Welche Utopie? Zur Ordnung des Guten

Wo liegen die Unterschiede, was beschreibt Gemeinsamkeiten transformativer Politiken, Theorien und Analyserahmen? Teil 2 einer Serie, die Überblick verschaffen soll. Diesmal: Sozial-ökologische Utopien. Diesseits oder jenseits von Wachstum und Kapitalismus?

Wir haben hier begonnen Texte vorzustellen, in denen Vorschläge zur Systematisierung unterschiedlicher transformativer Politiken, Theorien und Analyserahmen gemacht werden. Was hier ausschnitthaft zur Erkundung eines großen und vielfältigen Feldes angemerkt wird, erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit und wird künftig fortgesetzt. Entsprechende Hinweise sind willkommen.

Björn Wendt und Benjamin Görgen (Hg.): Sozial-ökologische Utopien

Der 2020 im oekom Verlag erschienene Sammelband sieht sich selbst als »Ausdruck der Rückkehr der Utopie in den öffentlichen Diskurs«, wofür populär gewordene Parolen wie »System Change, not Climate Change« ebenso als Beleg angeführt werden wie Forschungsprojekte und Netzwerkbildungen - oder entsprechende Aufrufe, der Utopie mehr Raum zu verschaffen. Vom »Ende der Utopie« könne »also keine Rede sein«, es würden »mannigfaltige sozial-ökologische Gegenentwürfe« entstehen und teils auch in Laboren des Künftigen praktiziert.

Mit dem Sammelband wolle man »einen Überblick über ein besonders dynamisches Feld des ›Doing Utopia‹ ermöglichen, und damit auch die sozialen Kräfte offenlegen, die den vielfältigen Praktiken des Utopierens innewohnen«. Utopien müssten gar nicht neu entworfen werden, sie sind vielmehr »auf vielfältige Weise bereits seit langem in der Gesellschaft« existent und müssten lediglich »als solche entdeckt und bewusstgemacht werden«.

Der Band schlägt dazu eine Art Ordnungssystem vor. Denn wie eine Aufzählung von »Schlagworten wie Postwachstum, Nachhaltigkeit, Gemeinwohl, Commons und Transition, aber auch Grüner Anarchismus, Öko- und Neosozialismus sowie Ökofeminismus« schon andeutet, ist die »Vielfalt an mehr oder weniger radikalen Perspektiven«, die sich »unter dem Begriff der sozial-ökologischen Utopien subsumieren« lassen groß. Für den »systematischen Überblick« werden eine Reihe von Leitfragen formuliert, die offenbar auch für die Systematisierung richtunggebend waren, etwa, in welchem Verhältnis sozial-ökologischen Utopien »zu den bestehenden Institutionen der Gegenwartsgesellschaft« stehen und ob sie auf »eine Gesellschaft diesseits oder jenseits von Wachstum und Kapitalismus« zielen. »Verschiedene sozial-ökologische Gesellschaftsentwürfe« werden alsdann in vier Blöcke geordnet: Nachhaltigkeit, Postwachstum und Gemeinwohlökonomie, Gemeinschaft, Commons und Transition sowie Ökologischer Sozialismus, Anarchismus und Feminismus.

Unter der Überschrift Nachhaltigkeit werden »verschiedene Gesellschaftsalternativen diskutiert, die eine dauerhafte und gerechte Entwicklung der Weltgesellschaft anvisieren. Nicht nur die Rechte zukünftiger Generationen, sondern auch die Überwindung der aktuellen absoluten Armut und anderer sozialer Ungleichheiten werden in diesem Kontext mit der ökologischen Frage in Verbindung gebracht«.

In diesem Block stellt unter anderem Ernst Ulrich von Weizsäcker sein Konzept des »Naturkapitalismus« vor; Bernd Sommer und Harald Welzer diskutieren die Bedeutung von Zukunftsbildern für eine sozial-ökologische Transformation unter anderem unter Rückgriff auf Erik Olin Wright. Schon hier zeigt sich eine gewisse Begrenztheit der Systematisierung - oder ein grundlegender Charakter sozial-ökologischer Utopien: Gravierende Unterschiede wie etwa, ob man sich Gesellschaften, die Gleichheit, Freiheit und Kooperation innerhalb planetarer Grenzen realisieren könnten, eher diesseits oder eher jenseits des Kapitalismus vorstellen kann, oder die Wachstumsfrage, durchziehen die Ordnung von Gesellschaftsentwürfen kreuz und quer, sie verlaufen nicht entlang von Grenzen, wie sie Wendt und Görgen vorschlagen.

Im Prinzip findet sich die im Untertitel vorgeschlagene Unterscheidung »Diesseits oder jenseits von Wachstum und Kapitalismus?« innerhalb jeder der vier Unterordnungen, genauso wie sich charakteristische Aspekte innerhalb dieser auch bei anderen Unterordnungen finden lassen.

Zum Beispiel wird in Rolf Cantzens Text über ökologische Utopien im Anarchismus nicht nur auf Wachstumskritik hingewiesen, sondern auch der Stellenwert kleiner Gemeinschaften betont; dieser bildet auch eine Klammer in der Unterordnung »Gemeinschaft, Commons und Transition«. Wo Sommer und Welzer auf Wright und dessen Verständnis von Realutopien auf dem Weg zu einem nicht-autoritären, nicht-etatistischen Sozialismus aufbauen, diskutiert Michael Brie in der Kategorie »Ökologischer Sozialismus, Anarchismus und Feminismus« Wright unter dem Strich eher kritisch, um das Konzept der »doppelten Transformation« von Dieter Klein dagegen zu setzen. Und auch Klaus Dörre, der seinen Vorschlag eines »Neosozialismus« in dem Sammelband noch einmal erläutert, kommt an Wachstumskritik nicht vorbei, ohne dafür aber in die Unterordnung »Postwachstum und Gemeinwohlökonomie« zu rutschen.

