Plausibilitäten, Wahrscheinlichkeiten, Kippdynamiken

»Keine Ausreden mehr«, twittert António Guterres. »2023 muss ein Jahr des Umbruchs werden.« Wie wahrscheinlich ist es, dass der Appell des UN-Generalsekretärs Früchte trägt? Drei neue Studien zeigen, was plausibel und was wahrscheinlich ist.


Laut dem neuen Hamburg Climate Futures Outlook ist es nach gegenwärtigem Stand nicht plausibel, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2°C und wenn möglich auf 1,5°C - bezogen auf das vorindustrielle Niveau - zu begrenzen. Zu diesem Ergebnis kommt das Forschungscluster »Climate, Climatic Change, and Society« mit einem Modell, das soziale und physikalische Dynamiken komplex kombiniert und daraus abgeleitet die Plausibilität möglicher Szenarien - so genannter Klimazukünfte - ermittelt. Verglichen mit der vorigen Ausgabe des »Outlook« zeigt sich eine kleine Veränderung bei den »sozialen Treibern«: Mit Blick auf Klimaproteste und soziale Bewegungen kommen die Forscherinnen und Forscher nun zu dem Ergebnis, deren Dynamik unterstütze inzwischen die Dekarbonisierung - allerdings, wie bei allen anderen zehn sozialen Treibern (UN-Klimagovernance, transnationale Initiativen, klimabezogene Regulierung, Gerichtsverfahren zum Klimawandel, Desinvestition fossiler Brennstoffe sowie die Wissensproduktion), nicht tiefgreifend genug. Die Medien sieht das Modell als ambivalent; diese würden Dekarbonisierung sowohl unterstützen als auch untergraben.

Der entscheidende Punkt des »Outlook« findet sich auf Seite 36: »Die Dynamik von zwei wichtigen gesellschaftlichen Triebkräften der Dekarbonisierung (das heißt die Reaktionen der Unternehmen und die Verbrauchsmuster) unterminiert weiterhin die globalen Bemühungen um eine tiefgreifende Dekarbonisierung. Ungeachtet der jüngsten Trends zur Annahme von Netto-Null-Zusagen und wissenschaftlich fundierten Zielen reagiert die Mehrheit der Unternehmen noch immer nicht umfassend auf die aktuellen Herausforderungen und erwarteten Auswirkungen des Klimawandels. Die globalen Verbrauchsmuster sind nach wie vor sehr kohlenstoffintensiv, und die während der Pandemie beobachteten schrittweisen Veränderungen erwiesen sich als vorübergehend. Die zunehmende Steigerung der Energieeffizienz, die Entkopplung der Emissionen vom Wirtschaftswachstum in den Industrieländern und die beginnenden Veränderungen in Richtung eines kohlenstoffarmen Verbrauchs auf der ganzen Welt haben nicht ausgereicht, um die Dynamik dieser gesellschaftlichen Triebkraft in Richtung Dekarbonisierung zu unterstützen. Diese Prozesse werden wahrscheinlich weiterhin durch das anhaltende Wachstum der Nachfrage und der Produktion von (neuen) kohlenstoffintensiven Waren und Dienstleistungen zunichte gemacht. Das hohe Konsumniveau und die damit verbundenen Umweltauswirkungen werden insbesondere von wohlhabenden Verbrauchern getragen, die nur einen sehr kleinen Teil der Weltbevölkerung ausmachen. Strukturelle Herausforderungen - wie anhaltende extreme soziale Ungleichheiten, kohlenstoffintensive Konsummuster und das Festhalten an fossilen Brennstoffen - führen dazu, dass die Dynamik dieser und auch anderer sozialer Triebkräfte der Dekarbonisierung entgegensteht.«

Der Zusammenhang von Ungleichheit, Fossilismus, Wachstum ist nicht eben neu, das lässt auch Guterres’ Wunsch nach einem »Jahr des Umbruchs« etwas fahl erscheinen. Zumal diese beiden »Treiber« die für ein »game-changing« zentralen sein dürfen: Produktions- und Konsumtionsweise.

Das Erreichen des 1.5-Grad-Ziels ist auch laut Forscherinnen und Forschern der Stanford University und der Colorado State University unwahrscheinlich. Für diese Aussage wurde ein KI-Modell trainiert, um Zusammenhänge in riesigen Datenmengen zu erkennen - aus einer großen Zahl globaler Klimamodell-Simulationen heraus wurden so Zeiträume für bestimmte Temperaturschwellenwerte bestimmt. Eine Erwärmung von 1,5 Grad gegenüber dem industriellen Niveau ist damit global schon im nächsten Jahrzehnt wahrscheinlich; für die Überschreitung der 2-Grad-Marke zwischen 2044 und 2065 besteht eine 70-prozentige Wahrscheinlichkeit, selbst wenn die Emissionen rasch zurückgehen.

Damit wird auch das Erreichen von Kippelementen wahrscheinlicher, also jener Komponenten des Erdsystems, die beim Überschreiten von Schwellenwerten abrupt und irreversibel in einen anderen Zustand wechseln und damit auch die Dynamik der Klimakrise befeuern können. Mehr noch: Wie eine Studie, an der das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung beteiligt war, nun zeigt, sind Klimaextreme global stärker miteinander verbunden als bisher gedacht. Die Forschungsergebnisse zeigten, so Hans Joachim Schellnhuber, »dass Kippkaskaden ein ernst zu nehmendes Risiko sind: miteinander verbundene Kippelemente im Erdsystem können sich gegenseitig auslösen, mit potenziell schwerwiegenden Folgen«.

Untersucht wurde in der Studie, wie stark Veränderungen der oberflächennahen Lufttemperatur in einem globalen Raster von mehr als 65.000 Unterregionen in den vergangenen 40 Jahren miteinander verbunden sind - wie also Veränderungen an einem Knotenpunkt Veränderungen an einem anderen Knotenpunkt beeinflussen. Dabei wurde ein ausgeprägter Ausbreitungspfad über mehr als 20.000 Kilometer erkannt, der mit den wichtigsten atmosphärischen und ozeanischen Zirkulationsmuster erklärt werden kann. In einem zweiten Schritt wurde untersucht, wie solche »Fernverbindungen« bis zum Jahr 2100 wirken. Dabei zeigte sich, dass verschiedene Klimaextreme zwischen dem Amazonas-Regenwald und dem tibetischen Plateau im Himalaya-Gebirge »klimatisch synchronisiert werden und dadurch die Gefahr einer kaskadierenden Kippdynamik besteht«.

Noch einmal Schellnhuber: »Um es klar zu sagen: Es ist unwahrscheinlich, dass das Klimasystem als Ganzes kippt. Aber subkontinentale Kippereignisse können im Laufe der Zeit ganze Gesellschaften schwer treffen und wichtige Teile der Biosphäre bedrohen. Dies ist ein Risiko, das wir lieber vermeiden sollten. Und das können wir tun, indem wir die Treibhausgasemissionen rasch reduzieren und naturbasierte Lösungen zur Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre entwickeln.« Wie weit werden wir damit 2023 kommen? (tos)

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