Klimanotizen 79

Wenn in deutschen Rentendebatten »Generationenkonflikt« gerufen wird, geht es in Wahrheit um Verteilungsfragen. Und, wie bei der Klimapolitik, um intertemporale Freiheit. Lässt sich beides irgendwie in planetarem Sinne zusammenbringen? Ein Vorschlag für die kommende Rentenkommission.

#1 Wo stehen wir? Es fühlt sich ein bisschen so an, als käme man in eine von einer wochenlangen Feier verheerte WG-Wohnung zurück: Einige der Beteiligten wollen sich lieber nicht daran erinnern, was vorgefallen ist, andere liegen mit erheblichen Blessuren aber doch erleichtert auf dem Sofa, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist. Warum die Party eskalierte, dröhnte zwar wochenlang aus allen Boxen: »Generationenkonflikt«, »Rentenrebellen«, »Kanzlerrückhalt«! Die dabei erreichte Lautstärke, dieser Eindruck konnte sich einstellen, diente nicht zuletzt dazu, von Wesentlichem abzulenken.
Man könnte »Rente« als diejenige demokratische Verabredung verstehen, mit der eine Gesellschaft, erstens, bestimmt, welche materiellen Zugangschancen sie jenen Älteren zubilligen will, die ein Leben lang abhängig von Lohnarbeit waren, und wieviel sie, zweitens, dafür vom volkswirtschaftlichen Gesamtprodukt zu erübrigen gedenkt. Natürlich spielen die konkrete Ausgestaltung (Umlageverfahren), Finanzierungsfragen (Steuerzuschuss), überholte Traditionsbestände (Beamtenpensionen, Nichteinbeziehung Selbstständiger) und demografische Entwicklung eine wichtige Rolle. Letzten Endes dreht sich aber alles um Verteilung: Die entscheidende Maßzahl ist der Anteil der Renten-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt, wie es etwa hier der Wirtschaftsweise Achim Truger vorrechnet. Und insofern dieses BIP einerseits ungleich erarbeitet und andererseits die daraus zu erzielenden Erlöse noch ungleicher einbehalten werden, ist der umstrittene Punkt, wie viel aus welchen »gesamtgesellschaftlich produzierten« Quellen für die demokratische Verabredung »Rente« abzuzweigen sind. 

#2 Wenn also im jüngsten »Rentenstreit« die Junge Gruppe in der Unionsfraktion beklagte, allein die Festschreibung der Haltelinie über das Jahr 2031 hinaus werde bis 2040 zu über 100 Milliarden Euro Mehrkosten führen, agierte sie als Bauchrednerin bestimmter Verteilungsinteressen. Wenn die »Rentenrebellen« zum Beispiel die Forderung nach Verschiebung des Renteneintrittsalters aufgreifen, geht es auch um die im Zuge der Alterung der Gesellschaft für das Kapital schlechter werdenden Möglichkeiten, sich fremde Lohnarbeit anzueignen – eine Rente zum Beispiel mit 70 erhöht das nutzbare Arbeitsangebot. Aber vor allem geht es um die Frage: Woher soll die Kohle für die Altersversorgung kommen? Das Kapital fürchtet staatliche Verschuldung (aus ideologischen Gründen), mit dem etwa eine Ausweitung des »Steuerzuschusses« finanziert werden könnte, mehr noch aber, dass es dafür etwas aus den Erlösen der angeeigneten Arbeit anderer abzwacken müsste. Die Erhöhung der von den Unternehmen hälftig zu leistenden Rentenbeiträge wird ohnehin erwartet, durch das Rentenpaket wird diese zwar verzögert, es führt aber später zu einem stärkeren Anstieg. Eine andere Option tauchte in der jüngsten Rentendebatte auch auf, wurde dann aber ohne größeres Aufheben wieder kassiert: Hatte sich der Koalitionsausschuss von Union und SPD aufgrund des Drucks der »Rentenrebellen« zunächst auf den »Entwurf eines Begleittexts im Rahmen der Verabschiedung des Rentenpakets geeinigt, der als Entschließungsantrag abgestimmt werden sollte, wurde dieser dann »überraschend« wieder zurückgezogen. In dem Text werden der im Dezember einzusetzenden Rentenkommission weitgehende Prüfaufträge erteilt – darunter, die Einbeziehung »weiterer Einkunftsarten in die Beitragsbemessung« der Rentenversicherung auszuloten. Das könnten etwa Kapitaleinkünfte oder Einkünfte aus Vermietungen sein, eine Möglichkeit also, an der für die gesellschaftliche Verabredung »Rente« maßgeblichen Verteilungsschraube zu drehen. Blockiert wurde der Entschließungsantrag maßgeblich vom Parlamentskreis Mittelstand, auf den die Unionsfraktionsführung dann mehr Rücksicht nahm als auf die »Rentenrebellen«, für die der Entschließungsantrag als Zugeständnis gedacht war. Wer hat sich durchgesetzt? Ein bestimmtes Verteilungsinteresse, das für sich verhindern will, mehr zu den materiellen Zugangschancen Älterer nach der Lohnarbeit beizutragen. Der Hinweis der Unionsführung, die Rentenkommission werden vom Kabinett eingesetzt, ein zusätzlicher Entschließungsantrag für die Prüfaufträge sei nicht nötig, diese seien ja in der Koalition verabredet, ist formal richtig. Ob und welchen Stellenwert eine mögliche Einbeziehung »weiterer Einkunftsarten in die Beitragsbemessung« bei der nächsten Reformdebatte wirklich haben wird, hängt allerdings maßgeblich auch vom öffentlichen Druck ab, das auch wirklich positiv zu erwägen.  Ein Beschluss des Parlaments hätte da, wenn er auch unverbindlich gewesen wäre, eine gewisse Kraft entfalten können.

