Klimanotizen 78
Never trust a COP? Oder: Was haben denn die Klimakonferenzen bisher gebracht? Schon länger wird über Ergebnisse und Reformbedarf diskutiert. Über Erdräson im Korsett von nationalstaatlicher Weltpolitik, die Fehler der Klimabewegung und warum links und ökologisch zusammengehören.
#1 »Die Woche der Entscheidung?«, fragt die Tagesschau mit jener ermüdenden Routine, welche zum Signum Weltklimakonferenzen längst gehört. Ganz egal, welche formalen Tricks die Konferenzleitungen versuchen - das fossile Lager blockiert, Betroffene und Aktivistinnen protestieren, es gibt einige Fortschritte auf dem politischen Millimeterpapier der multilateralen Klimapolitik, und am Ende kommt auch die COP30 in Belém nicht pünktlich zum Ende. Wichtig sei ohnehin nicht, wann der Hammer fällt, wird Christoph Bals von Germanwatch zitiert – sondern was dabei beschlossen wird.
»Wie kommt die Konferenz in Belém voran?«, lautet die folgerichtige Frage in der FAZ: »Gemessen an den Erwartungen, gut. Aber die Erwartungen sind auch gering.« Es wird einen Investitionstopf zum Schutz der Regenwälder geben, von den 125 Milliarden US-Dollar, mit denen die Tropical Forest Forever Facility gefüllt werden sollen, waren zuletzt kaum fünf Milliarden zusammengekommen. Die Debatten in Brasilien machen zudem deutlich, dass beim Thema Klimaanpassung weit schwieriger auf privates Kapital gesetzt werden kann – anders als mit gewinnträchtigen Investitionen in Erneuerbare und grüne Techniken sieht es bei der Adaptation aus: »Mit Dämmen oder Hitzeschutz ist kaum Geld zu verdienen.« Als »Erfolg« wird bewertet, dass sich die Teilnehmerstaaten nicht über die Tagesordnung gestritten haben. Das löst die Differenzen aber nicht auf, sondern verschiebt sie lediglich – in Brasilien nur um ein paar Tage. Der Climate Table zum Stand der Dinge nach der ersten COP-Woche: »Vier umstrittene Themen beschäftigen die Verhandler in Belém: Finanzzusagen der Industriestaaten, die Ambitionslücke mit Blick auf das 1,5 Grad-Ziel, einseitige Handelsmaßnahmen und Transparenz über Treibhausgas-Emissionen. Die Länder beharren weiter auf ihren jeweiligen Standpunkten. Es gebe kaum Bewegung.«
#2 Aber wurde nicht immerhin die »Deklaration zur Klimainformationsintegrität« unterzeichnet? Die drohte »in der üblichen Flut an Klimainformationen fast unterzugehen«, hat Joachim Müller-Jung beobachtet – und außerdem dies: Dem »latenten, aber auch nicht auszuräumenden Problem der Klimawandelleugnung wird inzwischen eine Bedeutung beigemessen, die möglicherweise dem Klimaschutz selbst kaum mehr dient. Denn sie lenkt ab.« Entscheidender sei in Zeiten des als »Realismus« und »Pragmatismus« aufgehübschten Klimarevisionismus doch vielmehr: »Wie viel Ignoranz erlauben wir uns?« Der eigentliche »Klimarealismus der Experten« – es wird schneller heißer; die möglichen Folgen sind offenbar schwerwiegender als bisher angenommen; wir wissen inzwischen bei aller epistemischen Unsicherheit zu viel über Kippelemente und Rückkoppelungen, als dass sich die heranrückende Realität mit »Technologieoffenheit« (Merz) oder »Wird schon nicht so schlimm« (Gates) hübsch reden ließe – pralle »auf einen politischen Klimarealismus, der in erster Linie von Interessen geleitet ist«.
