Klimanotizen 80

Ideologie als Mundgeruch der anderen: Anmerkungen zu Merz, Verbrenner-Aus-Aus und Wirtschaftswachstum. Und darüber, was es zu denken gibt, wenn die Widersprüche zwischen System- und Sozialintegration nicht länger auf Kosten der Natur versöhnt werden können. Außerdem: ein lustiger Videohinweis!

#1 Von Terry Eagleton stammt der Hinweis, in einem bestimmten Sinne sei »Ideologie wie Mundgeruch immer das, was die anderen haben«. Vor ein paar Tagen hat Friedrich Merz ganz in diesem Sinne und zum drölfzigsten Mal vormalige Regelungen zur Förderung der Transformation weg vom Fossilismus gegeißelt: Das »Verbrenner-Aus«, »diese ganze Ideologie, die liegt hinter uns. Und damit wird es keine zweite Chance geben, noch einmal einen solchen Schaden an unserem Land anzurichten, wie wir das in den letzten Jahren mit einem permanenten Ausstieg erlebt haben. Wir steigen jetzt wieder ein.« In was? Betreffend die »Maßnahmen für einen sauberen und wettbewerbsfähigen Automobilsektor«, welche die EU-Kommission inzwischen vorgelegt hat, könnte Verbrenner-Fritze zu früh gejubelt haben, »die Industrie meckert trotzdem«, fasst ein Magazin die Reaktionen zusammen. Der zuständige Lobbyverband nennt die Vorschläge sogar »fatal« und schickt schon einmal die Aufforderung an seine fossilistischen Partner in EU-Parlament und Regierungen, »den Vorschlag der Kommission entscheidend zu verändern«. Ein Auftrag auch an Merz, der dies im Sinne »falscher Vorstellungen, die dazu beitragen, eine herrschende politische Macht zu legitimieren« (eine andere Begriffsbestimmung von »Ideologie« von Eagleton) sicher auch tun wird. Diese Macht ist nicht so sehr das widersprüchliche Gebilde aus Union und SPD, das derzeit die Regierungsgeschäfte verwaltet. Sondern der von dieser Politik akzeptierte oberste »Sachzwang«, dem anderes untergeordnet wird. Der CDU-Vorsitzende hat diese Position auf besagtem CSU-Parteitag dahingehend erläutert, er sei »nicht bereit, Umwelt- und Klimaschutz so hoch aufzuhängen, dass damit ein großer Teil unseres industriellen Kern in der Bundesrepublik Deutschland verloren geht«. Zu lange habe die Umweltpolitik die Konjunktur gebremst, womit Merz Wirtschaftswachstum meint. 

#2 Dieses wird nicht nur von den Anhängern des überwiegend immer noch fossilistischen Status quo als tragende Systemsäule ausgegeben: »Wer die Demokratie in Deutschland beschädigen, wenn nicht gar zerstören will, muss das genau so weitermachen«, sagt Merz über jeden Schritt, von dem er glaubt, er würde sich negativ auf das Bruttoinlandsprodukt auswirken, das vielen als Maßzahl für »Wohlstand« gilt. Auch die Ökonomin Nicola Fuchs-Schündeln, Chefin des WZB, spricht so: »Wenn wir langfristig kein Wachstum hätten, bekämen wir ein ernsthaftes Problem.« Hierbei handelt es sich um eine von jenen »Vorstellungen, die dazu beitragen, eine herrschende politische Macht zu legitimieren«, das wäre dann eine dritte Eagletonschen Begriffsbestimmung von Ideologie. Diesmal ohne »falsche«, denn diese Vorstellung ist auf ihre Weise »richtig« (und bleibt doch falsch): Das, was da mit »Wachstum« bezeichnet wird, ist nicht nur unauflösbar mit den herrschenden Vorstellungen von »Wohlstand« verknüpft, die in auf Steigerungslogiken aufgebauten Bedürfnissen sedimentieren, sondern auch die entscheidende Ressource andere Widersprüche der sozialen Integration im Kapitalismus auszubalancieren. Ausführlich haben das unter anderem Uwe Schimank (hier) und Jens Beckert (hier) erklärt. Mancher mag deren Redeweise zu systemtheoretisch finden, das lindert aber noch nicht das aus der Aussage entspringende Problem: »Bislang konnten System- und Sozialintegration auf Kosten der Natur versöhnt werden. So wurde Wachstum ermöglicht, dessen Schäden weitgehend in der natürlichen Umwelt abgelagert wurden. Wenn es jetzt aber zur Destabilisierung der Natur insgesamt kommt, ist dieser Weg gesellschaftlicher Integration zunehmend versperrt. Damit aber macht der Klimawandel das vielleicht grundlegendste Versprechen der kapitalistischen Moderne zunichte: die Aussicht auf immer weiter steigende Prosperität und die Befriedung von sozialen Konflikten durch die Umverteilung von Zuwächsen.«