#3 Apropos »Generationenkonflikt«. Alle Bundesregierungen die aktuelle eingeschlossen haben bei der Klimapolitik viel zu wenig vorangebracht. Das soll die Unterschiede zwischen dieser und jener politischen Agenda nicht verwischen – lieber einen Robert Habeck als eine Katharina Reiche, na klar. Mit der Ausbremspolitik von letzterer ist noch wahrscheinlicher geworden, dass die Bundesrepublik aufgrund mangelnder Klimapolitik in den Bereichen Gebäude und Verkehr »bis 2030 voraussichtlich mindestens 100 Milliarden Euro an Strafzahlungen leisten« wird müssen. Das geht aus einer aktuellen Studie des Bundesverbands Energieeffiziente Gebäudehülle hervor, der in der Angelegenheit sich noch paar andere Interessen verfolgt als jene des Planeten.
Huch, 100 Milliarden? Hatten wir diese Summe nicht auch gerade bei der Rente? Nun wird man schlecht vorschlagen können, die Merz-Regierung solle doch bitte eine bessere Klimapolitik machen, dann müsste sie bis 2030 nicht 100 Milliarden Euro Strafe zahlen – und hätte also das Geld für die Mehrausgaben für das Rentenpaket bis 2030. Das ist nur die eine Seite der teuren Medaille: Immer wieder rechnen Studien über die Folgen der Erderwärmung die volkswirtschaftlichen Schäden in den nächsten Jahrzehnten vor; eine von der Bundesregierung beauftragte Expertise kam dabei für die Bundesrepublik bis 2050 auf »kumulierte Gesamtkosten zwischen 280 und 900 Milliarden Euro«. Das sind weit größere Summen als die für die Verlängerung einer Haltelinie bei der Rente, die vor allem das Absinken der Altersbezüge jener schützt, die durchschnittlich verdienen. Und die durch Klimawandel bedingten Schäden, die übrigens nicht vom Himmel fallen, sondern für die Verursacher verantwortlich sind, verringern das Gesamtprodukt als Grundgröße aller gesellschaftlichen Verteilungsfragen. 