Wenn man nun Staaten in schöner alter Theorietradition als »materielle Verdichtung« verschiedener Kräfteverhältnisse »zwischen Klassen und Klassenfraktionen« betrachtet, dann sind die Weltklimakonferenzen zumindest auf dem Feld der Klimapolitik so etwas wie Superverdichter: Sie sollen, das ist jedenfalls die auch nach fast 30 Ausgaben fortdauernde Erwartung, die mehr oder weniger fragilen, aus Widersprüchen bestehenden und umkämpften Staats-Zustände von 200 Ländern in einen globalen Mega-Zustand bringen, der möglichst klare Regeln, Mechanismen der Zieldurchsetzung und eine flexible, sich dem jeweils neuesten Stand der Wissenschaft anpassende Fortschreibung beinhaltet.
Nun denn. Dass die USA nicht direkt an den Verhandlungen beteiligt sind, sei immerhin »eine neue Realität«, auf die sich die Teilnehmerstaaten ausrichten müssten, heißt es bei Table Berlin: »Über 30 Jahre eingeschliffene Muster und Frontstellungen geraten langsam in Bewegung. Auch wenn kein anderer Akteur die Lücke vollständig füllen kann, verschieben sich Machtgefälle und Positionierungen zwischen den wichtigsten Playern.« Das hat die Erwartungen an Belém allerdings auch nicht besonders befeuert. IDOS-Direktorin Anna-Katharina Hornidge wird bei den Klimareportern mit der Einschätzung zitiert, dass die COP30 zwar die Aufgabe habe, angesichts der internationalen Lage zu zeigen, dass internationale Klimapolitik überhaupt noch funktioniere. Die Klimakonferenzen seien einerseits immer noch wichtig, andererseits zeige sich: »Das Verhandlungsformat liefert leider nicht in der Geschwindigkeit, in der wir voranschreiten müssen.« Und das ist nur eine der schon ziemlich lange angeführten Kritikpunkte am COP-Format. Eine andere lautet: Länder des globalen Südens beklagen, »dass die heutigen multilateralen Strukturen zum großen Teil entstanden sind, als sie nur teilweise mit am Tisch saßen und gar nicht gehört wurden«. Diese Asymmetrie wiederum wird überlagert durch eine andere, auf die unter anderem der Thinktank SWP nach der COP28 in Dubai hingewiesen hat: Mit der dort wirkenden »temporären Koalition, die für einen Ausstieg aus fossilen Energien eintrat, ist die Dichotomie zwischen Entwicklungs- und Industrieländern, die die Klimaverhandlungen seit dreißig Jahren prägt, nicht überwunden«. Aber das Bündnis habe »die eigentliche Konfliktlinie der globalen Energiewende reflektiert«, den »Gegensatz zwischen fossilen Interessen – Staaten und Firmen, deren Wirtschaftsmodell auf der Extraktion fossiler Energien beruht – und erneuerbaren Interessen, vertreten von denjenigen Staaten, die ein nachhaltiges und grünes Energiesystem aufbauen wollen«.
#3 Die Grüne Lisa Badum hat dieser Tage gefordert, dass »sich die Weltklimakonferenz als Format in den nächsten Jahren verändern muss, weil das Pariser Abkommen nun größtenteils ›ausverhandelt‹ ist«. Mehr Fokus, keine Lobby-Shows mehr, weniger »themenferne Akteure«, mehr Fokussierung auf den globalen fossilen Ausstieg, eine größere Rolle von UN-Institutionen und der Weltbank. Auch Ex-Außenministerin Annalena Baerbock wird dieser Tage mit dem Ruf nach Veränderungsbedarf bei den COPs zitiert. Oder Alden Meyer von der Denkfabrik E3G, der auf den Widerspruch zwischen Einstimmigkeitserfordernis bei der COP und planetar ausgerichteten Allianzen außerhalb des Prozesses verweist. Und auch hier heißt es skeptisch: »Zehn Jahre nach Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens sind Fortschritte schwieriger denn je. Dabei werden sie immer dringender… Die Klimadiplomatie setzt indes auf Business as usual.«
