Umbau ohne Umbauerinnen?

Beschleunigte Energie- und Mobilitätswende, Klimaanpassung sowie der Ausbau ökosozialer Infrastruktur benötigen viel Arbeitskraft. Wie sieht es vor dem Hintergrund demografischer Trends mit der Verfügbarkeit freier Kräfte zur sozialen Gestaltung und zum ökologischen Umbau aus?

»Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?«
Bertolt Brecht

In linken Forderungskatalogen nehmen der Ausbau öffentlicher Daseinsvorsorge, die deutliche Verbesserung der Personalsituation in den Sektoren Bildung und Gesundheit, die Verbesserung der Wohnraumversorgung und nicht zuletzt eine beschleunigte Energie- und Mobilitätswende mit entsprechenden Investitionen wichtigen Raum ein.

Angepeilt wird in der Regel auch, bestehende regionale Ungleichheiten der sozial wirksamen Infrastruktur zu verringern, worin auch eine demokratiepolitische Aufgabe gesehen wird, da Tendenzen des Autoritarismus und der Abwendung von Systemen der Mitbestimmung zumindest teilweise auf solche Ungleichheiten zurückgeführt werden.

Es findet hier eine eigene gesellschaftspolitische Entwicklungsidee konkreteren Ausdruck: die Ausweitung des Öffentlichen, der gesellschaftlichen Gebrauchswert-Orientierung und demokratisch Steuerung der Rahmensetzungen eines »besseren Lebens« sowie eine klimapolitisch zwingende Kehrtwende, die enorme gesellschaftliche Investitionen in soziale Klimaanpassung und »Transformation« erfordert.

Solche Politiken des Öffentlichen, des »Infrastruktursozialismus«, der verwirklichten Gleichheit sind dabei zugleich Voraussetzung wie Motoren von Gesellschaftsverbesserung. Kurzum: Sie stellen einen wesentlichen Kern linker politischer Anliegen dar.

Die beispielhaft genannten Zielsetzungen weisen in eine gemeinsame Richtung: es geht ihnen um Ausbau, Erweiterung, Zuwachs, Vergrößerung. Trotz aller Fortschritte in den Bereichen Digitalisierung und Robotik bedeutet das auch: einen enormen Bedarf an Arbeitskräften. Bedenkt man darüber hinaus andere gesellschaftspolitische Veränderungsziele der Linken, etwa in Sachen Verkürzung der Arbeitszeit, wird dieser Bedarf noch größer zu veranschlagen und nicht allein auf dem Weg der Transformation – etwa: Jobs in klimaschädlichen Industrie werden durch andere ersetzt – selbst zu decken sein. Hier spielt auch der Zeitfaktor von Veränderung eine Rolle.

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt und die Entwicklung demografischer Kennziffern weist grosso modo in die entgegengesetzte Richtung: Die Bevölkerung hierzulande schrumpft und altert, was die Verfügbarkeit freier Kräfte zur sozialen Gestaltung und zum ökologischen Umbau immer weiter einschränkt. Mehr noch: Derzeit wird ein Punkt überschritten, an dem der Erhalt des Status quo arbeitskräftepolitisch nicht mehr möglich ist. Das ist schon lange keine Frage eines »Fachkräftemangels«, sondern eine des Arbeitskräftebedarfs generell.

Zum Beispiel der öffentliche Sektor. Der DBB geht von aktuell 360. 000 fehlenden Beschäftigten im Öffentlichen Dienst aus. »Dabei berücksichtigen wir nicht nur offene Stellen, sondern auch den Personalbedarf, der sich durch neue Aufgaben ergibt.« (DBB-Chef Ulrich Silberbach) »Im öffentlichen Sektor in der Bundesrepublik arbeiten mehr als fünf Millionen Menschen. Es braucht allerdings deutlich mehr, um die Aufgaben des Gemeinwohls und der Daseinsvorsorge in Zukunft weiterhin zu erfüllen«, schreibt der Beratungskonzern PWC. »Der Mangel an Fachkräften in der Verwaltung und bei kommunalen Unternehmen wächst von Jahr zu Jahr. Wird die Lücke ungebremst größer, fehlen dem öffentlichen Sektor bis 2030 mindestens eine Million Fachkräfte.«

Linke Gestaltungsziele, etwa auf Landesebene, stoßen dadurch schon jetzt an  Grenzen, von der oben umrissenen weitergehenden gesellschaftspolitischen Entwicklungsidee ganz zu schwiegen. Bundesländer konkurrieren um Lehrkräfte, um Pflegepersonal, um Beschäftigte für den Ausbau Erneuerbarer und so weiter.

