Planetare Grammatik

Was hilft gegen den anschwellenden Ruf nach Sozialkürzungen? Über »antifaschistische Wirtschaftspolitik«, Misplanetie, einen um die Erde erweiterten Begriff von Existenzsicherung und die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels nach dem Ende der Petromoderne.

»Ab 2027 wird es sehr eng im Haushalt«, rechnet das Dezernat Zukunft vor und unterlegt so mit Zahlen, was der allgemeinen Befürchtung entspricht. »Verschärfte Debatten um Sozialkürzungen kommen in Deutschland offenbar im Zyklus von 20 Jahren um die Ecke«, schreibt Gunnar Hinck und ruft »die gesellschaftliche Linke inklusive des linken Flügels der SPD« auf, der anschwellenden »neoliberalen Diskursdynamik« nicht nur mit routinierter Empörung, sondern »mit eigenen Ideen zu kommen«. 

Die angesprochenen Formationen werden auf ihre entsprechenden Pläne und Programme verweisen – und sich auch auf Einschätzungen, laut denen die wachsende Zustimmung zur AfD auf soziale Bedrückung und ökonomische Schlechterstellung zurückzuführen sei. »Was dagegen hilft? Richtig: Mehr statt weniger Sozialsicherung, Rente und Feiertage«, fasst es einer der Protagonisten zusammen, die zur Abhilfe eine »antifaschistische Wirtschaftspolitik« einfordern. Damit, erinnert das Magazin »Surplus« dieser Tage noch einmal an eine schon ältere Verlautbarung von Isabella Weber, lasse sich »dem Rechtsruck die Basis« entziehen. 

Hinweise für einen Zusammenhang zwischen sozialen bzw. ökonomischen Aspekten und der Zustimmung zu rechtsradikalen Parteien bzw. Positionen gehen beinahe wöchentlich ein. Zwei jüngere Beispiele: Andreas Hövermann hat unlängst auf Basis der WSI-Erwerbspersonenbefragung ermittelt, welche Rolle »Benachteiligungsgefühle und Abstiegsängste, die mit Verunsicherungen verbunden sind«, beim Vordringen der AfD »in neue Schichten außerhalb ihrer rechtsradikalen Kernwählerschaft« spielen. 

Mark Kayser und Alan Jacobs haben sich Daten von fast 90.000 Befragten aus elf westeuropäischen Ländern vorgenommen und untersucht, welche Rolle sozialer Abstieg bei der Zustimmung zu rechtsradikalen Formationen spielt. »Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Menschen, die beruflich schlechter dastehen als ihre Eltern, signifikant häufiger rechtspopulistische Parteien wählen«, heißt es hier, wo auch einer der Autoren zitiert wird: »Unsere Studie zeigt deutlich, dass es vor allem der Verlust an sozialem Status ist – und nicht allein wirtschaftliche Not oder kulturelle Ressentiments«, aus denen sich ein möglicher Zusammenhang mit der Unterstützung rechter Parteien ergibt. Mehr zu Ergebnissen und Methodik der Studie »Downward Mobility and Far-Right Party Support: Broad Evidence« gibt es hier

»Dass die ökonomischen Krisenerfahrungen der Subjekte nicht vom gesellschaftlichen Kontext gelöst werden können«, darauf ist in der Debatte über die Grenzen »antifaschistischer Wirtschaftspolitik« mehr als einmal hingewiesen worden. Links zu Beiträgen der Diskussion und weitere Anmerkungen dazu finden sich hier. »Der Faschismus sitzt nicht nur fester im Sattel als die Interpretation als fehlgeleiteter sozialer Protest impliziert - er ist auch gefährlicher. Dennoch lohnt es sich zu kämpfen und einen Fokus auf wirtschaftliche Themen und die arbeitenden Klassen zu legen«, so Fred Heussner. 