Ehrlicherweise muss ergänzt werden: Auch die Kritik am Format und die Forderungen, das COP-Format zu reformieren, sind Business as usual. Nicht nur Teile der Klimabewegung waren und sind der Meinung »Never trust a COP«. Zur Weltklimakonferenz 2024 erneuerten Promis wie Ban Ki Moon, Christiana Figueres, die frühere UNFCCC-Generalsekretärin oder Johan Rockström per Offenem Brief ihre Forderung nach einer COP-Reform – sie hatten ihn auch 2023 schon formuliert. Die derzeitige Struktur reiche »nicht aus, um den Wandel in dem erforderlichen exponentiellen Tempo und Umfang zu bewirken, der für eine sichere Klimawende für die Menschheit unerlässlich ist. Deshalb fordern wir eine grundlegende Überarbeitung der COPs.« Fossilistische Bremserstaaten sollten die Konferenzen nicht mehr austragen. Es solle kleinere, dafür lösungsorientiertere Treffen geben. Es solle ein Mechanismus eingeführt werden, der Staaten bei Nichteinhaltung der Verpflichtungen zur Rechenschaft zieht. Außerdem betreffen die Reformvorschläge die Definition der Klimafinanzierung, die Mitwirkung der Wissenschaft an den Konferenzen, die Rolle von Ungleichheit und der Instabilität des Erdsystems und die Teilnahme fossiler Lobbyisten. Vor der Belém haben Nichtregierungsorganisationen in einem Appell gefordert, die Konferenz zu einer »polluter-free COP« zu machen – also keine Sponsoren, deren Geschäfte den Klimawandel befördern. Auch Lien Vandamme vom Center for International Environmental Law drängte auf eine Reform des Formats: Die COPs dürften »keine Industriemessen bleiben«.
Die Zielmarken, das wird in solchen Reformvorschlägen nicht bezweifelt, hat das Paris-Abkommen gesetzt. »Ein ausreichend gutes Abkommen«, nannte Rockström es im vergangenen Jahr. Aber reicht den Paris überhaupt noch, wo das 1,5-Grad-Ziel doch schon gerissen, das 2-Grad-Ziel immer schwerer zu erreichen ist? Es werde »keinen neuen Vertrag geben, es geht jetzt um die Buchhaltung, ums Verwalten. Das ist nicht cool oder glanzvoll, aber es muss gemacht werden«, sagt Benito Müller, Koordinator für internationale Klimapolitikforschung an der Universität Oxford und Direktor von Oxford Climate Policy.
Müller hat an anderer Stelle darauf hingewiesen, »dass die gegenwärtigen COPs den Verhandlern nicht mehr wirklich helfen, das Paris-Abkommen zu implementieren. Die Gipfel sind zu groß und wecken überdimensionierte Erwartungen« – etwa nach neuen großen internationalen Verträge. »Deswegen sorgen diese Mega-COPs für Enttäuschungen. Das hilft der Sache nicht, im Gegenteil. Inzwischen sind sie ein großes Reputationsrisiko für das multilaterale Klimaschutzregime.« (Hier findet man kurze wissenschaftliche Bilanzen zur COP26 in Glasgow, zur COP27 Sharm El-Sheikh, zur COP28 in Dubai und zur COP29 in Baku.)
Müller hat 2021 ein Reformkonzept vorgelegt: kleinere COPs, zeitliche und räumliche Trennung der drei, die Klimakonferenzen heute prägenden, aber nicht sinnvoll zueinander passenden Säulen Verhandlung, Gipfeltreffen, Messe. Die COPs sollten demnach in Bonn stattfinden, so wie es das UNFCCC-Regelwerk eigentlich auch vorsehe. Kleiner Ausflug in die Wirklichkeit des Jahres 2025: Als im Streit der beiden Aspiranten Australien und Türkei, die beide die Weltklimakonferenz COP31 im kommenden Jahr ausrichten wollen, Bonn als Ort im Falle einer Nichteinigung ins Spiel kam, reagierte das Umweltministerium mit einem »Um Himmels willen«.
#4 In der Reform-Debatte geht es immer auch um eine grundsätzliche Frage: Brachten die COPs überhaupt etwas Zählbares. Die Antwort von Klimaforscher Mojib Latif: »Wir haben 28 Konferenzen hinter uns, und die Emissionen sind explodiert. Die COP ist ein Spektakel, das dem Klima bisher nichts gebracht hat.« Das sehen unter anderem die Politikwissenschaftlerin Sarah Haider-Nash und der IPCC-Leitautor Reinhard Mechler vom IIASA anders. Es habe eben doch Erfolge gegeben: »Ohne die Verhandlungen stünden wir global gemittelt bei drei bis vier Grad«. Stand 2025 wird die globale Erhitzung laut UNEP Ende des Jahrhunderts bei 2,8 Grad Celsius liegen, wenn die gegenwärtige Politik fortgesetzt wird; bei vollständiger Umsetzung der NDCs käme die Welt 2100 bei 2,3 bis 2,5 Grad heraus.