Das Thema Demografie ist in der Vergangenheit von links vorrangig unter Beachtung der sozialpolitischen Dimension diskutiert worden: »Die Bundesregierung und die meisten Parteien benutzen die demografische Entwicklung vor allem als Scheinargument für Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme, für die Privatisierung der Daseinsvorsorge und die Erhöhung des Renteneintrittsalters«, so etwa die Linksfraktion im Bundestag - die in ihren alternativen Forderungen dann sogleich wieder neue Ziele nennt, die einen umfangreichen Bedarf an Arbeitskräften mit sich bringen würden. »Der demographische Wandel ist keine unabwendbare Katastrophe, sondern ein politisch gestaltbarer Prozess. Die Gestaltungsspielräume hängen ganz entscheidend vom Produktivitätswachstum und der volkswirtschaftlichen Verteilung der Produktivitätsgewinne ab«, heißt es bei der Bundespartei; auch hier steht die verteilungspolitische Dimension sozialstaatlicher Absicherung im Vordergrund.

Was den Arbeitsmarkt angeht, wird zu Recht auf die rund 2,4 Millionen Menschen verwiesen, die offiziell erwerbslos gemeldet sind, viele davon über einen längeren Zeitraum. Hinzu kommen rund 800.000 Menschen, die nicht in der Statistik auftauchen. Die Unterbeschäftigung lag im Oktober 2022 bei 3.254.000 Personen. Zugleich waren 846.000 Arbeitsstellen bei der Bundesagentur als offen gemeldet.

Nach Zahlen der Unternehmensberatung BCG »kostet« Arbeitskräftemangel die Volkswirtschaft der Bundesrepublik jährlich 86 Milliarden Euro (verlorene BIP-Leistung); Grundlage waren die Zahlen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das für das zweite Quartal 2022 rund 1,9 Millionen offene Stellen gemeldet hatte - 1,47 Millionen sofort oder zum nächstmöglichen Termin zu besetzen und 458.000 später. In Ostdeutschland waren 292.000 Stellen sofort zu besetzen. Für den Osten der Republik meldete das Institut der deutschen Wirtschaft unlängst eine Fachkräftelücke von 104.000 (Stellen, für die kein passend qualifiziertes Personal gefunden wird).

Zweifellos können die Anstrengungen zur Weiterbildung, Wege in den ersten Arbeitsmarkt, öffentliche Beschäftigungssektoren usw. noch deutlich verbessert werden. Experten wie Marcel Fratzscher empfehlen zudem »eine strukturelle Stärkung der Erwerbstätigkeit von Frauen. Es ist an Politik, Unternehmen und Gesellschaft, die unzähligen Hürden für Frauen auf dem Arbeitsmarkt aus dem Weg zu räumen.« Wofür es, Stichwort Ausbau der und Personal für die Kinderbetreuung, wiederum Arbeitskräfte benötigt.

Mehr als vier von zehn Ausbildungsbetrieben konnten im vergangenen Jahr nicht alle angebotenen Ausbildungsplätze besetzen, meldet das DIHK unter Berufung auf eine Umfrage unter 15.000 Unternehmen.

Seit 2016 sinken demografiebedingt die Schulabgängerzahlen, außerdem entscheiden sich mehr Jugendliche für den Weg über eine Hochschulzugangsberechtigung. Dies führt dazu, dass seit 2016 die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen in 169 Berufen gesunken ist, während sie in dem Zeitraum nur in 77 Berufen stieg. (IW Köln) Wie ändert man, um ein etwas ausgefallenes Beispiel heranzuziehen, dass es für den Beruf der Tierpfleger etwa neun Mal so viele Bewerberinnen wie Plätze gibt, bei einem ähnlich dotierten Beruf in der Herstellung von Mauersteinen dagegen die Arbeitsagentur 8,48 Stellen je Bewerberin registriert?

Der DGB wendet zu Recht ein: Rund 230.000 junge Menschen seien 2021 in Maßnahmen des Übergangsbereichs hängen geblieben; 2,3 Millionen junge Menschen im Alter zwischen 20 und 34 Jahren haben keinen Berufsabschluss haben: »Die Potenziale zur Besetzung von Ausbildungsstellen und zur Bekämpfung des Fachkräftemangels sind da. Sie müssen von den Betrieben aber auch genutzt werden.«

Und doch wird man bei realistischer Betrachtung womöglich zu dem Ergebnis kommen, dass der tatsächliche Arbeitskräftebedarf, zumal unter Berücksichtigung linker Entwicklungsziele, die Ergebnisse der möglichen Verbesserungen übersteigt. Wenn dem so wäre, müsste es eine linke Idee zur Deckung des für ihre gesellschaftspolitischen Zielsetzungen erforderlichen Arbeitskräftebedarfs geben.