»Sicherlich entsprechen die Missstände und Krisen in Deutschland heute nicht der Katastrophe von damals. Und dennoch zeigt sich gegenwärtig eine politisch-ökonomische Konstellation, in der die Zusammenführung der Klassengesellschaft und die Erhaltung des Wohlfahrtsstaats ohne eine Vermögensteuer kaum realisierbar erscheinen«, hat dieser Tage der Soziologe Robert Dorschel in der FAZ einen der möglichen politischen Hebel beworben, mit dem das oben genannte Problem (»sehr eng im Haushalt«) abgemildert werden könnte. 

Houssam Hamade hat die Frage »guter Sozialpolitik« in einen größeren Kontext gestellt – den der Sicherheitspolitik. Diese dürfe nicht auf Fragen der »inneren« oder »äußeren« Sicherheit beschränkt werden, auch »gesellschaftliche Destabilisierung« müsse verhindert werden. Wodurch? 

Auch Hamade kommt auf die »antifaschistische Wirtschaftspolitik« zu sprechen, warnt aber vor blinden Flecken: »Die Idee einer ›antifaschistischen Wirtschaftspolitik‹ unterschätzt unter anderem die eigenständige Bedeutung von Ideologien und Weltbildern. Wählerinnen und Wähler rechtsextremer Parteien reagieren keineswegs nur mechanisch auf ökonomische Außenreize oder votieren aus bloßem Protest.« Das aber spreche nicht gegen Maßnahmen der Umverteilung und sozialen Stabilisierung, letztere solle aber weiter gedacht werden: allein vollere Teller reichen nicht.

Auch Sebastian Thieme greift den von Weber geprägten Begriff auf: »Der Geist antifaschistischer Wirtschaftspolitik«. Die Schlagzeile lässt sich doppelt lesen – als Hinweis auf das »Gespenst«, das Thieme wie im »Manifest« umgehen sieht. Oder als Tiefenmaßstab: Aufgerufen werden Begriffe wie Ethik, »Ökonomische Misanthropie«, Existenzsicherung, Grundbedürfnisse, die dazu einladen, die eher selten ausgesprochenen planetaren Pointen der Debatte ins Auge zu fassen. Dies geschieht hier nicht in der Absicht, gegen »antifaschistische Wirtschaftspolitik« zu polemisieren, sondern ein paar korrespondierende Fragen aufzuwerfen. 

Wenn zum Beispiel ganz zu Recht von der »Berücksichtigung existenzieller Bedürfnisse« die Rede ist, wird man von ihrer Vereinbarkeit mit den planetaren Grenzen nicht schweigen wollen. Wo eine »ökonomische Misanthropie« mit Recht kritisiert wird, kann die – sorry: »ökonomische Misplanetie« nicht links liegen gelassen werden. Wo verbesserte »Existenzsicherung« richtigerweise gegen »gesellschaftliche Destabilisierung« aufgerufen wird, wird auch der bisher starke Konnex zwischen »Sozialstaat« und »Wirtschaftswachstum« Beachtung finden müssen – weil es dabei um die planetare Existenzsicherung geht. 

Gerade ist wieder eine Studie erschienen, die »die Treiber aller Treibhausgasemissionen zwischen 1820 und 2050 global und regional« untersucht hat: »Um die Klimaziele zu erreichen, muss die Kohlenstoffintensität des BIP dreimal schneller sinken als der weltweit beste Wert der letzten 30 Jahre«, heißt es darin. »Sollte es weder zu einem solch beispiellosen technologischen Wandel noch zu einem deutlichen Rückgang der Weltwirtschaft kommen, werden die globalen Durchschnittstemperaturen bis 2050 um mehr als 3 Grad Celsius über das vorindustrielle Niveau steigen.« 

Hincks eingangs genanntes Plädoyer, »die gesellschaftliche Linke inklusive des linken Flügels der SPD« müsse auf die anschwellenden Kürzungsforderungen nicht nur mit routinierter Empörung, sondern »mit eigenen Ideen« reagieren, findet in solchen Forschungsergebnissen ihre zusätzlich planetare Herausforderung. Wie wird soziale Wohlfahrt realisiert, wenn der Weg über stete Ausweitung wirtschaftlichen Wachstums eine Sackgasse ist? Wie führen wir Diskussionen – auch Thieme spricht die ökologische Dimension an – über das, was als »Wohlstand« neu gedacht und gesellschaftlich ganz anders ermöglicht werden müsste? 