Gegen Anstrengungen dazu, wie man das Format COP reformieren könnte, hat aber auch Mechler nichts. Diese laufen nun aber auch schon recht lange. Rockström kritisierte auch 2022 (Scharm el Scheich) schon, »bei dem, was auf dem Spiel steht, sind die Ergebnisse des Gipfels einfach nicht gut genug… Ich denke, dass wir den ganzen Prozess der Klimakonferenzen reformieren müssten.« Vor der Konferenz in Paris 2015 bilanzierte der Klimaaktivist Tadzio Müller, »die meisten globalen Zusammenkünfte« hätten »bislang - wenn überhaupt - nur magere Ergebnisse geliefert«. Seine Prognose, dass auch in der französischen Hauptstadt kein rechtlich verbindlicher Mechanismus aus der Taufe gehoben würde, »um die mäßigen Reduktionsverpflichtungen zumindest ansatzweise durchzusetzen«, erwies sich als richtig.
Auch nach dem Scheitern von Doha 2012 hieß es bereits, »wie lange aber wollen die rund 20.000 Uno-Delegierten als Vertreter der Staaten noch von Gipfel zu Gipfel reisen, um die Hoffnung auf einen weltweiten Vertrag zu schüren?« Damals galt die COP, die Pleite von Kopenhagen 2009 war noch in frischer Erinnerung, schon deshalb als »ein Erfolg, weil der Kollaps des mühsamen Uno-Prozesses verhindert wurde« (Hans-Joachim Schellnhuber). Klimakonferenzen wurden als »deutlicher Teil des Problems und nicht Teil der Lösung« gesehen, von der Abschaffung des Format sich erhofft, es »würde Raum für Neues« entstehen. Schon damals gab es auch heute bekannte Kritikpunkte: zu viele Teilnehmer, mangelnde politische Umsetzung.
Der Tenor der COP-Kritik hatte aber, jedenfalls so wie hier aufbereitet, auch eine heute ebenfalls noch immer bekannte Schlagseite: Der Mangel bei der Durchsetzung von Klimazielen wurde dem UNO-Prozess oder den Zielen selbst zugewiesen, diese würden »die Welt lähmen«. Auch mit dem alten Hut der klimapolitischen Bremser wurde seinerzeit schon gewedelt: »Schuld an dem Stillstand sei das enge Verhältnis von Politik und Klimaforschung.« Als Alternative wurden dann technische Lösungen oder Anpassung ins Spiel gebracht: »Anstatt das Klima vor dem Menschen zu schützen, wappnet sich der Mensch gegen das Wetter. Der Nachteil einer ausschließlichen Anpassungspolitik wäre freilich, dass der Klimawandel voraussichtlich weiterginge.«
Ernst zu nehmende Reformvorschläge zur Verbesserung der internationalen Kooperation in der Klimapolitik blicken »auf kleinere Zusammenschlüsse von Vorreiterstaaten«, wie etwa Seitens der SWP nach der COP 26 in Glasgow 2021. Sofern die Mechanismen des multilateralen Pariser Abkommens bislang nicht die nötige Dynamik brächten, »um Treibhausgasemissionen wirksam zu reduzieren«, wachse die die faktische Notwendigkeit »für eine Beschleunigung des Klimaschutzes und der Klimafolgenanpassung. Nicht nur im Globalen Süden wird es immer dringender«. Russlands Angriff auf die Ukraine und inzwischen Trumps zweite Präsidentschaft haben »die internationale Klimakooperation zusätzlich verkompliziert«. Dem Potenzial leichterer Einigungen in plurilateralen Kooperationsformaten »williger Staaten«, die wiederum Anreize für weitere Schritte anderer geben können, könnten »allerdings nicht per se die strukturellen Hemmnisse« überwinden, »die einer umfassenderen internationalen Klimakooperation entgegenstehen«.
