»Kann es sein, dass wir immer noch nicht weit genug denken?«
Ein von Claus Leggewie angestoßenes interdisziplinäres Projekt will bestehende Grenzen überschreiten und die Wissenschaften von der Erde und dem Menschen planetarisch-universell zusammenbringen. Wohin kann »Planetares Denken« führen, das über die Schranken des Anthropozäns hinausreicht?
Vor zweieinhalb Jahren gab die Universität Gießen den »Kick-off« für das neue »Panel on Planetary Thinking« bekannt. In dem von Claus Leggewie angestoßenen Projekt würden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den geistes-, sozial-, kultur-, natur- und lebenswissenschaftlichen Disziplinen mit sehr unterschiedlichen methodischen Ansätzen zusammenwirken. Die Kernidee: »Der Mensch kann stabile planetare Zustände destabilisieren, bislang aber nicht wiederherstellen. Umso wichtiger ist es, eine planetare Gesamtperspektive einzunehmen, Zusammenhänge zu hinterfragen, Folgen abzuschätzen und Denkräume zu schaffen.«
Gut ein Jahr darauf erschien »Planetar denken«, ein erster umfangreicherer Antwortversuch auf die Frage: »Kann es sein, dass wir immer noch nicht weit genug denken?« Schließlich seien mit galoppierendem Artensterben und beschleunigter Klimakrise die Hinweise darauf, dass »alles Leben auf unserem Planeten in Gefahr« ist, offenkundig. »Dass etwas anders werden muss, radikal anders, liegt auf der Hand, doch lassen die erhofften Durchbrüche auf sich warten.« Hilft eine radikale Weitung der Perspektive?
Der von Leggewie, Frederic Hanusch und Erik Meyer verantwortete »Einstieg« in das planetare Denken öffnet jedenfalls den Raum der Möglichkeiten, in räumlicher, zeitlicher und materieller Hinsicht über die bedrohte Zukunft der Menschheit nachzudenken. Präsentiert wird ein Konzept der »Relationierung menschlicher Existenz im Universum und Relativierung der vorherrschenden anthropozentrischen (vom Menschen ausgehenden) Sichtweise«. Planetar zu denken heiße, »›unsere‹ Erde epistemologisch, ontologisch und ethisch als Planeten aller anderen anzuerkennen, menschliches (Zusammen-)Leben also durch einen sich stets wandelnden Planeten zu verstehen«. Denke man »planetar, wissen wir um die Erde als Planeten und verstehen menschliches Zusammenleben durch ihn«.
Das klingt ungewohnt, erinnert zunächst an mythische Weltbeschreibungen, wirft vor allem noch mehr Fragen auf - hat aber einen bedenkenswerten systematischen Kern, der mit einer normativen Pointe verbunden ist.
Unter Verweis auf Ludwik Fleck wird planetares Denken als »Denkstil« bezeichnet, dessen Weiterentwicklung eine »wachsende Gruppierung von Forschenden und Laien« als »Denkkollektiv« voran treibt, dabei »einen breiten Strauß von Forschungssträngen« bündelnd, die von der Komplexitätsforschung bis zu indigenem Wissen reicht, von Physik bis Philosophie, Brücken schlagend zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. »Diese Verschränkungen häufen sich nicht zufällig zu einer Zeit, da unsere Beziehung zum Planeten eine Metamorphose durchläuft, die bestehende Wissenssysteme fragil werden lässt«, so Hanusch, Leggewie und Meyer. Skizziert wird sodann ein Rahmen für planetares Denken.
Grundlegende Elemente davon sind Planet-Mensch-Beziehungen. Diese können unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. »Sie sind erstens metabolisch, da sie Stoffströme zwischen Planeten und Menschen betreffen, ohne beide Sphären gleichzusetzen und in einen materiellen Relativismus zu verfallen. Zweitens sind sie rezentrierend, da sie den Menschen seiner Sonderstellung entheben, ohne ihn dabei aus seiner Verantwortung zu entlassen. Drittens sind sie transversal, da Dinge und Konzepte wie Natur und Kultur verbunden werden, ohne sie ineinander aufzulösen.«
Über den Planet-Mensch-Beziehungen wird eine weitere Abstraktionsebene definiert: »Planet-Mensch-Beziehungen existieren nicht separiert voneinander, sondern stehen selbst in Wechselwirkungen unterschiedlicher Intensität.« Die Skala der Wechselwirkungen reiche vom winzigen Bakterium bis zu ganzen Planeten. Zur Betrachtung dieser Wechselwirkungen eigenen sich der Relationismus und die Komplexitätsforschung.