Ansätze, das vom menschlichen Standpunkt aus zu tun, sind gemacht. »In den Debatten über Mindestlöhne und soziale Sicherung fehlen häufig verlässliche, gesellschaftlich verankerte Maßstäbe dafür, was Menschen für ein angemessenes Leben brauchen«, beschreibt das Dezernat Zukunft eine Lücke. Diese versucht der gemeinsam mit dem Zentrum für neue Sozialpolitik vorgeschlagene Ansatz eines Lebensqualitätsminimums zu schließen: »In moderierten Fokusgruppen erarbeiten Bürger:innen gemeinsam, welches Einkommen notwendig ist, um einen Mindeststandard an Lebensqualität zu erreichen.« In der Bundesrepublik wären demnach 16,60 Euro Stundenlohn »bei typischer Erwerbsarbeitszeit nötig, um das Lebensqualitätsminimum zu erreichen«. 

Aber es müsste eben auch gefragt werden, wie sich ein Lebensqualitätsminimum zu planetaren Grenzen verhält: Ließe es sich global verallgemeinern, ohne dass der Planet abbrennt? Das wäre keine »ergänzende« Frage mehr, die an die bestehenden sozialen, ökonomischen Problemstellungen wie ein Zusatz angefügt wird – wenn es nicht »vergessen« oder interessengeleitet verhindert wird, wie heute noch üblich. 

Dass das auch mit den politischen Dynamiken zu tun hat, auf welche »antifaschistische Wirtschaftspolitik« zu reagieren versucht, muss nicht groß ausgemalt werden. Die sozialen und ökonomischen Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, lassen sich nach der Petromoderne aber nur noch als zugleich planetare begreifen. Man kann nicht mehr nur auf den klassischen materiellen Untergrund der gesellschaftlichen Dinge verweisen, wenn es »gegen Rechtsruck« und »für Demokratie« geht. 

Mehr noch, um eine Anregung von Pierre Rosanvallon aufzunehmen: Auch die (so wichtige) Beachtung der »sozialen Grammatik«, die aus den »unsichtbare Institutionen« erwächst – Vertrauen, Autorität, Legitimität – ist nicht mehr hinreichend. Es hängt die Zukunft eben nicht nur »vom inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft ab, die sich als beständig und stabil erweisen muss«, sondern auch von der Stabilität ihres, sagen wir: »äußeren Zusammenhalts«, der planetaren Grammatik.

Nötig wäre also ein Paradigmenwechsel, der auf das reagiert, was unter anderem Frank Adloff so beschreibt: »Die Menschheit befindet sich historisch in einer neuen Zeitordnung«, sie »steht vor einer fundamentalen Dezentrierungsaufgabe, um das Leben auf dem Planeten Erde zu erhalten – und damit auch sich selbst.« Sich allein auf die sozialen Konstellationen innerhalb menschlicher Gesellschaften zu konzentrieren, reicht einfach nicht mehr, wenn das implizite Naturverständnis, das »auf der Vorstellung einer stabilen Natur« beruhte, »vor deren Hintergrund sich die menschlichen Aktivitäten abspielen«, nicht mehr gegeben ist: »Der Hintergrund wird zum volatilen Vordergrund – mit der derzeitig zu beobachtenden Konsequenz, dass sich Natur in manchen Hinsichten heute schneller verändert als Gesellschaften es tun«. (tos)

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