber über denselben Weg müssen auch all jene, die sich klimapolitisch noch Weitergehendes vorstellen. Dass »zumindest nahekommen« nicht »erreichen« ist, weiß auch Ulrich: »Tatsächlich kommen nicht mal die Grünen selbst mit dem wichtigsten Faktor aller Klimapolitik klar, die anderen ignorieren ihn ganz, dieser Faktor heißt: Zeit. Kann schon sein, dass man auch ohne Verbote die Emissionen irgendwann in den Siebzigerjahren auf null bringt, nur sind wir dann bei zwei Grad oder mehr.« Mit allen Konsequenzen.

Nun drehen sich aktuelle klimapolitische Aufregungen freilich um Punkte, die man durchaus »Verbot« nennen kann, auch wenn viele Übergangsregeln, materiellen Abfederungen und weitgefasste Fristen im Gespräch sind: das Verbot von Öl- und Gasheizungen und das EU-weite Aus für Verbrenner. »Bislang oblag es jedem Einzelnen zu entscheiden, wie viel er oder sie für mehr Klimaschutz zu zahlen bereit ist. Das ändert sich nun, aus der Wahl wird eine Pflicht, mit den Heizungen geht es los«, schreibt Julia Löhr in einem Kommentar.

Genau. Löhr will die Grünen kritisieren, illustriert dabei aber auch unfreiwillig, wie es klingt, wenn Positionen »nicht mehr entwicklungsfähig« sind: da wird auf jene verwiesen, »die im Berliner Regierungsviertel schon länger einen Elfenbeinturm sehen, der sich von der Lebenswirklichkeit der Bürger zunehmend entfernt«; da wird erklärt, dass »eine Politik, die dem Erreichen der Klimaziele alles andere unterordnet, nur in einem begrenzten Teil der Gesellschaft auf Zustimmung« stoße.

Der »Elfenbeinturm« ist inzwischen ähnliche Kampfvokabel wie der »Mainstream«; in ihm haben sich in Wahrheit aber jene gegen die Wirklichkeit verbarrikadiert, die von »Lebenswirklichkeit der Bürger« nur in Retrospektive sprechen - die der künftigen Bürger wird gerade zuschanden geritten. Deshalb ist eine »Politik, die dem Erreichen der Klimaziele alles andere unterordnet«, zwingend. Was weder gegen demokratische Aushandlung oder gegen soziale Abfederung noch gegen weitergehende klimapolitische Absichten spricht, welche über die Begrenztheiten einer grünen Modernisierung des Kapitalismus hinausgehen wollen.

Nicht zwischen diesen Punkten verlaufen die unüberwindbaren Gräben, der Verlauf der Barrikade ist ein anderer. Max Steinbeis hat diesen in seiner Verteidigung der Protestaktion am Denkmal für das Grundgesetz in Berlin treffend beschrieben. Gegen all die empörten und opportunistischen Kritiken an der Aktion erinnert Steinbeis daran, dass die demokratische Republik und ihre Verfassung »das Produkt einer bestimmten politischen Konstellation in einer bestimmten Zeit« sind: »Ihre Entstehung und Blütezeit fällt ziemlich genau mit der Ära der Industrialisierung zusammen. Den Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit auf produktive Dauer zu stellen, das war ihr Daseinszweck und ihr großer Erfolg. Industrialisierung, das heißt Verbrennen von Kohle, Öl und Gas. Um die Verteilung der unfassbaren Gewinne, die dadurch möglich wurden, ging der Konflikt. Die Gewinne versiegen, die vermeintlich externalisierten Kosten türmen sich unterdessen in schwindelnde Höhen. Nicht nur die Kolonisierung des Raums, auch die Kolonisierung der Zeit hat längst stattgefunden; eine ganze Generation konstatiert, dass ihre Zukunft bereits verfrühstückt ist, bevor sie überhaupt stattfinden konnte.«

Und weiter: »Ein neuer Klassenkonflikt entsteht, eine neue ökologische Klasse, und darüber formiert das ganze politische Feld sich neu. Wer ist links? Wer ist rechts? Wer versucht noch eine Weile, sich im ›juste milieu‹ durchzumogeln? Das ist noch nicht raus.« Es wird gerade ermittelt, in den politischen Debatten, in den öffentlichen Auseinandersetzungen, und ja, auch innerhalb der Parteienlandschaft. Steinbeis scheint es »einigermaßen klar«, dass man nach der »Sattelzeit« die SPD »wohl per saldo als rechte Partei wird betrachten müssen«.

Dagegen wird sich Kritik regen, was schon am Begriff »rechts« liegt, der für die Parteienlandschaft des ökologischen Paradigmas tatsächlich nur noch begrenzt Erklärungspotenzial hat. Jedenfalls dann, wenn man die planetare Frage als die allem anderen vorausgehende, als die für alle andere den Rahmen setzende begreifen will.

Ja, die planetare Frage verläuft auch nicht einfach nur zwischen Parteien, sondern durch sie hindurch. Es gibt Konservative, die in der ökologischen Frage anders ticken als die Lautsprecher aus Union und FDP. Auch ein Teil derer, die sich dann immer noch als links betrachten mögen, werden sich am Ende der Sattelzeit aber eher bei diesen wiederfinden. Und dass die rechtsradikale AfD auf der Seite der klimapolitischen Flat-earther steht, ist so richtig, wie es unvermeidbar bleibt, trotzdem die substanziellen Unterschiede zwischen Akteuren »jenseits der Barrikade« zur Kenntnis zu nehmen. Etwas, was das ökosozialistische, planetar-linke Spektrum für sich ja auch in Anspruch nimmt, wenn es um Unterschiede auf der »grünen Seite« geht. (haka, tos)

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