#5 Der belgische Historiker David Van Reybrouck hat vorgeschlagen, die bisherige »Weltpolitik« um eine »Erdpolitik« zu ergänzen. Man könne die planetaren Herausforderungen nicht mit den Mitteln einer Diplomatie meistern, die in vergangenen Jahrhunderten entwickelt wurde. Die COPs basieren auf dem Grundgedanken der UNO-Gründung, die nationale Souveränität der Staaten zu garantieren. »Heute brauchen wir zusätzliche Instrumente, um den Planeten als Ganzes zu schützen. Klimawandel und Erderwärmung stoppen nicht an nationalen Grenzen«, sagt er zum Beispiel hier. »Nationale Reflexe verhinderten bislang konsequente planetarische Lösungen, die nationalstaatlich orientierte Weltpolitik ist der Bremser.«
Man kann Van Reybroucks Überlegung in die Reihe jener »planetaren« Fokusveränderungen stellen, die – wie etwa auch bei Dipesh Chakrabarty das Globale und das Planetare – in Begriffspaaren illustrieren, dass einerseits neben den menschlichen Horizonte (zeitlich, stofflich) auch nichtmenschliche Lebensformen und Entitäten mit einbezogen sein müssen, was andererseits ein Nachdenken über andere (weltliche) Formen von Souveränität und politischer Steuerung (global) erfordert, um die Bewohnbarkeit der Erde nicht nur für den Menschen wiederherzustellen (planetar).
Mark Siemons hat mit Blick auf Van Reybroucks mit Recht darauf hingewiesen, dass dieser »den großen Anspruch etwas unvermittelt in das vergleichsweise bescheidene Konzept einer ›Global Citizens’ Assembly‹ münden, dem zufolge die internationalen Verhandlungen durch Versammlungen von im Losverfahren ausgewählten gewöhnlichen Bürgern aus aller Welt ergänzt werden sollen«. Demokratische Losverfahren sind gewissermaßen sowas wie Van Reybroucks Spezialität. Aber, so Siemons: Der Vorschlag beruhe »auf Voraussetzungen, die er selbst nicht diskutiert. Die unausgesprochene Idee dahinter ist ja offenbar, dass diese ausgelosten Menschen nichts als Menschen seien und daher unmittelbar zur Erde, ganz anders als die Lobbyisten und Staatsrepräsentanten mit ihren nationalen und wirtschaftlichen Interessen. Aber gibt es solche Erdwesen in der Wirklichkeit überhaupt? Wie übersteigen sie die unterschiedlichen Perspektiven ihres Herkommens und ihrer sozialen Schicht?… Wie genau funktionieren die Versammlungen, wie kommt ein Konsens zustande, wie geht man mit Abweichungen um? Und wie können diese Diskurse Macht gewinnen? Solche Fragen müssten diskutiert werden, damit der Vorschlag mehr ist als eine rhetorische Figur.«
Siemons will damit keineswegs sagen, dass so ein Vorschlag es nicht verdient hätte, mit Blick auf seine Realisierung ausgemalt, operationalisiert, weiterentwickelt zu werden. Denn bei allen guten Argumenten hinsichtlich der offenkundigen Begrenztheit des COP-Prozesses, bleibt ja die Frage: Wie käme man schneller voran? Der Klimaökonom Gernot Wagner von der Columbia Business School hat in seiner Antwort auf Bill Gates’ Behauptung, dass der Klimawandel zwar ein »ernstes« Problem sei, aber »nicht das Ende der Zivilisation bedeuten wird«, jetzt noch einmal einige Gründe dafür illustriert: Schon jetzt sterben Menschen, werden Existenzen zerstört. »Ökonomen können die durch Kohlenstoff verursachten Todesfälle inzwischen berechnen. Jede heute emittierte Tonne CO2 tötet etwa 0,0002 Menschen… Die Lebenszeitemissionen von 3,5 US-Amerikanern werden bis zum Ende des Jahrhunderts ein Menschenleben kosten.« Auch habe man es »nicht nur mit massiven, medienwirksamen Extremereignissen und globalen Kipppunkten (irreversiblen planetaren Veränderungen) zu tun. Hinzu kommen die heimtückischen, oft versteckten Langzeitfolgen, wie beispielsweise der jährliche Lohnverlust von 0,04 Prozent für jeden zusätzlichen Tag mit über 32 Grad Celsius in einem beliebigen Jahr.«