»Dem Relationismus zufolge lassen sich Eigenschaften von etwas nur relativ zu etwas anderem sinnvoll interpretieren, womit vor allem relationale Entitäten existieren.« Solche Relationalitäten »zu identifizieren, zu interpretieren, ethisch zu bewerten und nach Alternativen zu befragen«, würde die interpretative Seite planetaren Denkens über Wechselwirkungen ausmachen. Das aber reicht nicht aus; weshalb sie mit Konzepten verbunden werden sollten, »die anstreben, Wechselwirkungen zwischen Planet-Mensch-Beziehungen in Gänze empirisch zu fassen, zu formalisieren und zu generalisieren«. Dem stelle sich die Komplexitätsforschung.
Letztere wiederum verfüge selbst wiederum über ein Set an Konzepten, von denen vier als bei der Beschreibung von Wechselwirkungen zwischen Planet- Mensch-Beziehungen besonders hilfreich erweisen würden. Erstens: Emergenz. Die Eigenschaften der Wechselwirkungen zwischen Planet-Mensch-Beziehungen ließen »sich nicht vollends aus deren einzelnen Elementen ableiten lassen, sondern auch aus sich heraus unvorhersehbare Eigenschaften hervorbringen. Charakteristisch sind hierfür die aus der Chaosforschung bekannten Elemente Nicht-Linearität, indirekte Effekte, Serendipität, Nicht-Reduzierbarkeit, die Bedeutung unterschiedlicher Skalen sowie der phasenweise Übergang in neue Zustände, wie er etwa in den Kipppunkten des Erdsystems vorliegt.«
Zweitens: fehlende Gleichgewichtszustände. Veränderung sei das »einzig Stete. Die Wechselwirkungen zwischen Planet-Mensch-Beziehungen lösen Dynamiken aus, aufgrund derer der Planet höchstens für kurze Zeiten als verhältnismäßig stabil gelten kann. Das bedeutet, der Planet Erde und seine Gesellschaften können Verhältnisse hervorbringen, die sich trotz größerer Einwirkungen kaum verändern, also Pfadabhängigkeiten unterliegen, selbst bei kleinsten Störungen in einen anderen Zustand umschlagen (bei sogenannten Bifurkationen) oder trotz vermeintlich fehlender Änderungen der Grundbedingungen vollkommen chaotisch agieren (Schmetterlingseffekt).«
Wechselwirkungen zwischen Planet-Mensch-Beziehungen würden drittens Selbstorganisation hervorbringen. »Diese erfolgt meist ohne oder nur mit eingeschränkter Steuerung, wird im Wesentlichen also durch die Wechselwirkungen selbst erzeugt. Von besonderer Bedeutung bei dieser Selbstorganisation sind etwa kollektives (Schwarm-)Verhalten, Prozesse von Unordnung zu Ordnung und Selbstähnlichkeit, welche sich in der weltumspannenden Urbanisierung zeigen, wenn Bauten in Marzahn völlig identisch mit jenen in Brooklyn und Chengdu sind.« Und viertens wird auf die Möglichkeit der Adaptation verwiesen. »Anpassungen sind durch Mechanismen wie Lernen, Informationsweitergabe, psychologische oder soziale Entwicklung oder auch Selektion und Variation möglich. Wenn also ›funktionierende‹ Wechselwirkungen zwischen Planet-Mensch-Beziehungen gestört werden, können sie sich eventuell selbst regenerieren bzw. so verändern, dass sie weiter existieren, wie sich im Lauf der Geschichte des Lebens auf der Erde vielfach zeigte.«
Von hier aus wird der Bogen zu normativen Fragen geschlagen, die - nimmt man die Perspektive planetaren Denkens ein, »neu zu verhandeln« seien. Dabei wollen Hanusch, Leggewie und Meyer das Planetare zur Beachtung bringen, »ohne das Menschliche zu verdecken«. Es sei »letztlich am Menschen zu entscheiden, wie er die von ihm beeinflussbaren Begegnungen zwischen Menschen und Planeten, von denen er ein Teil ist, gestalten will«. Vorgestellt werden sodann normative Angebote zunächst unbeeindruckt davon, ob sie in Frage kommen sollten. Die beschriebene Palette reicht vom ökozentrischen Anti-Anthropozentrismus über Ansätze zur Verantwortungsübernahme des Menschen für Planet-Mensch-Beziehungen bis »zur Überschreibung des Planeten an den Menschen zur freien Nutzung« oder Ideen posthumaner Artifizialität.
Es geht den Autoren aber nicht nur um die Präsentation des Feldes, sondern sie nehmen darauf einen Standpunkt ein: »Nach der anthropozentrischen Fixierung in der westlichen Moderne erschiene uns eine radikale posthumanistische Wende eher wie ein Eskapismus, eine Flucht aus der Übernahme von Verantwortung, bei der ein Hinweis auf die planetare Komplexität wie eine Ausrede wirken muss.« Stattdessen wird eine tentative, also vorsichtige Ethik umrissen, in denen die Konzepte Habitabilität und Hospitalität ganz zentral sind.