#4 Dass in der Aufregung um die wegen Mehrkosten besorgten »Rentenrebellen« Vergleiche mit anderen zukünftigen Belastungen gezogen worden wären, Generationenkonflikt!, hat man nur selten gehört. Aber so, wie die Rente im Grunde eine gesellschaftliche Verabredung ist, die zwischen unterschiedlichen Jahrgangsgruppen unter anderem Verteilungsfragen vermittelt, so verhält es sich ja noch zwingender mit der Klimapolitik. Das Bundesverfassungsgericht hat 2021 darauf in seiner berühmten Leitentscheidung reagiert. Es »entwickelt den Grundwert der gleichen Freiheit weiter und erkennt, auf den Klimaschutz begrenzt, ein Grundrecht auf Nachhaltigkeit an: Freiheit schließt künftige Freiheit ein. Als intertemporale Freiheit kann sie eine verhältnismäßige Verteilung von Freiheitschancen über die Zeit verlangen«, wie das Mathias Hong einmal zusammengefasst hat. Nach dem Urteil ist immer wieder darauf verwiesen worden, dass »die Entscheidung aus Karlsruhe Relevanz für Rechtsgebiete mit intergenerationaler Bedeutung« habe. »Dabei ist beispielsweise an die sozialen Sicherungssysteme, allen voran die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zu denken. Hier besteht ebenso die Gefahr künftiger Freiheitseinschränkungen, die im derzeit geltenden Recht angelegt ist und daher potentiell auch eine gegenwärtige und eigene Grundrechtsbetroffenheit begründet.« 

#5 Klimapolitik und Rentendebatte verbindet also dies: Im Kern handelt es sich um demokratische Verabredungen darüber, ob und wie eine Gesellschaft »eine verhältnismäßige Verteilung von Freiheitschancen über die Zeit« verwirklichen will. Es geht dann auch um Regeln und Verfahren, die nach dem Grundsatz »Freiheit schließt künftige Freiheit ein« gegebenenfalls auch die Wahrnahme von heutigen Freiheiten im Sinne künftiger einschränkt. Das gilt für den Ausstoß von Emissionen genauso wie für den Gebrauch von Privateigentum zum Beispiel an Produktionsmitteln oder die Freiheit, aus G so viel wie möglich G’ zu machen. Da die »verhältnismäßige Verteilung von Freiheitschancen« unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen immer und vor allem eine der Verteilung materieller Güter, Einkommen, in Geld aufzuwiegender Lebens- und Zugangschancen ist – könnte man da nicht also planetare und Rentenfrage zusammendenken? So in der Art: Die Rentenkommission möge bitte die Einbeziehung »weiterer Einkunftsarten in die Beitragsbemessung« für die Rente prüfen, allerdings dabei vorrangig oder ausschließlich jene Erträge aus Kapital beziehungsweise die jeweiligen Anteile in den Blick nehmen, die mit fossilen Herstellungsmethoden, ökologisch schädlichen Produkten oder der Geldmacherei aus Förderung von Bedürfnissen zu tun haben, deren konsumistische Erfüllung den Planeten zerstört. Im Sinne möglichst weitgehender Intertemporalität wären außerdem historische Verursachermengen einzubeziehen, die noch immer an heutigen Kapitalerträgen kleben wie tödliche Pampe aus früheren Ölkatastrophen. Das würde, von wegen Markt, Druck in Richtung Umstellung von Produktionsmethoden machen, was dazu beiträgt, Strafzahlungen für zu langsamen Klimaschutz zu vermeiden und die volkswirtschaftlichen Folgekosten des Klimawandels zu bremsen, welches dann wiederum dem, etwa für die Altersversorgung langjähriger Lohnschaffender, zu verteilenden Gesamtprodukt zugute käme und so weiter. Hallo Rentenkommission, wie wäre das?

#6 Ein ps. Heute und Morgen findet in Magdeburg der Bundesparteitag des BSW statt. Nebenan ein paar Gedanken über das Wahlprüfungsbegehren der Partei hinaus. Es geht um die »konservative Dissidenzfiktion« hinter dem inszenierten Rebellentum, um die Mängel der »zum ganz großen neuen Ding aufgeblasene« Repräsentationslücke im zweidimensionalen Raum und darum, wo das BSW entlang der entscheidenden Konfliktachse »solar« versus »fossil« steht: ganz nah bei Merz und dem Benzinflügel der SPD. (tos)

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