Das soll hier keineswegs als Generalkritik an der Kapitelordnung eines Buches verstanden werden; der Sammelband hilft aufgrund der vielfältigen, in unterschiedlicher Qualität dargebotenen Ansätze sogar dabei, sich über die Herausforderung der Systematisierung klarzuwerden.

Natürlich wird nur mit Modellen der Ordnung unterschiedlicher Strategien, Analysekonzepte und gesellschaftlicher Alternativpraxen allein noch nichts anders. Aber die unterschiedlichen Weg zum notwendigen Anderen, die Punkte, an denen ihre Richtungen noch gemeinsam verlaufen, die Kreuzungen und Abzweige besser zu verstehen, das ist dann nicht nur für die Systematisierung von Ideen hilfreich, sondern auch für das Weiterdenken und die gestaltende Politik. Dies gilt auch auf der Akteursebene, wo derzeit eine Art babylonische Vielfalt des Guten herrscht, dessen einzelne Abteilung sich gegenseitig zur Kenntnis nehmen, aber nur langsam zu einer Form »höherer Gemeinsamkeit« finden.

Wenn Bruno Latour und Nikolaj Schultz feststellen, dass ökologische Anliegen zwar allgegenwärtig sind, diese aber »jedenfalls noch nicht« zu »einer allgemeinen Mobilisierung geführt« hätten, »wie es in früheren Zeiten durch die vom Liberalismus und vom Sozialismus in Gang gebrachten Veränderungen der Fall war«, dann liegt hier ein möglicher Grund. So freilich, wie sich in den sozialen Auseinandersetzungen, die von planetaren Fragen immer stärker bestimmt werden, neue Bündnisse bilden und praktische Lernprozess dabei bisher verschüttete Gemeinsamkeiten offenlegen, schreitet auch die Debatte innerhalb der Vielfalt des Guten voran. Dabei kommen relativ alte Traditionen, deren Ursprünge weit vor dem ökologischen Paradigma liegen, und relativ neue Konzepte zusammen, deren Motive schon umfänglich von diesem Rahmen geprägt sind. Die entscheidenden Scheidelinien - rund um die Wachstumsfrage, rund um die Staatsfrage, rund um die Kapitalismusfrage - verlaufen dabei nicht mehr vorderhand zwischen diesen Abteilungen, sondern auch durch diese hindurch.

Von Frank Adloffs und Sighard Neckels Unterscheidung in Modernisierung, Transformation und Kontrolle als Varianten des »weitgehend unbestrittenen Entwicklungsmodells« Nachhaltigkeit ausgehend, fächert der Sammelband von Wendt und Görgen vor allem die Abteilung »Transformation« noch weiter auf, also jene Praktiken und Vorstellungen, denen das Modernisierungskonzept von Nachhaltigkeit als ungenügend erscheint, das innerhalb der bestehenden Verhältnisse bleibt. Und selbst Weizsäckers »Naturkapitalismus« geht im Grunde davon aus, dass »die natürlichen und sozialen Grundlagen des planetarischen Zusammenlebens nicht durch Prozesse einer weitergehenden Ökonomisierung von Nachhaltigkeit zu schützen« seien, eine Formulierung, die Adloff und Neckel zur Abgrenzung von Strategien der »Transformation« von solchen der »Modernisierung« nutzen.

Neben dem Nachhaltigkeitskonzept, so noch einmal zurück zu den vier Unterordnungen bei Wendt und Görgen, lasse sich »rund um die Begriffe Postwachstum und Gemeinwohl insbesondere seit der Wirtschafts- und Finanzkrise sowie der Reaktorkatastrophe von Fukushima eine Renaissance wachstumskritischer Bewegungen und Positionen beobachten«. Hier würden vor allem »das Wachstumsparadigma sowie die Lebensentwürfe und Praktiken der imperialen Lebensweise grundlegend infrage gestellt werden«.

»Mit den Begriffen Gemeinschaft, Commons und Transition« sei ein weiterer Bereich der Utopieproduktion verbunden. In diesem strebe eine »Gemeinschaftsbewegung alternative Lebensformen« an, »die auf ein ökologischeres und sozialeres Zusammenleben zielen« und das schon seit langem. Aktuell werde »diesen Reallaboren der sozial-ökologischen Transformation innerhalb der Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik immer mehr Beachtung beigemessen«. Die Abteilung »Ökologischer Sozialismus, Anarchismus und Feminismus« umfasst Beispiele aus den »klassischen sozialen Bewegungen, die die soziale Frage als Ansatzpunkt für weitreichende gesellschaftliche Veränderungsstrategien wählen« und »ihre Utopien unter ökologischen Vorzeichen« reformulieren.

Der Vorzug des Buches liegt in der Vorstellung eines recht weiten Fächers von Ansätzen. Der ebenfalls formulierte Anspruch, »die sozialen Kräfte« offenzulegen, »die den vielfältigen Praktiken des Utopierens innewohnen«, ist gegenüber dem »Schaufenster-Aspekt« dabei in den Hintergrund getreten. (tos)

Benjamin Görgen, Björn Wendt (Hrsg.): Sozial-ökologische Utopien. Diesseits oder jenseits von Wachstum und Kapitalismus? München 2020.

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