Die Ethik der Bewohnbarkeit lege dar, so Hanusch, Leggewie und Meyer, »wie Menschen ihr Verhältnis zur Bewohnbarkeit des Planeten Erde und potentiell anderer bewohnbarer Planeten, die sie aufgrund ihres Entdeckergeists besiedeln wollten, wenn durch ihr Verhalten die Tragfähigkeit der Erde überstrapaziert ist, ausgestalten sollen«. Beispiele dafür sind die Selbstbeschränkung auffordernde Maßstäbe wie der »Earth Overshoot Day«. Die Ethik der Gastfreundschaft wiederum hat eine längere Tradition, wobei die Autoren an Immanuel Kant anknüpfen: Es stehe allen Menschen zu, »sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Ort der Erde zu sein, mehr Recht hat, als der andere«.
Hospitalität werde heute als erweitertes Menschenrecht deklariert; was eine direkte Folge der Klimakrise ist: »Menschen, die ihren Wohnort beispielsweise wegen Naturkatastrophen verlassen, sind keine Besucherinnen und Besucher mehr; sie können nicht mehr zurück und ohne ein stabiles Territorium keine reziproke Gastfreundschaft ausüben. Vielmehr sind sie auf eine absolute Gastfreundschaft angewiesen, also die Geste, dem Anderen eine ›Statt zu geben‹, ohne Gegenseitigkeit erwarten zu können«. Gastfreundschaft werde »damit zur Bleibefreundschaft.« Diese beiden Ethiken werden von den Autoren miteinander verbunden: »Verschränken wir nun die (planetozentrische) Habitabilität mit der (anthropozentrischen) Hospitalität, so sind der ›Gast‹ Mensch und der ›Gastgeber‹ Erde kein Gegenüber mehr, sondern durch die Bewohnbarkeitsfrage symmetrisch verbunden.«
Von hier aus werden noch eine ganze Reihe von Ansätzen präsentiert, die man als mögliche praktische Schlussfolgerungen planetaren Denkens aufgreifen kann, oder als Ausgangspunkt für neue Fragen. So schlagen Hanusch, Leggewie und Meyer etwa »eine verfassungsgestützte Ausweitung des normativen Kosmopolitismus zu einer umfassenderen Kosmo-Politik« vor, die »mit einer transdisziplinären Gewichtung der Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen« verbunden werden solle. Außerdem werden Gedanken über Internationale Beziehungen und Globales Regieren formuliert, nicht zuletzt solche der Demokratie.
»Demokratie planetar zu denken« heißt denn auch, sich etwa Fragen der »Proxy-Repräsentation« zu öffnen und in angemessenen Zeitdimensionen zu denken - von der Tiefenzeit, die den gesamten Zeitraum der Existenz des Universums umfasst, bis zu in Relation dazu mikroskopischen Zeitfragen, die heute neue Aufmerksamkeit erlangen, etwa in der Kritik der kapitalistische getriebenen Beschleunigung, den sozialen Ungleichheiten der Zeitverfügbarkeit oder den zeitdimensionalen Problemen von Konsum, Technologie und so fort. »Welche Form der Gesetzgebung kann politische Wahlzyklen mit geologischen Zeitskalen des Erdsystems übereinbringen? Womit kann man temporale Gewalt zwischen Generationen wie ›Ewigkeitskosten‹ vermeiden (Beispiele sind die Langzeitfolgen von Bergbau und Atommülllagerung)? Lässt sich Digitalisierung nutzen, um eine Vielfalt von Eigenzeiten zu erhalten? Inwiefern beeinflusst die Desynchronisation sozioökonomischer Nachfrage und natürlicher Regeneration langfristigen Wohlstand?«
Denken wir noch nicht weit genug? Hanusch, Leggewie und Meyer machen auf knapp 200 Seiten eine Menge, kulturgeschichtlich und naturwissenschaftlich illustrierter Vorschläge, die Antwort darauf an sich selbst zu prüfen. »Die Notstandslage von Klimawandel, Artensterben und anderen Kipppunkten des Erdsystems«, so die Autoren abschließend, möge »zwar nicht das Überleben des Planeten in Frage stellen, aber im Blick auf die heute lebenden und künftigen Generationen die Setzung neuer Prioritäten« verlangen. Der Planet braucht uns nicht, wir ihn auf absehbare Zeit schon. (tos)
Frederic Hanusch, Claus Leggewie und Erik Meyer: Planetar denken. Ein Einstieg, Bielefeld 2021, 200 Seiten, 18 Euro.