#3 Wenn Bauchredner des fossilistischen Status quo das Wachstum verteidigen, geht es ihnen im Grunde nie darum, solche Einsichten mit tragfähigen Gegenargumenten zu konfrontieren. Es geht meist nur darum, irgendwem »Mundgeruch« nachzuweisen – fast immer stehen sie dabei in der Rolle des nützlichen Idioten. Es kommen dann Stories heraus wie jene über »Das einflussreiche Klima-Institut, das Wirtschaftswachstum überwinden will«. Gemeint ist das renommierte Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, getroffen werden soll das wissenschaftliche Sichtbarmachen der Überschreitung planetarer Grenzen, als weiterer Hebel dient das irgendwie an Corona-Debatten erinnernde Geraune, wer so etwas überhaupt veröffentliche, sei »beliebte Autoritätsressource für Politiker«. Weil ja die Merzens und Klingbeils und Reiches uns jeden Tag Degrowth und Postwachstum vorbeten… Naja. PIK-Professor Stefan Rahmstorf hat die in der (von der auch aufgrund fossiler Investments bekannte Beteiligungsgesellschaft KKR herausgegebenen) Zeitung »Welt« veröffentlichte Geschichte als »eine bizarre Verschwörungserzählung« zurückgewiesen, sie sei ein »Jahrzehnte alter Ladenhüter der Klimaleugnerszene«. Wofür das PIK tatsächlich plädiere sei, »den Fokus nicht allein auf das Wachstum des Bruttosozialprodukts zu legen, sondern stärker auf das menschliche Wohlbefinden innerhalb der planetaren ökologischen Grenzen auszurichten«. Erst vor ein paar Tagen war ganz in diesem Sinne die »Zeit« erstaunt, dass der gesellschaftliche Wohlstand in der Bundesrepublik im vergangenen Jahr um 2,3 Prozent zugelegt habe. Dies sei »sensationell, wenn man bedenkt, dass seit Jahren von Stillstand und Niedergang die Rede ist. Und man sich erinnert: Die Wirtschaftsleistung schrumpfte im vergangenen Jahr. Wie kann da der Wohlstand zunehmen?« Das kann man beim Heidelberger FEST-Institut und dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung nachlesen, die den Nationalen Wohlfahrtsindex entwickelt haben, der den Blick um »wohlfahrtsrelevante ökonomische, ökologische und soziale Aspekte erweitert«. Es kömmt also auf die Perspektive an. Dass der NWI im Plus steht, dahinter steckten »aber nicht nur positive Entwicklungen. So hängen etwa die aufgrund des sinkenden Energieverbrauchs zurückgegangenen Umweltkosten auch mit der konjunkturellen Schwäche zusammen, die gleichzeitig Arbeitsplätze bedroht.« Oder, um es noch einmal mit Jens Beckert zu sagen: »Bislang konnten System- und Sozialintegration auf Kosten der Natur versöhnt werden.« Das geht nun nicht mehr, es sei denn, man denkt wie Friedrich Merz. Aber ein neuer Indikator allein macht das Problem auch nicht schwinden.