ps. Bernd Ulrich sieht die Klimapolitik »in einem neuen Modus: Lange ging es nur nicht schnell genug voran. Jetzt allerdings wird sogar der Rückwärtsgang eingelegt«. Woran liegt das? Für die Antwort auf diese Frage konzentriert sich Ulrich auf eine andere: »Was die Klimabewegung falsch gemacht hat – und was sich daraus lernen lässt.« Eine seiner Thesen: »Der Erfolg ist der wichtigste Grund für die Niederlage.« Denn durch den Druck der Bewegung hätten »die westlichen Staaten ab 2019 zum ersten Mal ernstlich versucht, das seit Jahrzehnten propagierte Programm auch zu realisieren«, das Programm sei dann aber allen »um die Ohren« geflogen: »Technologien allein können die ökologische Krise nicht abwenden, und wo sie einen wesentlichen Beitrag dazu leisten können, müssen sie so schnell eingeführt werden, dass es den Leuten doch als Zumutung erscheint und diese revoltieren, weil das ursprüngliche Versprechen der Unmerklichkeit gebrochen wurde.« Mit dem Auffliegen von oft »Win-win-win-Flunkerei« haben im Grunde auch seine anderen Punkte zu tun: es geht um einen verlorenen »Wettlauf der Egoismen« zwischen nachhaltigem und kurzfristigen Eigennutz; um das Scheitern der Vorstellung, mehr Wissen um die Klimakrise würde zu mehr klimapolitischer Bereitschaft führen – stattdessen wächst die Verdrängung. Und es geht um die Kollateralschäden, die technische Lösbarkeitsillusion und apokalyptische Bilder hervorgerufen haben sowie um das »Ankommen in einem Danach«, das die »klimarealistischen Menschen« in einen Dringlichkeitswiderspruch geführt habe.
pps. Philipp Staab sieht in der TAZ »eine Welt in abwehrender Schockstarre« und die Demokratie »vor kritischen politischen Kipppunkten«. Zehn Jahre nach Paris sei die Lage mies: »Während das Bewusstsein über und die Mittel für eine Klimawende im Geiste von Paris eigentlich zur Hand sind, stehen beim Handeln die Weichen auf Beharrung und aggressiver Abwehr. So besehen sind es weniger die architektonischen Schwächen des globalen Klimaregimes, die die Wende verhindern. Vielmehr hat sich auf der Ebene des gesellschaftlichen Alltags etwas zusammengebraut, das die Leute dazu bringt, wider besseres Wissen und demoskopisch gut dokumentierter Ängste, dem ökopolitischen Programm von der Fahne zu gehen: Die Gesellschaft hat sich von der Klimapolitik abgekoppelt just als diese begann, in ihren Alltag hineinzuwirken.«
Staab hat außerdem drei Punkte für die Linke parat: Links und ökologisch gehörten »schon deswegen zusammen, weil das Spiel der Rechten in der Übertragung der nicht zuletzt durch die Aufklärung über Klimafragen erzeugten Ängste auf Minderheiten und Randgruppen besteht.« Auch könne »das kolossale politische Scheitern der grünen Modernisierung« zur »Erlösung aus dem klimapolitischen Schweigepakt« beitragen: Die realen Katastrophen werde man »nicht auf Einwanderung wird projizieren können. Das Verschobene wird wieder ans Licht drängen.« Staab erinnert daran, wie schnell grundlegender politischer Wandel laufen kann, um die darin womöglich liegende Chance zu ergreifen, müsse sie »auf der korrekten Zurechnung von Verantwortlichkeit und Schuld beharren«, »aktiv den Konflikt suchen und ihn dramatisch zuspitzen« und sich damit »befassen, wie man ökopolitische Fortschritte in einer Situation erzielen kann, in der man selbst nach Wahlerfolgen in stürmischen Gewässern verweilt«.