Zwischen demografischer Entwicklung, Arbeitskräftemangel und linker Politik bestehen zahlreiche, teils sehr widersprüchliche Verbindungen. Wird auf der einen Seite durch eine geringere Menge an verfügbarer Arbeitskraft die Verhandlungsposition der Beschäftigten verbessert und müssen regionale Ökonomien - etwa in Ostdeutschland - ihren Entwicklungscharakter in Richtung höhere Produktivität verändern, geraten auf der anderen Seite Angebote des Öffentlichen, der Daseinsvorsorge usw. unter neuen Druck.

Was in den Dekaden vor allem ab 1990 teilweise auf die Kommodifizierung und Privatisierung zurückzuführen war - Personalmangel, dadurch verschlechterte Arbeitsbedingungen, entsprechende gesundheitliche Folgen und durch diese hervorgerufene gesellschaftliche Kostenbelastungen, zunehmende Probleme der Qualität, wird seit geraumer Zeit teilweise durch den (auch) auf demografische Entwicklungen zurückgehenden Arbeitskräftemangel ausgelöst.

Die bestehenden Probleme lassen sich nicht durch Hinweise auf Fehler der Vergangenheit (Planung der Ressourcen für Ausbildung usw.) oder zu geringe Löhne beheben. Mit kapitalistischen Strukturbedingungen, die von Linken darüber hinaus erklärend ins Feld geführt werden, wird man absehbar noch zu tun haben; also hilft auch der »antikapitalistische Übersprung« nicht viel. Selbstverständlich sind Diskussionen wie die über »Bullshit-Jobs« (David Graeber) und damit zusammenhängende Substituierungspotenziale sinnvoll, die Idee allein kürzt aber den Weg der Veränderung nicht ab.

Abgesehen davon: Auch in demokratisch-sozialistischen Verhältnissen würde sich die Arbeitskraftfrage nicht einfach in Luft auflösen, da es eine Menge Arbeit machen wird, das zu beheben, zu heilen, zu ersetzen, was »der Kapitalismus« hinterlassen wird, dürfte das auch ein Problem erhoffter anderer Gesellschaften bleiben.

Da aber für die Bewältigung der dringendsten Herausforderungen (Klimakrise und Umbau, Abbau von Ungleichheit, Aufbau von Resilienz) ein eher enger Zeitrahmen verfügbar ist; bedarf der Zusammenhang von Demografie, Arbeitskräftebedarf und linker Politik ohnehin schneller wirksamer Lösungen. Das ist nicht zuletzt eine Frage der Glaubwürdigkeit, linke Politik hat oft die am weitesten gehenden Veränderungsvorstellungen, sie steht in der Pflicht, diese logisch und machbar zu untersetzen. Eine Frage der Glaubwürdigkeit ist es auch, dass links mitregierte Bundesländer nicht darauf setzen sollten, in der Konkurrenz um die weniger werdenden Arbeitskräfte gegenüber anderen Bundesländern erfolgreich zu sein.

Auch wenn es wünschenswert wäre, bestehende Arbeitskraftbedarfe gleichsam »aus der großen Transformation« selbst zu gewinnen, also die Kohlearbeiterin sofort als Windkraftarbeiterin, Lehrerin oder Gesundheitsfachfrau einzusetzen; selbst wenn es immer noch viele Erwerbslose oder Probleme im Ausbildungssektor gibt, die zu beheben das Arbeitskraftangebot vergrößert; müssten nach Ansicht von Expertinnen und Experten jährlich etwa 400.000 Menschen ins Land kommen, um hier zu arbeiten - damit der bereits bestehende Mangel nicht noch größer wird.

Die Bundesrepublik wird nach gegenwärtiger Prognoselage »durch den demografischen Wandel jährlich zwischen 360.000 und 380.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter, bis zum Ende des Jahrzehnts sogar 400.000 bis 500.000« verlieren. Ohne Zuwanderungsbewegungen würde bis zum Jahr 2060 das Erwerbspersonenpotenzial um knapp 40 Prozent zurückgehen; selbst »wenn wir alles tun, um inländische Potenziale zu heben, hätten wir dann immer noch einen Rückgang um 35 Prozent«, so etwa das IAB. Laut BCG-Zahlen würde bei einer angenommenen Zuwanderung von 300.000 bis 400.000 Menschen pro Jahr trotzdem 2035 die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter um drei Millionen Menschen zurückgehen, bis 2050 um neun Millionen. (tos)

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