#4 Während »Wachstum« in der Variante »falsche Vorstellungen, die dazu beitragen, eine herrschende politische Macht…« medial und in einem positiv beschwörenden Sinne omnipräsent ist, kann sich eigentlich auch die kritische und an Alternativen interessierte Gegenseite nicht wegen mangelnder Aufmerksamkeit beklagen. Eigentlich. Denn die Frage bleibt ja, welchen Einfluss das auf die Produktion von Mundgeruch, sorry: Ideologie und also auf politische Entscheidungen, mehrheitliche Auffassungen, Möglichkeiten der Selbstbewegung und so weiter hat. Im neuen »Wirtschaftsdienst« denken Andreas Suchanek und Martin von Broock über »Wachstum mit Grenzen« nach, wobei es um die Möglichkeit »guter Grenzen« geht, die per Bürokratie und Respekt auf ein »Wachstum, das niemanden schädigt« hinauslaufen. Deutlich weiter über die Grenzen der bestehenden Systemlogiken hinaus geht Nico Paech in einer dem Thema Wachstum gewidmeten neuen Ausgabe von »Aus Politik und Zeitgeschichte« – er verteidigt eine Postwachstumsökonomie, die »darauf zielt, Menschen zu befähigen, unter absehbar nicht mehr zu verhindernden Kollaps- und Knappheitsbedingungen souverän zu existieren«. Andere Autoren bestehen auf der Systemfunktion von Wachstum oder der Möglichkeit, auf »gutes Wachstum« umzustellen. Ulrike Herrmann hingegen glaubt nicht an solches »grünes Wachstum« und meint: »Wir müssen schrumpfen.« Henriette Liebhart hat das APuZ-Heft in der Zeitschriftenschau bei »Soziopolis« aufgegriffen, wo auch auf eine neue Ausgabe der »WSI-Mitteilungen« verwiesen wird: »Sozialpolitik ökologisch gestalten«. Im Editorial wird »eine Integration ökologischer und sozialpolitischer Ziele« gefordert, es dürften beide Bereiche nicht »gegeneinander ausgespielt werden«. Ein bisschen umlaufen wird der Elefant im Raum: Wie verhält sich das alles zur Frage des Wirtschaftswachstums, aus dem soziale Integration bisher »geleistet« wurde? Schon vor neun Jahren hatte eine andere Ausgabe der »WSI-Mitteilungen« zumeist skeptische Perspektiven darauf gegeben. Dieser schon ziemlich lange Faden wird auch in dem unlängst erschienen Sammelband »Wirtschaftswachstum zwischen Fortschritt, Abhängigkeit und Zwang« aufgerollt, der die Frage, »warum Gesellschaften auf Wachstum angewiesen sind, und wie sie sich von Wachstum unabhängig machen können«, als »theoretisches Neuland« bezeichnet. Das werden nicht alle auch so finden, lesenswert sind viele der versammelten Beiträge dennoch, etwa der weite historische Blick von Andreas F. Lingg auf »Naturen des Wachstums« seit dem frühen 15. Jahrhundert oder die Kartierung des politischen Denken der ökologischen Wachstumskritik durch André Rathfelder rund um sechs Streitfragen. Gut auf dem Laufenden bleibt man was die Optionen einer Postwachstum-Antwort angeht beim gleichnamigen, am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) angesiedelten Blog, das sich als Debattenforum und »Schaufenster und Ideenwerkstatt für eine wachstumsunabhängige Gesellschaft« versteht. Im zurückliegenden Sommer ist auch das »Routledge Handbook of Degrowth« erschienen, dieses geht zurück auf eine Konferenz in Oslo und versammelt viele internationale und thematische Perspektiven. Unter den Teilnehmerinnen dürfte eine Anfang Dezember in »The Lancet« veröffentlichte »erste große Studie« zu Einstellungen gegenüber Degrowth Aufmerksamkeit erregt haben: Es bestehe zwar »breite Zustimmung« in der Sache, nicht aber »zur Bezeichnung selbst«. Der Kernidee, »dass einkommensstarke Volkswirtschaften dem Wohlergehen Vorrang vor Produktionswachstum einräumen sollten«, habe in Großbritannien 74 bis 84 Prozent und in den USA 67 bis 73 Prozent Zustimmung erfahren. Die Diskrepanz könnte auch damit zu tun haben, dass wachstumskritische Positionen wie Postwachstum, Degrowth, Décroissance und so weiter seit Jahren mit zurückweisenden Fragen konfrontiert sind, die aufgrund der individuellen Verstricktheit mit einem auf Wachstum basierenden System vielen als einleuchtend erscheinen (oder jedenfalls die Verdrängung anders lautender Antworten ermöglichen): Was passiert mit unserer Wirtschaft und unseren Sozialsystemen, wenn das Wachstum ausbleibt? Entspricht das Immer-mehr nicht dem menschlichen Wesen? Was ist mit den Menschen im globalen Süden? Wollt ihr zurück in die Steinzeit? Schon 2017 hat sich eine Broschüre der Luxemburg-Stiftung mit solchen »Mythen und Behauptungen über Wirtschaftswachstum und Degrowth« auseinandergesetzt.

#5 Das war jetzt viel Texthinweis, deshalb am Ende noch einmal an den Anfang zurück – und etwas zum Anschauen. Denn die Bemühungen zur Verlängerung der Möglichkeiten, mit der Produktion von planetenzerstörenden Kraftfahrzeugen Profite zu machen, tragen bisweilen komische Züge (wäre die Sache nicht so ernst). In einem Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte sich Kanzler Merz unter anderem dafür ausgesprochen, dass auch nach dem Jahr 2035 »hocheffiziente Verbrenner zugelassen werden können«. (Mancher erinnert sich vielleicht noch an den »Clean Diesel«, der in einem leider weitgehend folgenlosen Schaustück organisierter Kriminalität endete.) Als jedenfalls die Bundesregierung das von ihr aus der Autobranche übernommene neue Marketingwort »hocheffiziente Verbrenner« vor der Presse erklären sollte, wurde es kafkaesk. Man sollte sich die knappe halbe Stunde noch einmal ansehen – als Zeugnis der abverlangten Borniertheit, mit der »falscher Vorstellungen, die dazu beitragen, eine herrschende politische Macht zu legitimieren« (Eagleton) von Leuten beackert werden müssen, die es sichtbar besser wissen. Und natürlich wegen der denkwürdigen Dialoge zwischen Regierungssprecher Kornelius und Journalisten, die diese Vorstellungen nicht unhinterfragt lassen wollten: »Ich verstehe die Frage nicht. Wollen Sie aufhören zu atmen. Das macht auch CO2.« – »Nee. Ich bin aber auch kein Verbrenner-Motor.«

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